Tödliche Diesel-Abgase?
Die Grenzwerte für Stickstoffdioxid in der Luft enthalten eine gehörige Portion Willkür. Hochrechnungen von jährlichen vorzeitigen Todesfällen setzen einen Wirkzusammenhang voraus, der wissenschaftlich nicht hinreichend belegt ist.
„Die Stickoxide aus dem Straßenverkehr töten pro Jahr 10.000 Menschen in Deutschland vorzeitig“, behauptet der Chef der Grünen-Bundestagsfraktion, Anton Hofreiter, im Interview mit der Braunschweiger Zeitung. Da Stickstoffdioxid (NO2) in der Außenluft zu einem großen Teil aus Diesel-Abgasen stammt, muss man folglich davon ausgehen, dass Diesel-Fahrzeuge die Gesundheit der Bevölkerung gefährden und deswegen strenger reguliert oder gar verboten werden müssen. Doch woher weiß Hofreiter das?
Die Antwort lautet: aus dem Luftqualitätsbericht der Europäischen Umweltagentur (EEA). Und woher weiß die das? Die Antwort darauf lautet: Sie tut es gar nicht, denn sie kann es nicht wissen.
Die EEA berechnet ihre bemerkenswert präzise Zahl von jährlich 10.610 vorzeitigen Todesfällen in Deutschland auf der Basis der Belastung der Bevölkerung, welche sie wiederum von Stickstoffdioxid-Messungen im öffentlichen Raum ableitet. Doch schon die Übertragung der Messwerte auf die tatsächliche Belastung ist problematisch, weil Stickstoffdioxid-Konzentrationen kleinräumig stark variieren und die Exposition von Verhalten und Gewohnheiten der Menschen abhängig ist.
Darüber hinaus ist ein Wirkzusammenhang zwischen einer höheren Stickstoffdioxid-Belastung und höherer Sterblichkeit wissenschaftlich nicht eindeutig belegt. Zu diesem Ergebnis kam die US-Umweltbehörde EPA nach Auswertung des Forschungsstands im Januar 2016. Demnach gibt es Hinweise, aber keinen Beweis für einen solchen Zusammenhang. So lässt sich unter anderem nicht sagen, ob mögliche gesundheitliche Auswirkungen auf Stickoxide oder andere Stoffe im Abgas zurückzuführen sind.
Unklare Kausalität, widersprüchliche Grenzwerte
Die Zahlen der Europäischen Umweltagentur blenden diese wissenschaftliche Unsicherheit aus und interpretieren einen statistischen Zusammenhang als Ursache-Wirkungsbeziehung. Damit suggerieren sie Eindeutigkeit, wo keine ist.
Die Auswirkungen dieser mangelnden Eindeutigkeit zeigen sich besonders deutlich bei den gültigen Schadstoffgrenzwerten. Diese sollen auf Grundlage des wissenschaftlichen Kenntnisstands die Bevölkerung vor Gesundheitsgefahren schützen. Die große Unsicherheit führt aber dazu, dass sich diese Grenzwerte für verschiedene Bevölkerungsgruppen teils enorm unterscheiden. Für Stickstoffdioxid in der Außenluft gilt innerhalb der EU ein Grenzwert von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft. Dieser Wert darf zwar in Einzelfällen überschritten werden, nicht aber im Jahresmittel.
Am Arbeitsplatz hingegen gilt die Gefahrstoffverordnung, die für Stickstoffdioxid einen Grenzwert von 950 Mikrogramm pro Kubikmeter festlegt, nahezu das 24-Fache des Außenluftwerts. Grundlage des Arbeitsplatzgrenzwerts (AGW) ist die Einschätzung der Ständigen Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Die erklärt in ihrem Gutachten von 2009, dass in Studien an menschlichen Probanden „adverse Effekte“ etwa ab dem Dreifachen des AGW auftraten. Zu solchen Effekten zählen etwa Entzündungsreaktionen in der Lunge und eine Schwächung von Immunzellen.
Aussagen zum Potenzial von Stickstoffdioxid, Krebs zu erzeugen oder Fehlbildungen bei Embryos hervorzurufen, macht die Kommission aufgrund mangelhafter Datenlage nicht. Eine mögliche Veränderung des Erbguts durch NO2 könne laut der Kommission aber „keine bzw. nur eine untergeordnete Rolle spielen“.
Laut Gefahrstoffverordnung gibt der AGW an, bei welcher Konzentration eines Stoffes akute oder chronische schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit im Allgemeinen nicht zu erwarten sind. Dabei geht er von der Lebensarbeitszeit bei einer 40-Stunden-Woche aus.
Luft muss auf der Straße sauberer sein als im Wohnzimmer
„Die Gefahrstoffverordnung gilt aber nur für Arbeitsplätze, an denen mit Gefahrstoffen gearbeitet wird. Und Stickoxide entstehen selten im Büro“, sagt Jörg Feldmann, Pressesprecher der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Für alle anderen Arbeitsplätze sei die Vorgabe, dass die Luft „gesundheitszuträglich“ sein solle.
„Stickstoffdioxid in der Außenluft sind hingegen alle Menschen rund um die Uhr ausgesetzt“, schreibt das Umweltbundesamt (UBA) auf seiner Internetseite. Damit seien auch besonders sensible Gruppe wie Kinder, Schwangere oder Menschen mit Asthma betroffen.
Allerdings schreibt das UBA selbst, dass Menschen etwa 90 Prozent ihrer Lebenszeit in Innenräumen verbringen. Und in Privaträumen und Büros gilt der sogenannte Richtwert II, der mit 60 Mikrogramm pro Kubikmeter ebenfalls deutlich über dem Außenluftgrenzwert liegt. Warum darf also die Luft an vielbefahrenen Straßen, an denen sich die allermeisten Bürger nur kurz aufhalten, um von A nach B zu gelangen, ein Drittel weniger NO2 enthalten als die Luft an Orten, an denen wir den Großteil unseres Lebens verbringen?
„Der Richtwert für den Innenraum wurde in den 90er Jahren abgeleitet. Aufgrund des niedrigeren Grenzwertes für die Außenluft und neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse zu den gesundheitlichen Wirkungen von NO2 wird eine Aktualisierung des Richtwertes angestrebt“, sagt dazu Myriam Tobollik von der Abteilung Umwelthygiene des UBA. Auch in Innenräumen solle künftig also der niedrigere Außenluft-Grenzwert gelten.
Denn auch niedrige Konzentrationen seien problematisch. „Studien belegen, dass es auch unterhalb des Grenzwertes von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter zu negativen gesundheitlichen Auswirkungen kommen kann. Aktuelle Studien weißen darauf hin, dass es keine gesundheitliche Wirkungsschwelle von NO2 gibt.“
Für Asthmatiker müsste der Grenzwert bei Null liegen
In der Tat ist das der Schluss, den die EPA 2016 aus der Studienlage zog. Es sei nicht ermittelbar, ob es eine Konzentration gibt, unterhalb derer keine Effekte auftreten. Allerdings beschränkt die EPA diese Aussage auf „Atmungseffekte“. Es sei nachgewiesen, dass NO2 Asthma-Attacken bei Asthmatikern auslösen könne. Aber schon für einen Einfluss auf andere Effekte wie Infektionen oder die Chronische Obstruktive Lungenerkrankung (COPD) gebe es nur noch „einige Evidenz“. Und dieser Effekt sei nicht eindeutig von anderen Abgas-Bestandteilen zu trennen.
Die EPA ordnet die Evidenz bei den verschiedenen Gesundheitseffekten von NO2 in Kategorien von 1 (nachgewiesener Kausalzusammenhang) bis 5 (Kausalität nicht wahrscheinlich) ein. Häufig angeführte und von der EEA als belegt vorausgesetzte Auswirkungen auf die Gesundheit wie Herzkreislauferkrankungen, Diabetes, Krebs und die allgemeine Sterblichkeit fallen im Bewertungssystem die EPA in die Kategorie 3: Es gibt Hinweise, aber keinen ausreichenden Beleg für einen Wirkzusammenhang.
Das liegt daran, dass die Grundlage dieser Einschätzung keine toxikologischen Untersuchungen an Tieren oder Menschen sind wie bei der Ermittlung des AWG durch die MAK-Kommission. Stattdessen werden epidemiologische Studien herangezogen, die nach statistischen Zusammenhängen zwischen Schadstoffbelastung und Gesundheitseffekten in großen Populationen suchen. Solche Studien können keine Wirkungen beweisen und kaum den Effekt einzelner Stoffe im Abgas bestimmen.
Mit großen Verbotskanonen auf unsichtbare Mini-Spatzen schießen
Diese Forschungslage verleiht der Festlegung von Grenzwerten ein deutlich willkürliches Element. Mit ihr ließe sich ein Grenzwert von Null begründen – was allerdings unmöglich einzuhalten wäre, da NO2 auch natürlich etwa durch Blitze bei Gewitter oder durch den Stoffwechsel mancher Mikro-Organismen im Boden entsteht – oder ein deutlich höherer Wert als der aktuell gültige.
Die mangelnde Evidenz für die gesundheitlichen Folgen niedriger Stickstoffdioxid-Konzentrationen bedeutet nicht umgekehrt, dass solche Konzentrationen für gesunde Menschen zweifelsfrei harmlos sind. Zumindest aber deutet die Schwierigkeit, entsprechende Effekte tatsächlich nachzuweisen, darauf hin, dass es sich um relativ kleine Effekte handelt. Lässt sich mit dem Schutz vor unbestimmbaren, kleinen Gesundheitsrisiken wirklich rechtfertigen, bürgerliche Grundrechte wie das Recht auf Eigentum zu beschneiden? Und das, obwohl die Stickstoffdioxid-Belastung in Deutschland seit Jahrzehnten ohnehin stark rückläufig ist? Und obwohl nicht klar ist, ob mögliche Effekte überhaupt auf das NO2 im Abgas zurückzuführen sind und nicht auf andere Stoffe, die von einem Diesel-Verbot gar nicht betroffen wären?
Die derzeit diskutierten Fahrverbote für Diesel-Fahrzeuge wären letztlich eine Teilenteignungen von Millionen von Menschen, wie Salonkolumnist Richard Volkmann richtig feststellt. Anders als die Gesundheitsauswirkungen von Fahrverboten und immer niedrigeren Grenzwerten liegen die Folgen einer solchen enormen Wertvernichtung auf der Hand.