Selbstkritik ist eine Tugend des Westens. Doch wir relativieren uns gerade zu Tode.

Wer vor drei oder vier Jahren prophezeit hätte, dass ein durchgeknallter Narzisst US-Präsident wird, wäre nicht ernst genommen worden. Wer damals gewarnt hätte, Russland wird einen Nachbarstaat militärisch überfallen, wäre als paranoider Spinner abgestempelt worden. Wer es für möglich gehalten hätte, dass die Türkei sich binnen kurzer Zeit zu einer lupenreinen Diktatur verwandelt, wäre ebenfalls für irre erklärt worden. Die Liste lässt sich fortsetzen: Rechtspopulisten und Extremisten bestimmen die Agenda in den meisten europäischen Staaten, Geert Wilders‘ „Partij voor de Vrijheid“ ist nach Umfragen stärkste Kraft in Holland, in Deutschland überholt die AfD bei Wahlen die sogenannten Volksparteien und Großbritannien tritt aus der Europäischen Union aus, während in Polen ernsthaft die Gewaltenteilung in Gefahr ist. Wie gut, dass aus Österreich mit der Wahl Alexander van der Bellens zum Bundespräsidenten endlich mal ein Zeichen gegen den Trend kam.

Wohin man auch blickt, erkennt man Symptome eines globalen Wahnsinns. Es ist, als würde die Welt komplett irre. Und während das geschieht, steckt auch der Westen in seiner schwersten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Grundfesten sind erschüttert. Auch die stärksten Optimisten beginnen daran zu zweifeln, dass sich noch alles zum Guten wenden wird. Erstmals sieht es danach aus, als könnten die Bösen das Spiel gewinnen.

Darf man das? Die Welt in gut und böse einteilen? Man kann sich vielleicht – bei allen Differenzen im Detail – darauf einigen, dass es wesentliche Unterschiede zwischen Diktaturen und Unrechtsstaaten auf der einen Seite und westlichen Demokratien – mit all ihren auch teilweise schweren Fehlern und Fehlentwicklungen – auf der anderen Seite gibt. Der Westen führt ungerechtfertigte Kriege? Ja. Doch im Westen wird dagegen demonstriert, im Westen erscheinen Bücher, Dokumentationen und Zeitungsartikel, die aufdecken, aufklären und Fakten lieferen. Ob Massenüberwachung oder Umweltverschmutzung, ob Rassenunruhen oder Korruption, der Westen ist natürlich längst nicht perfekt. Aber er verfügt über die Instrumente, sich selbst und die Welt zu verbessern. Aus schweren Krisen kamen westliche Gesellschaften gestärkt hervor. Das Waldsterben und umgekippte Flüße waren der Ausgangspunkt der Umweltbewegung, Korruptionsaffären haben zu Compliancerichtlinien geführt, die es Beamten nicht mehr erlauben, sich zum Espresso einladen zu lassen. Während Diktatoren und Autokraten zur Sicherung ihrer Macht auf immer mehr Überwachung und auf immer mehr Brutalität setzen müssen, erschrickt der Westen im Angsicht seiner Fehler und verändert sich. Nach den außenpolitischen Fehlschlägen in der Regierungszeit Bush, brachten Obama und der Westen es jedoch nicht mal mehr fertig, den massenmordenden syrischen Diktator Assad zu beseitigen, der mit Giftgas gegen seine eigene Bevölkerung vorgeht.

Während der Westen in Selbstzweifeln versinkt und ihm die Fähigkeit abhanden kommt, Despoten und Tyrannen zu stoppen und Ordnung auf der Welt zu schaffen, löst er sich von innen auf. Institutionen, Parteien und Medien geraten unter Druck. Nach Jahrzehnten politischer Stabilität, treten jetzt pathetische Nationalromantiker, glühende linke Revolutionäre und Verschwörungstheoretiker auf die Bühne und beschwören Werte, die als längst überwunden galten. Auf einmal ist Isolationismus angesagt, auf einmal soll ein vereintes Europa Teufelszeug und die Kleinstaaterei die Zukunft sein. Auf einmal gelten Parteien und Bewegungen als attraktiv, die autoritäre Gesellschaftsmodelle favorisieren.

Und dann ist da noch der sogenannte „Islamische Staat“, der jedem durchgeknallten Psycho ein attraktives Angebot macht: Wer sein trostloses Leben mit einem Fanal beenden möchte und dabei noch möglichst viele Unbeteiligte mit in den Tod reißt, darf sich gerne auf die Terrormiliz berufen, so wie Mohamed Lahouaiej-Bouhlel in Nizza und der Axt-Attentäter von Würzburg. Mit dieser Taktik wird der „Islamische Staat“ gerade zu einer globalen Franchisekette mit beeindruckenden Wachstumsraten. Die sich blitzartig radikalisierenden Dschihadisten machen derweil jeden Sicherheitsexperten ratlos. Sie fallen vor ihren Massenmorden gar nicht oder nur als Kleinkriminelle auf. Jeder Al-Qaida-Schläfer war ein offenes Buch gegen sie.

So absurd und paradox es klingen mag: Offenbar ist dem Westen mit dem Ende des Kalten Kriegs 1989/90 seine Stabilität abhanden gekommen. Diesen Verlust bemerken wir aber erst seit wenigen Jahren. Unmittelbar nach dem Fall der Mauer gingen nicht wenige Francis Fukuyama und seiner These vom „Ende der Geschichte“ auf den Leim. Der Politikwissenschaftler glaubte, dass das Ende der Sowjetunion und der Blockkonfrontation auch das Ende epochaler Gegensätze sei. Er verstand den Sieg des Westens auch als endgültigen und globalen Sieg seiner wesentlichen Prinzipien: Demokratie, Marktwirtschaft und individuelle Freiheit. Dass das zusammenbrechende und sehr schnell von kriminellen Eliten ausgeplünderte Russland und der Islamismus sich zu den neuen Gegenspielern der westlichen Welt mausern würden, hatten nur wenige auf dem Zettel.

Denn die 90er-Jahre sollten zu Fukuyamas Deutung passen. Konflikte wie im Südosten Europas wirkten wie Nachbeben des Zusammenbruchs der UdSSR, afrikanische Krisenherde wurden als isolierte Ereignisse wahrgenommen und der Nahostkonflikt galt als eine Art Dauerstreit, der schon irgendwie zu managen ist. Logisch, dass gerade europäische Staaten in dieser angenommenen Weltlage ihre Verteidigungsetats drastisch kürzten und Geheimdienste schnell als überflüssig und anrüchig galten. Denn noch war auf die USA als westliche Führungsmacht verlass – sogar in Südosteuropa. Das sollte sich mit dem 11. September und den Reaktionen darauf dramatisch verändern. Heute und damit viel zu spät, versuchen Europas Regierungen diese Versäumnisse wett zu machen. So kündigte Kanzlerin Angela Merkel Investitionen in die Bundeswehr an. Doch eigentlich müsste Europa schon jetzt dringend über eine eigene Sicherheitsstrategie und -infrastruktur verfügen. Stattdessen bricht die Einheit Europa gerade auseinander.

Wer die positiven Eigenschaften westlicher Gesellschaften aufzählen will, nennt Begriffe wie Weltoffenheit, Transparenz, Meinungsfreiheit oder Toleranz. Ein Begriff wird selten genannt, doch er ist von herausragender Bedeutung: Wehrhaftigkeit. Wenn wir die Gesellschaft, in der wir leben, verteidigen wollen, müssen wir fähig sein, Gut und Böse unterscheiden zu können. Wenn wir Verbrechen diktatorischer Regime mit dem Verweis auf Fehler westlicher Regierungen relativieren, verraten wir uns selbst. Wenn wir nur noch Balken in den eigenen Augen sehen und darüber die Splitter in den Augen der Diktatoren dieser Welt übersehen, verraten wir auch die Oppositionellen dieser Länder, die sich einst wenigstens auf den Westen verlassen konnten. Wenn wir uns nicht wehren, wachen wir bald in einer anderen Welt auf. Vielleicht schon in drei oder vier Jahren. Oder bereits im September 2017.