Die Grünen haben einen Lauf, die Wahlprognosen verheißen ihnen hohe Zuwächse. Aber wären sie der Verantwortung gewachsen? Sie müssten sich vor allem ihren eigenen Herausforderungen stellen.

26 Prozent. Es sind immer noch 26 Prozent des Wahlvolks in Deutschland, die, wenn kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre, Bündnis 90/Die Grünen ihre Stimme gäben (Stand: 4. Juli). Das ist viel, sehr viel. Das sind rund 17 Prozent mehr als vor nicht einmal zwei Jahren, bei der letzten Bundestagswahl. Die Grünen hatten sich damals im Vergleich zur Wahl davor um ein halbes Prozent verbessert – und waren schon heilfroh darum. Und nun 26 Prozent, wenn…

Vergessen wir das „Wenn“. Machen wir uns mit dem bislang Unvorstellbaren vertraut: Die Grünen könnten demnächst den Regierungschef stellen – und dabei wäre es gleich, ob es eine Frau oder ein Mann wäre. Dass die Verantwortung für dieses Land in die Hände einer grünen Partei fiele – das wäre die eigentliche Sensation. Denn in keinem anderen Land dieser Welt gibt es eine vergleichbare grüne Partei, die auch nur annähernd in die Nähe dieser Macht käme. Als Mitfahrer auf dem Beifahrersitz oder im Fond der Regierungskarosse – das gibt es hier und da. Und wir konnten uns auch schon durch den Erfolg der Grünen in Baden-Württemberg ein wenig an diese Vorstellung gewöhnen. Aber an der realen, nicht der nominalen Spitze des Staates (wie in Österreich) – das wäre neu, das wäre exzeptionell und ein Experiment.

DIE ERSCHÖPFUNG DER CDU

Denn die CDU, die seit der Gründung der Bundesrepublik von ihrem Selbstverständnis her und faktisch die meiste Zeit die staatstragende, von politischem Realismus getragene Partei war, liegt momentan knapp hinter den Grünen. Der Gründe für diese Schwäche gibt es viele: demographische Veränderungen; sichtbare programmatische Desorientierung und politische Erschöpfung; noch nicht gelungener Übergang in die Nach-Merkel-Zeit; allgemeiner GroKo-Überdruss; Versagen bei wichtigen Zukunftsthemen wie Infrastruktur, Sicherheit, Industriepolitik, Integration. Und dann bildet sich auch noch eine junge Zivilgesellschaft, die die Merkel-Regierung daran erinnert, dass man eingegangene Verträge wie das Pariser Klimaabkommen auch einhalten sollte. (Wie das endet, wenn man seine Verträge nicht einhält, der kann das im Ring von Richard Wagner in voller Breite, Tiefe und Länge erleben. Hat die Kanzlerin in Bayreuth all die Jahre geschlafen? Es wäre in der engen Bestuhlung allerdings nicht ungewöhnlich.)

Kurz: Der politische Realismus der CDU und die politische Realität reiben sich immer schmerzhafter aneinander. Das hat zur Folge, dass die CDU seit der vorletzten Bundestagswahl bis dato rund 15 Prozent der Wählerinnen und Wähler verloren hat. Das ist kein Pappenstiel, blieb aber weitgehend im Wahrnehmungsschatten des SPD-Niedergangs. Außerdem konnte man sich damit trösten, dass es andere konservative Parteien wie z.B. in Italien oder Frankreich noch schlimmer getroffen habe. Aber es wäre besser gewesen, das als Warnung zu verstehen statt sich selbstgefällig zurückzulehnen. Doch jetzt, wo es im Bereich des Möglichen liegt, dass sie von den Grünen übertrumpft werden, macht sich Panik breit, reihen sich Fehler an Fehler, Ankündigungen an Ankündigungen, werden tragende Säulen wie der Bundeswirtschaftsminister von den eigentlich Verbündeten in der Industrie gedemütigt, während diese fortgesetzt Einladungen an das Spitzenpersonal der Grünen verschicken.

DER NEUE ÖKO-MATERIALIMUS

Gleichzeitig wirken die Grünen an der Spitze, als wollten sie auf Biegen und Brechen dem Ideal des Berufspolitikers, wie es Max Weber vor über hundert Jahren definiert hat, entsprechen und nur noch mit sachlicher Leidenschaft, mit Verantwortungsgefühl und Augenmaß agieren. Mal sehen, wie lange das klappt. Ein angenehmer Kontrast zu dem gemeinwohlfremden Narzissmus und den selbstzerstörerischen Obstruktionskämpfen in der Großen Koalition ist das allemal. Und der Souverän goutiert’s.

Tatsächlich wirken die Grünen in ihrer Selbstdisziplin und dem Schillern zwischen staatstragender Ernsthaftigkeit und nonkonformistischer Spätadoleszenz (man wird ja bald vierzig), als wären sie, nach vielen Jahren der Fortbildung, des Kompetenzerwerbs und des vereinzelten Erfahrungssammelns, nun bereit, quasi das Erbe des Firmengründers zu übernehmen und den Laden zu schmeißen, also wahrlich Neuland zu betreten. Und sie würden damit schließlich auch die Verantwortung für unsere Freiheit, die innere und äußere Sicherheit und unseren Wohlstand übernehmen – egal mit wem sie koalieren müssten. Das ist etwas Anderes, als in bloßer Juniorpartnerschaft ein Verbraucher- oder ein Familienministerium zu führen. Ach ja, und nebenbei sollen sie auch noch die Welt retten.

Mit ihren vorrangigen Themen wie Bekämpfung des Klimawandels, Verkehrswende, Transformation der Wirtschaft, ökologische Landwirtschaft, sozialökologischer Wohnungsbau müssten sie vor allem zu ihrem neuen Selbst kommen, das heißt: Abkehr vom Post-Materialismus und seinen Themen und hin zu einem neuen Öko-Materialismus. Denn das wird gebraucht: Effizienzrevolution, funktionierende Kreislaufwirtschaft, Entkopplung des Wohlstands vom Ressourcenverbrauch, Umwandlung der hypertrophen industriellen zu einer naturschonenden Landwirtschaft.

Derweil wächst eine neue Generation heran. In meinem Umkreis beispielsweise kenne ich fünf „grün“ denkende junge Leute, die jüngst ein Studium angetreten haben: Die eine studiert Ingenieurswissenschaft, die andere Materialwissenschaft, eine dritte Forstwirtschaft, ein junger Mann Informatik, ein anderer Jura. Das sind die Vorboten einer neuen Zeit, einer Abkehr von der Vorherrschaft weitgehend überschätzter und selbstherrlicher Sozial- und Kulturwissenschaften. Diese jungen Leute sind die neuen Vorbilder. So muss uns nicht bange sein vor der Zukunft.

Doch für sie kommt der Erfolg der Grünen in gewisser Weise zu früh (was kein Nachteil sein muss). Schaut man sich den Mandatsrechner an, dann sieht man nicht nur, dass ein viel zu großes Parlament mit über 800 Sitzen möglich ist, sondern ein Zuwachs für die Grünen auf über 200 Mandate. Man kann zwar erwarten, dass viele junge Leute, die gerade in die Partei eingetreten sind, auch einige Listenplätze ob ihres jungen Alters ergattern werden. Aber in einer parlamentarischen Demokratie (im Gegensatz zu einer präsidentiellen wie in Frankreich) muss ein gewisser Gehalt an Erfahrung und Kompetenz in den Fraktionen und auch in den anderen Institutionen gesichert sein. Es nähme nicht wunder, wenn die Grünen auch auf Altgediente, die schon ihren Ruhesitz bezogen haben und den Kräutergarten pflegen, sowie auf einfache Sympathisanten zurückgreifen müssten. Denn die Personaldecke ist kurz für die möglichen Herausforderungen.

HERKULES MUSS EIN GRÜNER SEIN

Aber letztlich steht und fällt der Erfolg der Grünen mit dem Gelingen und d.h. dem reibungslosen Funktionieren der Energieversorgung. Stromausfälle wird das Volk nicht honorieren. Die zügige Stilllegung der großen Braunkohlekraftwerke, die nicht nur von Fridays for Future erwartet wird, erfordert aber eine Kompensation, die durch die Erneuerbaren noch nicht geleistet werden kann. Da bleiben nur Gas oder Atom – und beides führt in ein Dilemma: vermehrte Gas-Lieferungen aus dem Ausland (auch Russland) und bzw. oder längere Laufzeiten der Atomkraftwerke. Die Krux lauert in den Details, nicht in den Visionen. Das Erwartungsmanagement der Grünen hat nicht nur hier Herkules-Arbeit zu leisten. Sonst ist der Aufbruch bald zu Ende. Die Verantwortung ist immens. Wir können nur hoffen, die Grünen wissen das.