Manuela Schwesig wird schon länger als eine Zukunftshoffnung der SPD gehandelt. Sie gilt als zielstrebig und durchsetzungsstark. Bei ihren Schwächen hat man bislang weggeschaut. Das könnte sich jetzt rächen.

Der sogenannte „Hoffnungsträger“ ist eine gelegentlich vorkommende Figur in der politischen Landschaft, in etwa so selten wie ein Sozialdemokrat mit Verständnis für den ukrainischen Botschafter Melnyk. Den Anspruch, Hoffnungsträger einer Partei genannt werden zu dürfen, muss man sich verdienen. Es braucht dafür eine gewisse Beliebtheit in den eigenen Reihen, dazu politischen Instinkt, d.h. keine Hemmungen, sich einem gesellschaftlichen Trend anzuwanzen. Des Weiteren sollte man intellektuell nicht zu viel anbieten, dafür aber einen einnehmenden Ehrgeiz zeigen, der als Führungsstärke missverstanden werden kann. Ein weiterer Pluspunkt wäre Regierungserfahrung in einem Ministeramt, aus dem man ohne Verschleiß herauskommt, was bedeutet, dass man das Verteidigungsministerium zu meiden habe. Einladungen bei Lanz, Illner und Will, bei denen man Politiker von der anderen Seite schlecht aussehen lässt und wenigstens eine gewitzte Antwort den bunten Blättern und asozialen Medien in die Newsfeeds einspeist, sind auch hilfreich. Nicht ganz unwichtig, aber nicht zwingend: mindestens eine gewonnene Wahl. Einen Sonderpunkt gibt es natürlich für das richtige Geschlecht.

KLIMASTIFTUNG OHNE KLIMAPOLITIK

Die Erfüllung der meisten dieser Anforderungen muss Manuela Schwesig irgendwann in den vergangenen Jahren zu einer Hoffnungsträgerin für die SPD gemacht haben. Hoffnung heißt in diesem Zusammenhang natürlich immer, dass man ihr über diese Anforderungen hinaus richtig Großes zutraute: die Führung der Partei, die Kanzlerschaft.

Davon ist jetzt keine Rede mehr. Das liegt nicht nur an Olaf Scholz, der sich fürs erste in der Trutzburg Kanzleramt verschanzt hat und möglicherweise Partei und Land führt. Es hat vor allem mit Schwesigs Problemen im Zusammenhang mit der Pipeline Nord Stream 2 zu tun. Das Projekt ist seit Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine erledigt, aber Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin kann nicht mehr verbergen, dass sie sich in Abhängigkeit des Betreibers, Gazprom und die Nord Stream 2 AG, begeben hat – und das aus voller Überzeugung. Die hehlerartige Gründung einer sogenannten „Klimastiftung“ zur Fertigstellung der Pipeline geschah wohl auf Initiative der Nord Stream 2 AG, sie gab im Wesentlichen die Finanzmittel und bestellte die Geschäftsführung. Die Landesbeteiligung war nicht mehr als ein Feigenblatt, sollte aber einen anderen Eindruck vermitteln. Tatsächlich hatte die Arbeit der Stiftung nicht wirklich was mit Klima und Umwelt zu tun, auch nicht mit Arbeitsplätzen, sondern letztlich nur mit der Fertigstellung der Pipeline. Vieles bleibt noch im Dunkeln, Steuerunterlagen sind verschwunden, Stiftung wie auch Schwesig verweigern die Auskunft.

POPULISTISCHER MACHTMISSBRAUCH

Neu ist dieses Verhalten von Manuela Schwesig allerdings nicht. Es ist schon früher deutlich geworden, dass sie ein eher instrumentelles Verhältnis zum Recht hat, es also nicht als grenzsetzende Norm versteht, sondern als formbares Mittel für die eigene politische Arbeit. Als Bundesfamilienministerin hat sie vor sechs Jahren den Fall Gina-Lisa Lohfink benutzt, um das Sexualstrafrecht zu verschärfen. An dieser Verschärfung ist erst einmal nichts auszusetzen, einige Abgeordnete der Großen Koalition hatten aber Bedenken. Da kam Schwesig der Fall von Gina-Lisa Lohfink zupass. Der war im MeToo-Trubel über Monate ein großes Thema in den Medien, Demonstrantinnen begleiteten lautstark die Verhandlungen vor Gericht, ein Hashtag (#TeamGinaLisa) verschärfte die Kampagne im Verfahren „Volk gegen Amtsgericht Berlin-Tiergarten“. Diese Art versuchter Beeinflussung der Rechtsprechung durch öffentliche Meinung und Kampagnen war für die Bundesrepublik in diesem Umfang neu. Dass Frau Lohfink nicht von den von ihr beschuldigten Männern vergewaltigt worden war, hatte ein Gericht schon festgestellt. Sie musste also – aus welchen Gründen auch immer – bewusst gelogen haben. Die Indizien sprachen eindeutig gegen sie, und so blieb der Richterin nichts anderes übrig, als sie für eine bewusste Falschaussage und eine konstruierte Verdächtigung zu verurteilen. Doch ähnlich wie im Fall O. J. Simpson in den USA störte das die Unterstützer wenig: Sie erkoren Frau Lohfink zu einer Jeanne d’Arc des Feminismus und zum Opfer des männlichen Sexismus. Nun taugte sie nach allen Fakten dazu überhaupt nicht, aber das war egal, da sich der Publicity-Faktor dieses Falls sehr gut für eine politische Kampagne („Nein heißt nein“) nutzen ließ. In den Sphären der Politik nennt man das gelegentlich „Über die Bande spielen“ – und das hatte sich wohl auch Manuela Schwesig, die damalige Bundesfamilienministerin, gedacht, als sie im Fall Lohfink öffentlich Partei für die Angeklagte ergriff und das Kampagnenteam Gina Lisa vom Ministersessel aus verstärkte. Es erschien ihr gerade politisch opportun, um ihre geplante Gesetzesverschärfung durch den Bundestag zu bringen.

Was in ihren Augen vielleicht taktisch clever erschien, war nicht weit entfernt von Richterschelten à la Donald Trump („so-called judge“), wenn sie einem deutschen Gericht, das in einem ordentlichen, fairen und in der Berufung der Fehlerfreiheit bestätigten Verfahren Recht gesprochen hatte, indirekt unterstellte, einen Justizfehler zu begehen und dem Sexismus Vorschub zu leisten. Der Ungeist des Populismus war hier von der Bundesministerin bewusst und ohne Skrupel aus der Flasche gelassen worden – ein linker Populismus, der die vermeintliche Volksmeinung und das politische Kalkül über Rechtsstaatlichkeit und Gesetze stellt. Heinrich Böll fand schon vor über vierzig Jahren die richtigen Worte für solche Fälle: „Das Recht steht über Stimmungen, Volksmeinungen, Umfragen, Statistiken, es steht über Schlagzeilendemagogie und tagespolitischer Spekulation.“

Es bleibt mithin ein Rätsel, wieso der Kampagnenmissbrauch und die Delegitimierung der Rechtsprechung durch eine Bundesministerin nur ein Achselzucken in der Politik verursachte. Das ließ damals schon nichts Gutes ahnen. Heute wissen wir noch besser, wieso.