Gut zehn Jahre vor den 68ern waren es Arbeiterjugendliche, die sich mit dem Staat anlegten und für mehr Freiheiten kämpften. Die Halbstarken stehen bis heute im Schatten der ihnen nachfolgenden Studenten. Zu Unrecht.

Babam Bam – „One, two, three o’clock, four o’clock rock” – Babam Bam – „Five, six, seven o’clock, eight o’clock rock” – Babam Bam – „Nine, ten, eleven o’clock, twelve o’clock rock” – Babam Bam – „We’re gonna rock” – Bam – „around“ – Bam – „the clock tonight”.

„Rock Around the Clock” von Bill Haley and his Comets dürfte für viele Jugendliche die erste Begegnung mit dem Rock ’n‘ Roll gewesen sein. Irgendwann Mitte der Fünfzigerjahre werden sie es gehört haben. In den USA über eine der vielen kleinen, privaten Radiostationen. In Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Japan oder Griechenland über die Militärsender AFN oder BFN. Für die meisten Erwachsenen war das damals keine Musik. Es war Krach, Lärm, der Soundtrack der aus Amerika kommenden Kulturlosigkeit, der Untergang des Abendlandes, Kurzum: Es war mit das Beste, was das 20. Jahrhundert bis dahin an Musik hervorgebracht hatte.

Die Musik war auch der Treibstoff für die erste Jugendbewegung nach dem zweiten Weltkrieg, für Krawalle und Ausschreitungen, wie sie die junge Bundesrepublik bis dahin noch nie erlebt hatte.

Gut ein Jahrzehnt bevor die Studentenbewegung auf die Straße ging und sich fest in das kollektive Gedächtnis eingrub, waren es bei den Halbstarken vor allem junge Arbeiter und Auszubildende, die den Protest trugen. Es war ein Protest, an den sich heute nicht mehr viele erinnern, über den es nur wenige Bücher und kaum Filme gibt: Der Titel des bis heute bekannten Films „Die Halbstarken“ von Georg Tressler mit Horst Buchholz und Karin Baal in den Hauptrollen trügt, handelt er doch nicht von den Jugendkrawallen, sondern von einer Gang jugendlicher Krimineller. Die meisten Halbstarken gingen in Wirklichkeit einer geregelten Arbeit nach und profitierten von dem Mitte der Fünfzigerjahre eingesetzten wirtschaftlichen Aufschwung.

Näher an das Phänomen des Halbstarken kam da schon der amerikanische Film The Wild One von László Benedek mit Marlon Brando in der Hauptrolle: Brando spielt Johnny Strabler, den Anführer einer Rockergang. Marlon wurde für viele Jugendliche vor allem zu einem ästhetischen Vorbild, auch wenn die wenigsten seiner Fans später einmal eine Kleinstadt besetzt haben dürften. Was jedoch beide Filme zeigten war eine Unruhe, die in Teilen der Nachkriegsjugend weit verbreitet war. Die erste Nachkriegsgeneration, die in ihrer Erziehung nicht mehr vollkommen vom Nationalsozialismus geprägt war, war individualistischer als ihre Vorgängergenerationen: Jugendverbände interessierten sie nicht mehr.

Rauchen und sich auch mal sexuell näherkommen

Schon vor der Nazizeit mit ihrem Zwang zur Mitgliedschaft in der Hitler-Jugend verbrachten Jugendliche ihre Freizeit vor allem organisiert, waren in kirchlichen oder parteinahen Verbänden. Die „Wilden Cliquen“, die seit der Jahrhundertwende von der Öffentlichkeit mit Skepsis und Sorge betrachtet wurden, waren die Ausnahme: In ihnen sammelten sich Jugendliche, die ihre Freizeit selbstorganisiert verbrachten, tranken, rauchten und sich auch mal sexuell näherkamen. Während der Nazizeit lieferten sie sich häufig Schlägereien mit der HJ. Der Grund war mehr ihre Weigerung, sich organisieren zu wollen und Anfangs nur selten ein politisch begründeter Antifaschismus. Das änderte sich allerdings gegen Ende der Nazizeit. Viele der Wilden Cliquen hatten ein Erkennungszeichen: Meistens war es ein Edelweiß. Die Edelweißpiraten, die sich zum Teil, wie in Köln, regelrechte Gefechte mit den Nazis lieferten, standen in der Tradition der Wilden Cliquen und hatten sich politisiert und zu ernsten Gegnern des Regimes entwickelt.

Die Halbstarken der 50er standen sicher eher in der Tradition der Wilden Cliquen, nicht in der der Edelweißpiraten. Sie strebten größere persönliche Freiräume an und wollten eine Jugendkultur leben, die aus den USA nach Europa gekommen war und hier wie dort für Unruhe sorgte. Die Halbstarken waren Mitte der 50er Jahre ein internationales Phänomen, gewalttätige Ausschreitungen gab es in fast allen entwickelten Ländern, auch im Ostblock. Eine Ausnahme bildete Griechenland: Hier gerieten die Halbstarken nicht in Auseinandersetzungen mit der Polizei, sondern sorgten für Aufsehen, weil sie Erwachsene mit Joghurt bewarfen.

Die Gewalt bei den meisten der über 100 allein in Deutschland gezählten Krawallen ging in der Regel nicht von den Jugendlichen aus. Oft war der Auslöser die Musik von Bill Haley. Schaut man sich Filmaufnahmen aus der Zeit an, sieht man, wie Ordner auf kleinste Regelverstöße mit unvorstellbarer Härte reagieren: Als während eines seiner Konzerte 1958 in der Essener Grugahalle junge Paare beginnen, auf den Gängen zu tanzen sind sofort Ordner zur Stelle. Rabiat werden die Paare angegangen. Die Ordner versuchen, sie in den bestuhlten Bereich zurück zu drängen. Aber das Ganze scheitert. Immer mehr Jugendliche tanzen auf den Gängen. Die Polizei greift ein und erst jetzt kommt es zu Ausschreitungen. Ähnliche Szenen spielten sich auch in Hamburg ab.

Selbst in liberalen Medien konnten die Jugendlichen nicht mit Sympathien rechnen. „Die Zeit“ beschrieb die Ausschreitungen auf einem Haley-Konzert in Hamburg damals mit drastischen Worten: „Zunächst ging es in der Ernst-Merck-Halle noch konzertmäßig zu. Dann fingen einzelne Paare an, in den engen Gängen des Saales zu tanzen. Einige Ordner, die vom Hamburger Studentenwerk gestellt worden waren, versuchten, die Tanzenden wieder auf ihre Plätze zu drängen. Immer mehr aufgeregte Burschen drängten in die Gänge. Menschenströme flossen wie schreiende Lavaströme nach vorn. Im Handumdrehen waren Bill Haley und seine Musiker von einer Menschenmauer umzingelt, die sich immer enger schloß. Es war, als ob eine Meute von Raubtieren Ausschau hielt nach Opfern.“ Das erste Mal suchte sich die „Meute“ in Deutschland übrigens 1955 ihre Opfer – auf Konzerten des Jazz Musiker Louis Armstrong in Hamburg und Frankfurt.

Die Saat der Gewalt

Ähnliche Szenen hatten sich weniger Jahre auch zuvor vor Kinos abgespielt, in denen der Film „Blackboard Jungle“ (Deutsch: „Die Saat der Gewalt“) gespielt wurde, in dem Rock Around the Clock, die Marseillaise der weltweiten Teenager-Revolution, wie die Journalistin Lillian Roxon das Stück nannte, die Titelmusik war. Jugendliche wollten feiern und tanzen, die Polizei und Ordner wollten es verhindern.

Dann entdeckten die Jugendlichen den Spaß am Krawall. Straßenschlachten mit der Polizei wurden provoziert und lustvoll zelebriert. Ein Kräftemessen. Elemente, die seitdem den Kern aller gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen  Jugendlichen und der Polizei bestimmen – nur dass, wenn es etwa um die „Schlacht am Tegeler Weg“ oder die „G20-Krawalle“ geht, die Protagonisten gerne so tun, als ob es sich um ernsthafte, revolutionäre Kämpfe handelt, was ist natürlich Unsinn ist. Auch wenn Gewalt in diesen Fällen aufwendig ideologisch gerechtfertigt wurde, ist ihr Kern doch derselbe: Der Wunsch etwas Besonderes zu erleben. „Hooligans“ nannte man die Halbstarken in der Sowjetunion und der Begriff schlägt eine Brücke zwischen allen Varianten jugendlicher Gruppengewalt, egal wie sie begründet wird: Es geht um Unterhaltung und Rebellion.

Vor allem Berlin und das Ruhrgebiet waren die Hochburgen der Halbstarken, hier kam es zu den meisten Ausschreitungen. Ihnen folgten Verhaftungen und Prozesse wegen Körperverletzung und Sachbeschädigung. Zum Teil erhielten die Täter empfindliche Haftstrafen. Nur sehr wenige Frauen beteiligten sich an den Krawallen und Studenten waren, so überhaupt in der Nähe, nur Zaungäste.

Die Rebellion der Halbstarken war die Rebellion von Arbeiterjugendlichen – und die stellten nicht die Frage nach einem Umbruch der wirtschaftlichen oder politischen Verhältnisse. Ihnen ging es darum, die persönlichen Freiräume zu erweitern, feiern zu können wann und wie sie es wollen, Orte zu haben, wo sie ihre Musik hören konnten. Es waren weltweite Rock-’n‘-Roll-Aufstände, mit denen sich Jugendliche die Freiräume erkämpften, die sie seitdem besitzen: Bars und Clubs, in denen ihre Musik gespielt wird, und in denen sie die unterschiedlichen jugendlichen Subkulturen leben können.

Was damals erreicht wurde, war ein Durchbruch, war ein mehr an persönlicher Freiheit und die Grundlage für alle weiteren Entwicklungen, die es seit damals in den Bereichen der Sub- und Jugendkulturen gegeben hat. Die Basis für Sex, Drugs and Rock ’n‘ Roll wurde Mitte der 50er Jahre gelegt und veränderte die Gesellschaft stärker als die „Ho! Ho! Ho Chi Minh“-Rufe ein gutes Jahrzehnt später. Sehen wir heute die 68er mit den Plakaten von Diktatoren wie Mao, Lenin oder Castro durch die Straßen ziehen, kommt uns das fremd vor, ist es wie ein Nachklang aus einer längst untergegangenen Welt. Babam Bam – „One, two, three o’clock, four o’clock rock” hingegen ist nach wie vor ein Versprechen – wenn nicht auf ein wildes Leben, so doch auf eine wilde Nacht. Beides ist besser als ein Gulag.