Der Schriftsteller Uwe Tellkamp hat sich politisch rechts positioniert. Das ist für die linke Öffentlichkeit ein Problem. Ein Problem ist es für Tellkamp selbst und uns alle, dass er sich viel weiter verrannt hat. Zeit, ihn zurückzuholen.

Schriftsteller machen Furore! Das kommt nicht so oft vor; schon gar nicht mit einer Podiumsdiskussion. Aber die beiden angesehenen Suhrkamp-Autoren Uwe Tellkamp und Durs Grünbein haben in Dresden, also in ihrer Heimatstadt, mit den ihnen eigenen Temperamenten die Temperatur der gesellschaftlichen Konflikte gemessen; das Ergebnis: deutlich über 37 Grad. Es ging dabei um die Meinungsfreiheit in Deutschland, und zu dieser gehört natürlich auch, dass man über ihren Zustand geteilter Meinung sein kann; hier zwischen unbeschadet (Grünbein) und beschädigt (Tellkamp).

Gewiss hätte diese Diskussion ob ihrer Schärfe mit ihren unversöhnlichen Kontrahenten schon einige Artikelrunden in den Feuilletons gemacht, aber den richtigen Spin bekam sie erst durch einen Tweet des Suhrkamp-Verlags, der sich nach Ende der Diskussion spornstreichs bemüßigt sah, eine Distanzierung von seinem Erfolgsautor Tellkamp vorzunehmen: Er spreche nicht für den Verlag. Wieso jemand darauf hätte kommen können, erschließt sich eigentlich – niemandem.

Was hatte Tellkamp gesagt? Zugespitzt, drei Dinge: Erstens, 95 Prozent der Flüchtlinge wollen nur in unsere Sozialsysteme einwandern. Zweitens, wir haben keine Meinungsfreiheit mehr, sondern leben in einer Welt, die von einer bestimmten Gesinnung gelenkt wird und daher in einer „Gesinnungsdiktatur“. Drittens, der linke Zeitgeist sichert seine Hegemonie durch ein „System“, das die Kanzlerin ebenso einschließt wie die Medien.

Das hat natürlich einen gewissen AfD-Sound, und eine Sympathie für diese Partei hat Tellkamp auch durchblicken lassen, da er diese Partei als letzte verbliebene Oppositionspartei sieht. Aber natürlich darf auch ein Schriftsteller rechts sein, nur muss er auch Widerspruch ertragen können, vor allem wenn er offensichtlich Falsches behauptet. So ist es falsch, wenn Tellkamp behauptet, 95 Prozent der Flüchtlinge – und damit meint er wohl Migranten, Asylsuchende und Kriegsflüchtlinge – wollten nur in die Sozialsysteme einwandern. Tatsächlich suchen Flüchtlinge und Asylsuchende Schutz vor Tod und Verfolgung. Und 90 bis 95 Prozent der Migranten wollen vielmehr in unser Wirtschaftssystem einwandern. Sie wollen Arbeit, sich selbst eine Zukunft aufbauen und Familienangehörige in der Heimat unterstützen. Das müsste ein Intellektueller wie Tellkamp wissen, wenn er es denn wissen wollte.

DAS REALE SYSTEM

Was die „Gesinnungsdiktatur“ und das „System“ angeht: Eine Gesinnung haben wir alle. Bei den einen ist sie fester, bei den anderen weniger. Wer sich politisch äußert, der tut dies auf dem Fundament einer Weltanschauung, mit der er in die Auseinandersetzung bzw. den politischen Streit um den richtigen Weg für die Zukunft mit anderen Weltanschauungen tritt. Das ist in einem liberalen, pluralistischen Gemeinwesen so. Wer glaubt, es gäbe ein dunkles, mächtiges Regime, das von der Regierungsspitze bis zum Redakteur einer Kreiszeitung und dem Gemeindepfarrer reicht, der hat längst die Spukwelt der Verschwörungsfantasien betreten. Das ist ein richtiges Problem für einen Schriftsteller wie Tellkamp und für uns alle, denn in dieser Welt ist ein Gedanken- und Meinungsaustausch nicht mehr möglich und sinnvoll.

Es lässt sich nicht leugnen: Es gibt natürlich immer ein System, aber nicht dergestalt, wie sich das Tellkamp vorstellt. Es ist das System der sich selbst erhaltenden und verstärkenden Peergroups, der Gleichgesinnten, die eine bewusste wie unbewusste soziale Homophilie pflegen. So findet man zum Beispiel an den Universitäten heute in den Geisteswissenschaften eine Mehrzahl von Poststrukturalisten, ohne dass diese Denkrichtung dies in der Substanz verdient hätte. Ähnliches gibt es beispielsweise auch in Redaktionen, Bürgerinitiativen oder an anderen Orten, an denen Menschen arbeiten. Das muss man sehen, das darf man beklagen, das sollte man bekämpfen. Ich unterstelle Tellkamp, dass er das gemeint hat, als er von einem „System“ sprach, dass er es aber in der verzerrenden, sich selbst als „Opfer“ gerierenden Rhetorik der Rechtspopulisten ausdrückte. Aber aus dieser Rhetorik, aus dieser Gedankenwelt muss es einen Ausweg, ein Zurück in die Mitte, in die Welt der Differenzierungen, der Vielstimmigkeit, der Unschärfen geben.

Allerdings ist das eben auch nicht das Terrain der Linken. Sie liebt (wie die Rechte) die Barrikade, die klaren Frontverläufe – sie, die alle möglichen Ausgrenzungsformen immer wortreich beklagt, ist selbst immer stark im Ausgrenzen und produziert auch schon mal durch Intoleranz den Geist, den sie bekämpfen will.

IM KOCHTOPF

Womit wir wieder beim Suhrkamp Verlag wären, der sich von Tellkamp in schändlicher und schädlicher Weise öffentlichkeitswirksam distanzierte, statt ihn zu einer Diskussion einzuladen. Es ist mehr als peinlich und absurd. Mir ist nicht bekannt, dass sich der Verlag einmal vom Trotzkismus eines Didier Eribon oder von dem Milosevic-Verehrer Peter Handke distanziert hätte – auch beides Suhrkamp-Autoren, die mit der bürgerlichen Demokratie hadern. Es wäre ja auch ungebührlich und, ja, illiberal. Dass es nun bei Tellkamp andere Maßstäbe gibt und man über ihn den Bann spricht, hängt aktuell gewiss mit der politischen Überhitzung zusammen, die die Sozialen Medien durch die Verführung zum kommunikativen Schnellschuss befeuern. In diesem Kochtopf ist nur schwer ein kühler Kopf zu bewahren. Aber es muss sein.

Der Suhrkamp Verlag sollte sich eingestehen, dass er mit der Bloßstellung einen Vertrauensbruch an einem seiner Autoren begangen hat. Das ist keine Lappalie. Der Verlag erwiese der politischen Kultur in Deutschland einen großen Dienst, wenn er es als Teil linker Öffentlichkeit nun akzeptierte, dass man als Künstler auch rechts sein kann, und er gleichzeitig im offenen wie vertrauensvollen Gespräch versuchte, den Autor Tellkamp zurückzuholen aus dem Gelände, in dem sich manchmal auch kluge Köpfe versteigen.