Ob der brennende Grenfell-Tower oder das Busunglück in Bayern – kein Unglück ohne Gaffer. Sie sind der unvermeidliche Bestandteil menschlichen Unglücks. Doch nicht jeder, der zuschaut, ist ein tumber Voyeur. Es kommt darauf an, wie wir schauen.

Als der Grenfell-Tower wie eine brennende Fackel am Londoner Nachthimmel aufleuchtete, zog die Katastrophe auch Tausende von Schaulustigen an. Sie umschwärmten das brennende Hochhaus wie Motten das Licht, behinderten Rettungskräfte, pilgerten noch Tage später zu der ausgebrannten Ruine – und wurden so ihrerseits Teil der Berichterstattung, während Millionen an den Bildschirmen zusahen. Gaffer, so der abwertende Begriff für Schaulustige, sind zum Medienthema geworden und das nicht erst seit dem Londoner Hochhausbrand.

Seit der frühen Antike gelten sie als unvermeidlicher, meist störender Bestandteil von Katastrophen. Schon Lukrez stellte etliche Jahre vor unserer Zeitrechnung fest: „„Wonnevoll ist’s bei wogender See …ruhig vom Lande zu sehn, wie ein andrer sich abmüht“. Und auch im Aristoteleschen Theater gehörte das kollektive Erschaudern angesichts des Leids der anderen zu den dramatischen Kunstgriffen der frühen Regisseure.

Wir sind Augenmenschen

Doch ist das alles schlecht? Deutschlands Katastrophen-Papst, Professor Wolf Dombrowsky, sieht in der Schaulust auch einen evolutionären Vorteil: „Biologisch sind wir in besonderem Maße „Augenmenschen“. Wir wollen hinter die Dinge schauen, durchblicken, sehen und nachsehen, uns vorsehen, aber auch zurückschauen.“ Das Auge vermittelt nicht nur Erkenntnis, sondern auch Distanz: „Schauen und Zuschauen sind unabdingbare Voraussetzungen für gefahrloses Erfahren, Lernen, Verstehen, Nachahmen-Können.“ Und dienten in der Vergangenheit oft auch der schaurigen Lust der Abschreckung: Vor allem auf Marktplätzen bildeten Schaulustige die erwünschte Kulisse für den Pranger, an denen man alle stellte, die sich der städtischen Ordnung wiedersetzten.

Gaffer gelten erst seit der Neuzeit als verachtenswerte Gruppe – und das vor allem, weil sie den Einsatzkräften im Weg stehen: Sie verstopfen Rettungsgassen, behindern den fließenden Verkehr und bringen sich damit oft selbst in Gefahr. Das war auch bei der Buskatastrophe in Bayern mit 18 Toten so, als Autofahrer das Anrücken der Rettungskräfte behinderten. Auch der Berliner Polizeihauptkommisar Oliver Woitzik aus dem Fachbereich Verkehr kann ein Lied davon singen: „Wenn wir bei jedem Einsatz erst einmal zusätzliche Kräfte anfordern müssen, um Platzverweise auszusprechen, fehlen die natürlich woanders, wenn ein neuer Notruf eingeht.“

Selfie mit Barbecue

Darüber hinaus geht es um die Würde der Opfer, die durch die Gaffer ein zweites Mal verletzt werden: „Früher galt es als unschicklich, jemandem blank ins Auge zu schauen. Soziale Unterschiede drückten sich auch im gesenkten Blick aus“, so Dombrowsky. „Heute gilt praktisch das Gegenteil: Schau drauf, vor allem, wenn es etwas Außergewöhnliches zu sehen gibt. Dadurch verschwindet Pietät und die soziale Tugend des Übersehens. Ohne diese Tugenden wird aus Anschauen nacktes Stieren, eben „Gaffen“. Man schaue sich nur einmal die regelmäßigen Schlüsselloch-Sendungen an, die die Paparazzi dieser Welt beliefern und von den Gaff-Geilos konsumiert werden.“

Richtig los mit der Gafferei ging es jedoch erst mit der Einführung der Smartphones, die aus jedem „Bystander“ auch einen Botschafter des Grauens machen: „Seht her, ich bin mitten drin!“ So konnte man vor dem Grenfell Tower Selfie-Touristen sehen, die sich mit dem brennenden Hochhaus als Hintergrundkulisse ablichteten, als ginge es um ein Party-Event mit Barbecue. Die Nachbarn, die mit Decken und Lebensmitteln für die evakuierten Bewohner kamen, zeigten noch Tage später Schilder: „Grenfell – a tragedy not a tourist attraction“.

Auch in Deutschland sprechen Polizisten von einer neuen Qualität, wenn etwa wie in Bremervörde vor zwei Jahren nach einem Unfall mit Todesfolge die Rettungskräfte von aggressiven Gaffern nicht nur angepöbelt, sondern auch angegriffen wurden. Statt sich um die Opfer zu kümmern, lieferten sich Polizei und Feuerwehr ein Gerangel mit den Gaffern. Einer von ihnen wurde inzwischen zu vier Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt.

Wir brauchen Bilder – dringlicher als Essen und Trinken

Doch die Schaulust zu verbieten, wäre nach Dombrowsky ebenso sinnlos, wie ein Verbot von Hunger und Durst: „Wir sind sehende Wesen, wir wollen und brauchen Bilder, manchmal dringlicher als Essen und Trinken. Wir sollten lieber die Art des Schauens kultivieren und einen mitfühlenden Blick ausbilden, einen Blick, der nicht stiert und glotzt, sondern der wahrnimmt, wie sich ein Begaffter fühlt und was man für ihn tun kann, damit ein zwischenmenschliches Gefühl entsteht.“

Denn letztendlich entscheiden wir selbst, ob wir mitfühlende Wesen und Teil einer Gemeinschaft bleiben oder ob wir uns als tumbe Voyeure außerhalb stellen. Je mehr passiert und je mehr uns die sozialen Medien die Katastrophen aus dem letzten Winkel der Welt auf die Bildschirme spielen, desto mehr sind wir auch in unserer sozialen Kompetenz gefordert. Wer sich am Unglück anderer empathielos aufgeilt, spielt mit dem evolutionären Grundbaustein zum Überleben der eigenen Art – das ist bei einem Verkehrsunfall direkt um die Ecke nicht anders als beim Untergang eines Flüchtlingsboots im Mittelmeer.

Es kommt darauf an, ob wir stieren oder zu einem mitfühlende Hinsehen und Erkennen finden. „Dann“, so Dombrowsky, „könnte man auch das Handy wegstecken und helfen.

Der Artikel erschien auch am 06.07. in der Berliner Zeitung