Beim Thema Waffenlieferungen bemüht sich das Kanzleramt, die enge Abstimmung mit den Verbündeten zu betonen. In Wirklichkeit sieht der deutsche Weg indes längst wie ein Sonderweg aus, schreibt unser Gastautor Marcus Welsch.

Schaut man sich die jüngsten Analysen zum möglichen weiteren Verlauf des Krieges in der Ukraine genauer an, fällt eines sofort auf: Will die Ukraine nicht nur unmittelbar militärisch bestehen, sondern auch wirtschaftlich mittelfristig überleben, gibt es zur Rückeroberung weiterer Gebiete keine Alternative.

Diese Notwendigkeit ist zweistufig: Will die Ukraine erstens über die Fähigkeit verfügen, zukünftige russische Angriffe wirksam abzuwehren, muss sie mindestens den größten Teil der Oblaste Cherson und Saporischschja befreien. Und um zweitens nicht nur von einem Krisenmoment zum nächsten zu taumeln und eine reale Chance auf ökonomische Gesundung zu bekommen, führen an der Rückgewinnung der gesamten Oblast Saporischschja und eines Großteils der Oblaste Donezk und Luhansk kein Weg vorbei. Das ist eine gewaltige Aufgabe. Das renommierte Institute for the Study of War kommt in seiner Einschätzung vom 16. Oktober gar zu dem Schluss, dass sich die Sicherheit der Ukraine – und damit die Sicherheitsarchitektur von ganz Europa – durch die Befreiung der Krim erheblich verbessern würde. Angesichts anhaltender Gräueltaten in den von Russland besetzen Gebieten könne man das ukrainische Recht auf diese Rückeroberung nicht genug betonen. Dies bildet auch weiterhin die Position der internationalen Gemeinschaft in Einklang mit dem Völkerrecht.

Kein Mut, strategische Ziele zu benennen 

Eine so klare Ausformulierung sucht man in der deutschen Debatte jedoch weiter vergeblich, immer wieder winden Entscheider sich stattdessen noch aus der Darlegung minimalster Ziele heraus. Fatal sind die verdrucksten Ausweichmanöver von Kanzleramt und Verteidigungsministerium rund um den Export von Kampfpanzern, die Sorge um nukleare Eskalation und auch die Behandlung strategischer Fragen. Der Eindruck drängt sich auf, dass vor allem Russland geschont werden soll.

Dabei konnte das Argument, es gelte eine weitere Eskalation abzuwenden, noch nie überzeugen. Russlands ständige Drohung mit seinem nuklearen Arsenal ist nicht neu und hat aufgrund der russischen Position vis-à-vis seinen Verbündeten, insbesondere China, kaum realen strategischen Wert für Putin: Die Konsequenzen eines Nuklearschlags würde er schlicht nicht überleben. Dass Deutschland – anders als unsere Nachbarländer – ständig in der einen oder anderen Weise auf diese Drohungen eingeht, zeigt, wie wankelmütig und erpressbar man hierzulande faktisch ist. Verantwortungsvolles Handeln sieht anders aus. 

Nazi-Waffen-Vergleich manövriert das Kanzleramt ins Abseits

Noch schwerer wiegen die hämischen Äußerungen, mit denen Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt die Forderung nach der Lieferung von Kampfpanzern zurückwies. Allen Beteuerungen zum Trotz: Die deutsche Haltung wird zunehmend zum Sonderweg, mit den entsprechenden Reaktionen im In- und Ausland. Schmidt muss sich vorwerfen lassen, nicht nur Ursache und Wirkung zu verwechseln, sondern auch den furchtbaren Krieg gegen die ukrainische Zivilbevölkerung zu verharmlosen und den Umstand zu ignorieren, dass umgebaute Kampfpanzer aus Polen längst in der Ukraine im Einsatz sind. Olaf Scholz und seinem Team scheint immer noch nicht klar zu sein, wie sehr sie sich mit ihrer Verweigerungshaltung ins Abseits manövrieren. In den Nazi-Vergleichen und der Arroganz, die Waffendebatte als „Teenager“-Attitüde abzukanzeln, offenbart sich aber noch etwas anderes: Das Kanzleramt interessiert sich offenbar viel stärker dafür, was Putin über westliche Waffen denkt, als für die Frage, was die Ukraine auf dem Schlachtfeld bräuchte, um den Wahnsinn dieses Krieges zu beenden.  

Die SPD ignoriert Resolution des Europaparlaments

Das Signal an die transatlantische Allianz könnte fataler nicht sein. Sicher: Dieser Krieg wird noch lange andauern, und deutsche Panzer sind dabei nicht das Hauptproblem. Mit den ständigen Abwehrreflexen gegen eine sinnvolle Debatte weckt man aber Zweifel, ob Deutschland überhaupt hinreichend bereit ist, diesen Krieg zu beenden, oder ob Berlin nicht stattdessen eher auf Kosten der Ukraine auf Zeit spielt. Bereits die Frage ist eine Katastrophe in der Außenwirkung und passt somit perfekt in Putins Kalkül: Während wir zaudern, kann er über den Winter seine zerschlissenen Armeen verstärken. Damit droht nun sogar, dass die bisherigen Erfolge der ukrainischen Offensivoperation verspielt werden. Neben den Materialverlusten der Ukrainer, die eigentlich dringend ausgeglichen werden müssten, sind die zögerlichen Waffenlieferungen auch politisch ein fatales Signal. Im Kanzleramt scheint man das in Kauf zu nehmen.

Konstruktive Vorschläge liegen eigentlich längst auf dem Tisch. Die Resolution des EU-Parlaments vom 6. Oktober spricht in dieser Sache eine klare Sprache, insbesondere im Hinblick auf die Forderung nach substantiellen Waffensystemen, „damit die Ukraine die vollständige Kontrolle über ihr gesamtes international anerkanntes Hoheitsgebiet wiedererlangen“ kann. Selbst innerhalb der Ampel gibt es Initiativen, die aussprechen, was man sich im Kanzleramt nicht zu sagen traut, nämlich, dass Russland in diesem irrsinnigen Krieg besiegt werden muss und die dafür nötigen Schritte konkret anzugehen sind. Allein: Der Eindruck bleibt, dass man das im Kanzleramt gar nicht wirklich ernsthaft und mit aller Konsequenz will.


Unser Gastkolumnist Marcus Welsch war in den letzten zehn Jahren Dutzende Male in Polen, der Ukraine und anderen Staaten Mittel- und Osteuropa unterwegs. Er ist als Dokumentarfilmregisseur oft mit dem ukrainischen Schriftsteller Serhij Zhadan durch den Osten seines Landes gereist. Warum ihn jetzt das Reden in Deutschland über Krieg und Frieden um den Schlaf bringt, beschreibt er hier in unregelmäßigen Abständen. Zum jüngsten Teil seines mehrteiligen „Tagebuches aus Deutschland“ geht es hier.