Es ist ein offenes Geheimnis: Alle Redaktionen haben Nachrufe für die Großen der Welt in der Schublade. Wir natürlich auch. Wir allerdings veröffentlichen unsere Abschiedsworte vorab, damit sich schon die Lebenden an unserem Lob erfreuen können. Denn für Nachrufe gilt: Über Tote redet man nicht schlecht. Folge 1:  Horst Seehofer.

Er gehörte zur CSU wie die Benediktenwand zu Bayern. Er war ein Fels im Schneegestöber der Tagespolitik, ein Macher, ein Treiber. Horst Seehofers politische Karriere erstreckte sich über zwei Jahrhunderte, schon deshalb werden wir ihn vermissen. In Zeiten kurzlebiger Trends sind Kontinuität und Vorhersehbarkeit Balsam für die Wählerseele. Niemand wusste das besser als der Sohn eines Lkw-Fahrers aus Ingolstadt. Als der Bub aus einfachen Verhältnissen, dem es nicht an der Wiege gesungen war, den Freistaat zu führen.

„Der Herrgott hat mir Steherqualitäten gegeben“, hat Horst Seehofer einmal gesagt. Wer würde da widersprechen. Unermüdlich bestellte er das Feld seiner Partei und war auch dann treu zur Stelle, als es eng wurde mit Wählerstimmen. Fahnenflucht war seine Sache nicht, deshalb hielt er am Parteivorsitz fest, als bereits ein Nachfolger für das Amt des Ministerpräsidenten auserkoren war. Andere hätten längst das Handtuch geschmissen. Horst Seehofer schmiss sich höchstens selber weg – kein Zweiter konnte so herzhaft über die eigenen Witze lachen.

Blade Runner der rechten Mitte

Keiner war so nah am gesunden bayerischen Volksempfinden wie er. Unvergessen sein Interview in der „Süddeutschen Zeitung“. Er persönlich würde ja Brot aus gentechnisch verändertem Mehl essen, verriet er, schließlich gebe es „keine Hinweise auf gesundheitliche Gefahren.“ Gefolgt von gekonnter christsozialer Dialektik: „In Bayern bin ich aber gegen Gentechnik.“

Ob Ausländermaut, Zentrallager für HIV-Infizierte, Obergrenzen für Asylsuchende, Gentechnikverbot oder die 180-Grad Energiewende (ohne Stromtrassen, versteht sich): Horst Seehofer war der Blade Runner der rechten Mitte. Dabei scheute er keine Konfrontation, auch die mit geltendem Recht nicht.

Der gelernte Verwaltungsfachmann kämpfte zeitlebens für das Primat der Politik. Mochten Erbsenzähler sich ans Grundgesetz klammern oder ängstlich zur EU schielen: Ein Seehofer brauchte diese Hilfslinien politischer Impotenz nicht. Denn wenn der EuGH oder irgendein anderer juristischer Wasserkopf seine Vorhaben wieder kassierte, raste längst eine neue Sau durchs Dorf. Es bleibt abzuwarten, ob auch sein Nachfolger die Kunst des politischen Entertainments so virtuos beherrscht.

Vokalist der vox populi

Bayern steht für barocke Lebensart – auch hier wusste Seehofer zu überzeugen. „Ich liebe alle meine vier Kinder“, zitierte ihn eine bösartige Presse, als die Geburt seines außerehelichen Nesthäkchens bekannt wurde. Nur wenige Monate später kehrte er in seine ansonsten vollkommen skandalfreie Ehe zurück. „Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein“, hätte der praktizierende Katholik gesagt, wenn ihm sein Beichtvater nicht tätige Reue durch Schweigen auferlegt hätte.

Mit Horst Seehofer ist ein Seismograph des Stammtischs von uns gegangen, ein Bezwinger des Bierzelts, ein Vokalist der vox populi. Kein lebendiges demokratisches System kann auf Dauer ohne solche Antennen existieren. So bleibt zu hoffen, dass seine außerordentlichen Fähigkeiten in den jüngeren Talenten der CSU weiterleben; wenn schon nicht in einer einzigen Person, dann vielleicht auf mehrere Schultern und Köpfe verteilt. Das sind die Christsozialen der Bundesrepublik Deutschland schuldig.

 

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Damit sich schon die Lebenden an unserem Lob erfreuen können, veröffentlichen wir unsere Nachrufe ante mortem. Sämtliche Nachrufe können hier nachgelesen werden.