Erinnerung muss höchst lebendig sein, sonst können wir aus Fehlern nicht lernen. Und gerade in Zeiten des Vergessens durch eilfertige Empörung braucht es das Erinnern an die Schrecken der jüngeren Geschichte. Reden wir also über Srebrenica.

Jede Generation erlebt möglicherweise zwei, drei Ereignisse, die ihr politisches Denken, ihr Weltverhältnis, ihre Überzeugungen ein Leben lang prägen. Für viele junge Menschen mag dies zum Beispiel nun der Tod von George Floyd in den USA sein. Schreiende Ungerechtigkeit und gewalttätige Missstände werden sichtbar und so unerträglich, dass man sich entsprechend Protesten anschließt und zeitlebens eine Sensibilität und Wachsamkeit gegen die beklagenswerten Zustände bewahrt. 

Das für mich wohl prägendste schreckliche Ereignis war im Juli 1995 der Mord an über 8000 muslimischen Männern und Jungen im bosnischen Srebrenica, unweit der Grenze zu Serbien. Zuvor hatten schon Jahre des Krieges die Nachfolgestaaten Jugoslawiens verheert. Symbolisch steht dafür das Schicksal der bosnischen Hauptstadt Sarajevo: Sie wurde im April 1992 von serbischen Truppen eingekesselt. In den Bergen ringsum standen bald Hunderte Artilleriegeschütze und Panzer, die die Stadt willkürlich beschossen. Scharfschützen terrorisierten die Bevölkerung, hatten es besonders auf Frauen und Kinder abgesehen. Die Wasser- und Stromversorgung wurde gekappt. Die Versorgung konnte lange Zeit nur durch eine Luftbrücke gewährleistet werden, die schließlich länger ging als die Berliner Luftbrücke. Insgesamt dauerte die Belagerung 1425 Tage – das 20. Jahrhundert kannte keine längere.

Europäische Gleichgültigkeit

Es war die amerikanische Publizistin Susan Sontag, die in den 1990er-Jahren etliche Male, oft auf klandestinen Wegen, nach Sarajevo reiste, um ihre Solidarität mit den Belagerten und Drangsalierten zu bekunden und die Welt auf die Situation in der Stadt und den anderen bedrängten Städten im ehemaligen Jugoslawien hinzuweisen: „Die Leute wollen keine schlechten Nachrichten hören. Vielleicht wollen sie das grundsätzlich nicht. Aber im Fall Bosniens waren Gleichgültigkeit und mangelnde Vorstellungsbereitschaft präsenter als ich je erwartet hatte.“ Vor allem, wie sie feststellte, in Italien und Deutschland. 

Es gibt mehrere mögliche Gründe, wieso gerade in Deutschland dieses gravierende Desinteresse vorlag. Das Land war noch intensiv mit den Auswirkungen des Mauerfalls und der Wiedervereinigung beschäftigt. Es wollte nicht in einen Bürgerkrieg hineingezogen werden, obwohl es durch den damaligen Außenminister Genscher, der nicht auf die von der EG eingesetzte Expertenkommission warten mochte und in einer folgenschweren Fehleinschätzung Slowenien und Kroatien im Alleingang anerkannte, den Zerfall Jugoslawiens in gewisser Weise beschleunigt und damit eine Militarisierung des Konflikts in Kauf genommen hatte: Also wieso sich in ein militärisches Abenteuer begeben, wenn man die neue Einheit noch gar nicht richtig vollendet hat und der Osten des Landes im Aschermittwoch der Transformation steckt? Zudem lagen bis August 1994 russische Truppen in Deutschland, deren Abzug Russland trotz klarer Vereinbarungen nach Belieben hätte hinauszögern können. Schließlich hatte der Kreml früh und deutlich für Serbien und seinen Präsidenten Milošević Partei ergriffen. Außerdem wollten die Kohl-Regierung wie weite Teile der Gesellschaft und der Medien dem über Jahrzehnte eingeübten Verfahren folgen: sich aus allem raushalten und es die Amis machen lassen. Zumal der Balkan viele – wenn auch historisch unscharf – an die Anfänge des Ersten Weltkriegs erinnerte und die Region als ein unzivilisierter und sich selbst abzukühlender Glutkessel angesehen wurde. In einem ihrer Essays mit dem Titel „Dort und Hier“ erzählt Sontag die vielsagende Anekdote, wie ihr Sohn, der mit ihr gefahren war, bei der Rückkehr gefragt wurde: „Wie können Sie soviel Zeit an einem Ort verbringen, wo die Leute immerzu rauchen?“ Das passt ganz gut zum ignoranten politischen Snobismus, der in vielen westlichen Milieus damals herrschte – und gegenwärtig auch noch.

Heute, da die UNO als eine irrelevante Institution gilt – was nicht heißt, dass sie nicht auch mal wieder bessere Tage sehen wird – kann sich in den jüngeren Generationen kaum jemand vorstellen, dass vor fünfundzwanzig Jahren heftig auf diplomatischer Ebene für eine Lösung des Jugoslawien-Konflikts gerungen wurde. Doch heraus kam, weil der Westen nicht recht wollte und Russland als selbsterklärte Schutzmacht Serbiens die richtigen Entscheidungen blockierte, im Februar 1992 nur die Friedensmission UNPROFOR: Sie hatte zunächst nur eine neutrale Beobachterfunktion und bekam erst später, weil die Kämpfe nicht endeten und weiter eskalierten, die Friedenssicherung nach Kapitel VI der UN-Charta zur Aufgabe. Doch wie Frieden sichern, wenn kein Frieden herrscht? Wie Schutzzonen einrichten, wenn man keinen Schutz bieten kann? Wie humanitäre Hilfe leisten, wenn eine „Kriegspartei“, in dem Fall die Serben, nach eigenem Gutdünken Lieferungen verhindern konnten? Denn UNPROFOR war kein Kampfeinsatz, die Truppen ohne Schlagkraft und mithin ohne Autorität. Und spätestens seit dem Sommer 1994, also zwölf Monate vor Srebrenica, hätten die Verantwortlichen im UN-Hauptquartier und den Hauptstädten der westlichen Welt wissen müssen, dass eine Friedensmission nach Kapitel VI nicht einmal ein stumpfes Schwert ist, sondern ein Himmelfahrtskommando mit Obstmessern: In Ruanda kam es zum Völkermord an Tutsi und moderaten Hutu mit bis zu einer Million Opfern, der damals von dem kleinen Bataillon schlecht ausgerüsteter belgischer UN-Soldaten, die selbst Verluste erlitten, nicht verhindert werden konnte.

Srebrenica

Trotzdem schickte man gut ein halbes Jahr später eine recht schlanke niederländische Friedenstruppe („Dutchbat“) von 400 Soldaten nach Srebrenica. Sie waren die einzigen, die die kanadischen Soldaten vor Ort ablösen wollten. Doch die Truppe ist zu klein, schlecht vorbereitet und bewaffnet, um den benötigten Schutz geben zu können. Anfangs leitet sie zwar ein hohes Maß an Hilfsbereitschaft und moralischen Überzeugungen, doch letztlich wird ihr Handeln bestimmt von Fehleinschätzungen, der Willkür der serbischen Belagerer und durch eine lange und langsame Befehlskette innerhalb des UN-Mandats. In der Stadt warten rund 40.000 Menschen, Einwohner und Flüchtlinge, auf Versorgung und Sicherheit. Die Zustände sind desaströs. Und mit Dauer der Aufgabe wandelt sich zu einem guten Teil die Haltung der Schutztruppe (was Wandinschriften in den Truppenquartieren beweisen). Es bildet sich eine erhebliche Abneigung gegen die muslimische, um ihr Leben kämpfende, hungernde, durch die Umstände erniedrigte und verängstigte Bevölkerung. Gleichzeitig gibt es einen florierenden Schwarzmarkt mit den Belagerern, während diese die Schutztruppe systematisch demoralisieren, indem man die Versorgungskonvois der UN zurückhält. So macht sich bei den Soldaten das Gefühl breit, von der UN und der Welt vergessen worden zu sein. Die ohnehin spärliche Handlungsfähigkeit der Friedensmission nimmt materiell wie moralisch weiter ab.

Dann, am 11. Juli 1994, rücken die serbischen Truppen vor und besetzen die Schutzzone Srebrenica. Es sind nur wenige Tage vor dem geplanten Abzug des niederländischen Kontingents. Kurz zuvor ist ein holländischer Soldat durch Bosnier ums Leben gekommen, als diese, wütend über das Zurückweichen eines niederländischen Panzers nach serbischem Artilleriebeschuss, eine Granate auf die Beschützer werfen.

Der Leiter des Dutchbat-Bataillons, Oberstleutnant Thomas Karremans, fordert, obwohl seine Vorgesetzten ihm den Befehl geben, keinen Widerstand zu leisten und dafür zu sorgen, dass die eigenen Soldaten heil nach Hause kommen mögen, zur Verteidigung der Schutzzone Luftunterstützung an. Ihm wird bescheinigt, dass er für die Forderung nach Luftunterstützung das falsche Formular benutzt habe. Schließlich werfen niederländische Jets doch drei Bomben ab: Eine trifft einen Bauernhof, eine andere einen Gemüsegarten, die dritte dann immerhin einen serbischen Panzer. Das ist alles. Es beginnen die Verhandlungen auf eine geordnete Übergabe der Schutzzone an die Belagerer. Man einigt sich und der serbische General Ratko Mladic nötigt den Holländer, mit ihm auf die gelungenen Verhandlungen anzustoßen. Das ist am Abend, bevor die Massaker beginnen. Man sieht auf dem Photo einen skeptischen niederländischen Offizier, aber von Zerknirschung sieht man nichts. Das Photo geht um die Welt und wird zum Beleg für militärisches wie politisches Versagen. – Und für Naivität und Feigheit.

Als Karremans am nächsten Tag die Laster und Busse gewahrt, mit denen die Menschen verschleppt werden sollen, versucht er zu protestieren: „Bitte, ich bin der Kommandeur des niederländischen Bataillons, und ich…“

„Was für ein Kommandeur?“, unterbricht ihn der serbische General Ratko Mladic: „ Ein Stück Scheiße bist Du. Ich bin Gott hier!“

Trotz dieser weiteren Demütigung leisten die Niederländer ein zweites Mal keinen echten Widerstand. Obwohl der niederländische Verteidigungsminister ausdrücklich untersagt, beim gesonderten Abtransport der Männer und Jungen zu kooperieren und „so viele wie möglich zu retten“, halten sie sich nicht, von einigen Ausnahmen abgesehen, an die Anweisung des Ministers. 

Am 13. Juli beginnen die Massenexekutionen in der Umgebung von Srebrenica. Sie dauern fünf Tage. 

Denkmal Erinnerung

Ich habe mich in den Jahren danach immer wieder an das Photo mit Karremans und Mladic erinnert (man findet es natürlich auch im Netz). Es ging nicht, ohne darüber nachzudenken, was man selbst in so einer Situation getan hätte. Eine müßige Frage. Mein Lebensweg konnte mich nicht in dieselbe Situation bringen. Und doch lässt mich die Frage seitdem nicht mehr los. Sie ist zwar hypothetisch, aber doch nicht ganz falsch oder rein fiktional. Es kann im Leben immer eine Situation entstehen, in der es darum geht, Schutzbefohlene nicht im Stich zu lassen. Deswegen wurden zu Zeiten des Wehrdienstes bei Kriegsdienstverweigerung während der entsprechenden Verhandlung im Kreiswehrersatzamt ähnliche Fragen gestellt, um die Glaubwürdigkeit des Verweigerers zu testen. Die „richtige“ Antwort war: Man gerät zwar in einen schweren Gewissenskonflikt, aber man lässt natürlich nicht ohne Widerstand einen Angreifer seine Frau oder Kinder vergewaltigen oder töten. 

Mit dieser Frage werden heutige Generationen nicht konfrontiert. Sie kennen diese Art von Hypothesen nicht. Sie kennen zwar die hochmoralischen Debatten über die Seenotrettung, aber da geht es nicht um den möglichen Einsatz des eigenen Lebens. Und um die Notwendigkeit, selbst töten zu müssen. Die Nachgeborenen wollen nur Samariter sein.

Aber sind wir, die Frühgeborenen, deswegen eher für das richtige Handeln prädestiniert? Sicher nicht. Letztlich genießen wir den gleichen Luxus, dass wir solche Konfliktsituationen und entsprechende Entscheidungen delegieren können: an Politiker, Polizei, Soldaten, Rettungskräfte. Aber schon in Ruanda hat es den Opfern nicht geholfen, weil von der ersten politischen Entscheidung bis zum nicht verhinderten Genozid eine Kette von Fehlern gemacht wurde: aus Mangel an Interesse, Mut, Willen, Tatkraft, Entschlossenheit. Unsere laute Forderung nach diesen fünf Tugenden hätte vielleicht etwas bewirken können. Doch der Unterschied zu Srebrenica war der, dass die Öffentlichkeit in Ruanda weitgehend ausgeschlossen war und man vom Ausmaß der Morde erst sehr viel später erfuhr. Die Vorgänge im ehemaligen Jugoslawien fanden dagegen quasi vor unseren Augen statt. Und trotzdem ließ man die Verantwortlichen die falschen Entscheidungen treffen. Dabei müsste für Menschen in Verantwortung und uns alle eigentlich immer gelten, was, mutmaßlich, der Aufklärer und Staatsmann Edmund Burke schon im 18. Jahrhundert wusste:

„All that is necessary for the triumph of evil is that good men do nothing.“ 

Edmund Burke

Immerhin hat die UN in den vergangenen 25 Jahren ihre Missionen, wenn es sie gibt, robuster ausgestattet, auch mit deutscher Beteiligung – das ist wenigstens eine vollzogene Lehre. Und trotzdem gibt es heute wieder nicht unerhebliche Stimmen im Deutschen Bundestag und der deutschen Gesellschaft, die aus nationalistischen oder pazifistischen Neigungen Auslandseinsätze der Bundeswehr per se ablehnen.

Erinnern wir uns also wieder an Srebrenica. Hören wir nicht auf damit!

Postscriptum: Durch militärischen und diplomatischen Druck der USA konnte im Herbst 1995 das Abkommen von Dayton und damit der erste Schritt zu einem Frieden in Bosnien-Herzegowina vereinbart werden. Ratko Mladic wurde, nachdem er sich viele Jahre der Verhaftung und dem Gerichtsverfahren entziehen konnte, im Jahr 2017 vom Internationalen Jugoslawien-Tribunal zu lebenslanger Haft verurteilt.