Natürlich hat ein Sozialdemokrat das Recht, anderen das Linkssein abzusprechen.

Nachdem autonome Randalierer mehrere Nächte in Hamburg gewütet hatten, entspann sich eine Diskussion um Äußerungen Ralf Stegners. Er hatte geschrieben, wer sich so verhält, der sei nicht links. Es ist mir ja peinlich, aber da muss ich Stegner in Schutz nehmen. Selbstverständlich hat die Sozialdemokratie das gute Recht, anderen das Linkssein abzusprechen.

Niemand würde eine Flasche kaufen, auf der „braunes Erfrischungsgetränk aus Wasser, Zucker, natürlichen Aromen, Kohlensäure und Koffein“ steht. Die diversen Inhaltsstoffe werden im  Markennamen „Coca Cola“ gebündelt. Die Kondensierung auf eine Marke ist unumgänglich, auch im politischen Raum. Markenkredibilität muss verteidigt werden, um den Wert der Marke zu erhalten, denn es gibt unendlich viele Fake-Produkte und Imitate, die renommierte Bezeichnungen missbräuchlich verwenden.

Dies ist kein spezifisches Problem der Linken, sondern betrifft alle geistigen Strömungen. Christen lassen es sich nicht gern gefallen, auf Inquisition und Hexenverfolgung reduziert zu werden. Oder, um aktuellere Beispiele zu nennen, auf den spanischen oder kroatischen Faschismus, auf den Terror der IRA oder die Massaker der christlich libanesischen Falange. Und welcher Konservative hat bitte diese Bezeichnung abgelegt, seit Donald Trump alles zerdeppert, was vor kurzem noch als konservativ galt. Ganz zu schweigen von der anfänglichen Unterstützung Hitlers durch die Mehrheit des deutschen Konservatismus.

Genauso unsinnig wie die Kritik an Stegners Weigerung, den Autonomen das Prädikat „links“ zuzugestehen, ist die schnelle Distanzierung mancher Linker, die nach den drei Hamburger Krawallnächten nun nicht mehr links sein möchten. So als ob zum ersten Mal Unrecht unter linker Flagge geschehen sei. Seit im 19. Jahrhundert die Arbeiterbewegung, die sozialistischen und später auch kommunistische Parteien entstanden sind, kam es immer und immer wieder zu schwersten Verbrechen. Die drei Namen Mao, Stalin und Pol Pot genügen, um jeden Gedanken an die Reinheit  der ursprünglichen Ideen zu Staub zerfallen zu lassen. Jede Spielart politscher Verbrechen wurde im 20. Jahrhundert gleichermaßen von rechts und links praktiziert. Hätten sich die anständigen Linken, die es immer auch gab – und die zumeist die Mehrheit bildeten –  immer wieder neue Bezeichnungen für ihre Überzeugungen ausdenken sollen? Hätte George Orwell Stalin das Linkssein überlassen sollen? Hätte Willy Brandt seine Gesinnung auf den Müll werfen sollen, weil Ulbrichts Partei im Namen des Sozialismus die Menschen in der DDR gefangen hielt?

Was ist der Markenkern?

Wenn die Bezeichnung „links“ eine Marke wäre, woraus bestünde ihr Kern? Was würden mir Marx und Bebel, Otto Wels und Willy Brandt aus dem Sozialistenhimmel zuflüstern, wenn ich sie um Orientierung bäte?

  • Alle Menschen sind gleich viel wert und sollen gleiche Rechte haben!
  • Nehme Armut nicht als gegeben hin! Niemand sollte arm sein!
  • Es soll keine Klassenschranken geben!
  • Achte die Arbeit!
  • Kämpfe gegen Nationalismus, Antisemitismus und Rassenhass!
  • Kämpfe gegen Kriege, die aus nationalistischen, imperialistischen oder wirtschaftlichen Interessen geführt werden!
  • Kämpfe für geistige Freiheit und gegen Unterdrückung!
  • Glaube keiner Religion!
  • Bilde dich! Nutze die Erkenntnisse der Wissenschaft!
  • Begrüße den Fortschritt! Langfristig führt Geschichte zu mehr Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand.

Dies ist nach wie vor ein ziemlich konsistenter Wertkanon, finde ich, der es verdient, erhalten zu bleiben.

Nach dieser Definition wären die Autonomen nicht links, denn sie achten die Arbeit nicht und schränken mit roher Gewalt die Freiheitsrechte ihrer Mitmenschen ein. Auch die Grünen fallen raus, weil sie weder Fortschritt und Wissenschaft schätzen und ihnen Armut ziemlich egal ist. Die postmoderne akademische Linke wäre demnach nicht links. Denn ihre Verklärung des Islam als Religion der Unterdrückten würde einem Marx sicherlich nicht schmecken.

Der anständige Rechte ist bereits verschwunden

Warum soll sich ein Sozialdemokrat das traditionelle Adjektiv für seine Grundüberzeugungen von Randalierern streitig machen lassen, die noch nie eine Zeile politische Theorie gelesen haben?

In jüngster Vergangenheit hat sich die Benutzung des Adjektivs „rechts“ im Sprachgebrauch weit verschoben. Als „Rechte“ werden heute hauptsächlich Neonazis tituliert, die man früher stets „rechtsradikal“ oder „rechtsextremistisch“ nannte. Kaum ein CDU-Politiker traut sich noch, sich selbst als rechts zu bezeichnen. Vor zehn Jahren war das noch normal. Die Figur des anständigen, demokratischen Rechten ist aus der Sprache verschwunden. Die Antidemokraten haben nun die Deutungshoheit über alles was rechts ist. Ich kann gut verstehen, dass Herr Stegner verhindern will, dass das Gleiche mit „links“ geschieht.