Unser Autor hat einen Monat auf dem Subkontinent verbracht . Mitgebracht hat er einen Bericht über Aufeinandertreffen mit Unberührbaren – und Stalin.

Einen Monat habe ich auf dem Subkontinent verbracht. In Mumbai, der Moloch-Millionen-Metropole, von Wasser umschlossen. Im heißen Chennai, im Südosten bei den Tamilen, wo in Pondicherry die Franzosen ihre Bauten hinterließen und Hindus in Mamallapuram riesige, verzierte Tempel bauten. Und im schönen, bergigen Goa im Südwesten, wo einst die Portugiesen herrschten und viele immer noch Nachnamen wie „Fernandes“ tragen.

Zweiter Teil: Tamil Nadu

Von Mumbai nehme ich am Abend einen 26-Stunden-Zug nach Chennai im Südosten Indiens. Das Ticket für den einfachen Schlafwagen ohne Klimaanlage kostet sieben Euro. Ich habe einen Sitz am Gang, am Fenster. Nachts wird mein Sitz und der gegenüber von mir zu einem Bett zusammengeklappt. Mein Sitznachbar klettert dann auf eine Pritsche nach oben.

Mein Sitznachbar ist ein junger Mann aus Mumbai, der gemeinsam mit seinem Chef Shuan (27) auf einer Geschäftsreise ist. Shuan trägt ein traditionelles, muslimisches Gewand, teilt mit mir sein Ziegenfleisch-Curry mit Reis und erzählt mir, dass er in Mumbai eine Jeans-Fabrik hat. Er lädt mich ein, ihn zu besuchen.

Beim Reis- und Fleischessen mit der Hand kleckere ich ziemlich viel. Erst später lerne ich an einem hervorragenden, von Fliegen befallenem Fisch-Imbiss an der Küste im Südosten des Landes (der Koch war ein Virtuose): Man muss den Reis in die Hand nehmen und dann nur mit dem Daumen wie auf einer Rutsche in den Mund schieben, dann fällt nichts runter.

Wie manche Inder, die ich kennenlerne oder auch nur auf der Straße passiere, wollen die freundlichen Männer Fotos mit mir. Denn, ich hätte das nicht gedacht, als westlicher Tourist bin ich wirklich ein Paradiesvogel. Manchmal lief ich zwei Tage durch eine indische Stadt und sah vielleicht einen Weißen.

Der Zug rattert, quietscht und keift sehr laut. Alle mit horizontalen Gittern bewehrten Fenster sind geöffnet, Ventilatoren laufen auf voller Kraft. Wenn man eine kurze Hose und ein T-Shirt trägt, ist es nicht unangenehm heiß.

Andauernd laufen Marketender durch den Wagen oder an den Stationen auch außerhalb entlang und preisen laut Vieles an – von süß-milchigem Chai-Tee über Samosas, in Teig einfrittierte Kartoffeln, bis zu Schlössern und Ketten, mit denen man sein Gepäck sichern kann.

Ich lese auf dem Kindle „Shantaram“, den autobiographisch beeinflussten Roman eines australischen Gefängnisausbrechers, der sich lange in Mumbai versteckte, sich mit der Mafia einließ, zeitweise in einem Slum im Süden der Stadt lebte und da als Laien-Doktor den Leuten half, in indische Horror-Haft kam.
Keine große Literatur, aber schon spannend, denke ich. Als es spät ist und wir die Betten ausklappen, liege ich gemütlich auf meiner Pritsche, meine Beine zur Sicherung auf meinem Rucksack. Unter mir der ratternde Zug, in meiner Nase der Nachtwind, nur hin und wieder nach Abwasser stinkend. Nachts wird es kühl. So hatte ich mir das vorgestellt.

Am frühen Morgen sehe ich an einer Station auf einer Hochebene im Zentrum des Landes eine große Familie von Dalits, vom Kastensystem als „Unberührbare“ gebrandmarkte. Die Familie scheint auf dem Bahnsteig zu hausen und von Müllsammeln und Betteln zu leben. Eine Frau hält einen kleinen, sehr niedlichen Jungen über die Gleise und lässt ihn sein Geschäft machen. Ein älterer Mann, offenbar der Familienchef, putzt sich mit einem Stock die Zähne.

Dicht besiedeltes Riesenland

Der Zug fährt wieder an. Die Landschaft draußen ist eher trocken. Bäume, ein paar Wasserbüffel mit gewaltigen Hörnern, ärmliche Dörfer. Viel unberührte Natur ist in dem Riesenland nicht, schon vor 4500 Jahren gab es hier geplante Städte. 407 Menschen leben pro indischem Quadratkilometer, sagt Wikipedia. Im schon dicht bevölkerten Deutschland sind es 232. In den USA 33.

Die indischen Toiletten, einfache Löcher im Boden zum Hinhocken, haben einen Vorteil gegenüber den europäischen, die es im Zug zwar auch gibt, aber auf so einer langen Reise ziemlich übel aussehen. Die 26 Stunden, die der alte Zug für 1300 Kilometer braucht, vergehen erstaunlich schnell.

In Chennai miete ich mich in ein ranziges Billighotel für vier Euro die Nacht ein. Auf dem Weg dorthin passiere ich eine Trinkhalle. Männer kaufen sich kleine Flaschen Billig-Brandy und trinken den gemischt mit Wasser in rauen Mengen, denn das Trinken auf der Straße ist streng verboten. Frauen dürfen oder wollen scheinbar nicht rein.

Ich esse am Straßenrand ein Dosa. Das ist ein Pfannkuchen aus Reis den die Leute per Hand zusammen mit einer Gemüse-Curry-Soße in den Mund schaufeln. Schmeckt ein bisschen säuerlich, aber gut.

In Pondicherry und Auroville

Am nächsten Tag nehme ich einen Zwei-Stunden-Zug und einen Ein-Stunden-Bus nach Pondicherry. Ein freundlicher Inder nimmt mich per Rikscha mit zum Busbahnhof an der Umsteigestation. Der Bus ist ein gealtertes Ungetüm. Da er offenbar öfters mal den Geist aufgibt, liegen alle Sicherungen hinter dem Lenkrad offen, so kann der Fahrer schnell selbst eingreifen.

Pondicherry war bis 1954 Hauptstadt von Französisch-Indien und das sieht man an den schönen alten Gebäuden, die weiß angestrichen und liebevoll restauriert sind. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich Europäer mit europäischen Augen bin, aber es geht mir ein bisschen so wie in der Szene „What have the Romans ever done for us?“ im Film „Das Leben des Brian“ von Monty Python. Ähnlich wie in Mumbai gefallen mir die Prachtbauten der verständlicherweise verhassten Kolonialisten besser, als der einheimische Stil.

Die Inder lieben es hier auch. Die Strandpromenade ist voll von einheimischen Liebespaaren und Familien, die wie ich als Touristen gekommen sind. Ich rattere mit einem geliehenen Motorrad gemeinsam mit einem Deutschen, den ich über ein Hostel kennenlernte, nach Auroville. Das ist eine etwa 30 Minuten entfernte Hippie-Kommune in den Hügeln nordwestlich der Stadt, einst nach Lehren eines Hindu-Gurus gegründet, aber nun allen Menschen und Religionen offen.

Der riesige, goldene, rundovale Tempel, den die Anhänger seit Ende der 60er-Jahre bauten, sieht wirklich beeindruckend und perfekt aus. Wir bewundern ihn von einer weit entfernten Aussichts-Plattform.
Sonnenlicht, so erklärte uns ein Einführungs-Pflichtfilm am Eingang zur Tempelanlage, fällt in einem ganz bestimmten Winkel durch eine Öffnung ein und wird drinnen kompliziert gebrochen. Bei Wikipedia lese ich genauer: Ein Heliostat bündelt das Licht und schickt es nach unten auf eine 70-Zentimer-Kristallkugel, von Zeiss-Jena mitgebaut. So erleuchtet das Sonnenlicht den Innenraum.

Rein dürfen nur Eingeweihte. Dort meditieren und denken die Anhänger dann stundenlang in kompletter Stille. Es hat etwas von einer abstrusen Sekte, aber: Ein Freund, der es mal ohne großen Aufwand reinschaffte, sagte, dass es drinnen wirklich beeindruckend ist.

Auroville, einst vom damaligen indischen Präsidenten eröffnet gemeinsam mit Gesandten aus 124 Nationen, gilt als „planetares Eigentum“. In der Charta steht: „Auroville gehört niemandem im besonderen. Auroville gehört der ganzen Menschheit. Aber um in Auroville zu leben, muss man bereit sein, dem göttlichen Bewusstsein zu dienen.“

Die „universelle Stadt“, in der bis jetzt etwa 2000 Menschen leben sollen, ist noch lange nicht fertig. Geplant ist ein riesiger See rund um die goldene Kugel. Freiwillige werden gesucht, den weiter auszubuddeln, dafür gibt es Kost und Logis, wenn ich das richtig verstand.

Nach ein paar Tagen nehme ich einen Bus wieder gen Norden, Richtung Chennai, nach Mamallapuram. Die Stadt am Meer ist ein UNESCO-Weltkulturerbe, wichtige Hindutempel-Stadt. Die sakralen Bauten sind aufwändigst verziert mit Gestalten aus dem Millionen-Götter-Panoptikum und anderen Figuren.

Die Tempel wurden während der Blütezeit eines damaligen Königreich etwa im 8. Jahrhundert errichtet. Viele Tamilen hier sind immer noch geschickt im Bearbeiten von Marmor, bieten kleine Arbeiten Touristen an – aber nur vereinzelt laufen Franzosen, Deutsche und Israelis die Stände entlang, es ist September, kurz nach der Regenzeit und knapp außerhalb der Saison.

Nationalistischer Kommunisten-Epos im Flugzeug

Als ich mit der Lufthansa-Maschine Richtung Mumbai segelte, schaute ich mir einen tamilischen Film über einen Taxifahrer an, dessen Verlobte dachte, er sei tot und deshalb einen reichen Anderen heiratete. Durch Zufall rettet der gar nicht gestorbene Mann dem reichen Anderen nach einem Autounfall das Leben und so trifft er, mittlerweile selbst verheiratet, seine frühere Verlobte wieder.

Es gibt dann so eine indienfilmtypische Musicaleinlage. Auf einer „Tamil Nadu sucht den Superstar“-Veranstaltung gibt es zunächst eingängliche indische Schlager mit einem jamaikanischen Ragga ähnlichen treibenden, pumpenden Rhythmus und anzüglichen, die menschliche Fortpflanzung imitierende Tänze. Tatsächlich meine ich, mal gelesen zu haben, dass der jamaikanische Ragga auch von in der Karibik eingesetzten indischen Zwangsarbeitern mit ihrem „Raga“ beeinflusst wurde.

Indische Musik bei einer Ganesha-Feier in Mumbai

Dann stürmt ein Greis mit runder Brille, Krückstock und Kommunisten-Bart die Bühne. Er hält angesichts dieses Sittenverfalls eine lange wütende Rede mit Donnerstimme, was aus den Werten und Idealen der Tamilen geworden sei und der Partei. Der Mann, der Held des Films, kann ob dieser Rede, die alle, die Wahrheit erkennend wie in Eis erstarrt lässt, nicht mehr an sich halten, springt unvermittelt hoch auf die Bühne und singt etwa zehn Minuten, während das ganze Publikum ihn anfeuert und betanzt, über glorreiche Tage des 1. Mai und die verdorbenen „Bourgeois“, im Hintergrund ein Riesenkopf mit Rauschebart des deutschen Karl Marx.

Dabei wird der 72-Millionen-Einwohner-Bundesstaat Tamil Nadu, wie ich später erfuhr, im Gegensatz zum Nachbarstaat Kerala gar nicht kommunistisch geführt, die zwei stärksten Parteien sind nationalistisch ausgerichtet. Aber immerhin: Der Chef der zweitstärksten Partei DMK heißt „M.K. Stalin“.