Ein Monat Subkontinent. Eindrücke aus Mumbai, Tamil Nadu und Goa.

Einen Monat habe ich auf dem Subkontinent verbracht. In Mumbai, der Moloch-Millionen-Metropole, von Wasser umschlossen. Im heißen Chennai, im Südosten bei den Tamilen, wo in Pondicherry die Franzosen ihre Bauten hinterließen und Hindus in Mamallapuram riesige, verzierte Tempel bauten. Und im schönen, bergigen Goa im Südwesten, wo einst die Portugiesen herrschten und viele immer noch Nachnamen wie „Fernandes“ tragen.

Erster Teil: Mumbai

In Mumbai komme ich zunächst in Sahar Village unter. Das ist eine mittlerweile aus niedrigen, bröckeligen Häuschen bestehende, ehemalige Slumsiedlung am internationalen Flughafen. Wie die meisten Slums in Mumbai entstand die Siedlung beim Bau eines Großprojekts.

Um Geld zu sparen, werden bei solchen Projekten die Arbeiter dazu angehalten, sich neben der Baustelle einfache Behausungen aus Stöckern und Planen zu bauen. Das ist für viele Arbeiter, die aus anderen Regionen der 1,3-Milliarden-Menschen-Riesendemokratie kommen, die einzige Möglichkeit, einen Schlafplatz zu finden.

Da die Baustelle sich bei solchen Großprojekten auch in Indien hinziehen kann, kommen die Familien nach. Und da andere Wohnungslose sehen, dass es offenbar möglich ist, dort ohne Genehmigung eine Hütte zu errichten, tun auch sie das. In Mumbai leben Millionen in solchen Siedlungen, die theoretisch von heute auf morgen vom Eigentümer, ich glaube im Fall von Sahar Village ist es der Flughafen, aufgelöst werden können.

Ich laufe durch den Slum. Die Wege sind schlammig, auf Holzbrettern liegen Fische aus, an denen sich Fliegen laben. In einem Elektroshop repariert ein findiger Tüftler einen uralten Röhrenfernseher, so ein Gerät, dass im reichen Europa nicht mal geschenkt genommen werden würde.

Der offene Müllplatz stinkt bestialisch, der leicht süßliche Geruch von Fäkalien, der in der ganzen Stadt aus offenen Abwasserkanälen hinüberweht, ist hier kräftiger. Heilige Kühe stehen im Müll neben Straßenhunden und Krähen und fressen Müll.

Auf einem aus Schlammboden bestehenden Fußballplatz, den die Stadt Mumbai hier hingesetzt hat, trainieren die Sai Ram Boys, viele ohne Schuhe über den vernarbten Füßen. Sie spielen in diesem Land, das sich eigentlich für den englischen Kolonialsport Cricket begeistert, erstaunlich gut. Ein athletischer Seitfallzieher kracht an die Latte.

Sie haben sich als Teamnamen den Namen eines Gurus gegeben, Sai Baba, der als Muslim geboren wurde, aber mit seiner Lehre Hindus und Moslems gleichermaßen anzog. Torwart Arjun, um die 20, hilft seinem Vater mit dem kleinen Gemüsestand auf dem Slum-Markt, aber sein Traum ist es, ein Profi-Fußballer zu werden. Es hat geregnet, sein Fünfmeterraum ist unter einer etwa zehn Zentimeter tiefen Pfütze versteckt. Er schmeißt sich nach den Bällen und klatscht in den Schlamm.

„Brain Fry“ als Delikatesse

Ich wandere durch die Stadt. Südlich, an der Metro-Station Sandhurst Road, sind die Hafenanlagen nicht weit. Auf Märkten schlagen Schlachter Hühnern die Köpfe ab und werfen sie zappelnd in eine Tonne zum ausbluten. In der Auslage liegen auch Ziegenköpfe bereit, das Hirn – „Brain Fry“ – gilt als Delikatesse.

Hier kann man sehen, dass Menschenmaterial in Indien günstiger ist als Maschinen und Benzin. Männer mit einfachen Holzkarren zerren und schieben hier Tonnen an Metall aus dem Hafen in die Stadt rein. Mitten durch den extrem dichten, zügellosen, rauschenden Verkehr. Es muss ein unglaublich anstrengendes Schuften sein. Einer der Schlepper hat eine handballgroße Beule am Ellenbogen, müsste eigentlich zum Arzt. Diese Männer verdienen für ihr archaisches Treiben zwei bis drei Euro – am Tag.

 

Tatsächlich liegen auch viele Preise etwa bei einem Zehntel von dem, was man in Deutschland bezahlen würde. Ein köstliches Curry gibt es für einen Euro. Einen mit einer altertümlichen Maschine frisch gepressten Zuckerrohrsaft, das vielleicht beste Erfrischungsgetränk der Welt, für zehn Cent. Ein kräftige Royal-
Enfield-Maschine, eine Art indische Harley Davidson nach britischer Tradition nachgebaut, neu schon für 2000 Euro. Eine Stunde in einem mit Flüssiggas angetriebenen Taxi durch die Stadt: vier Euro.

Aber das Benzin gehorcht eben doch dem Weltmarkt und den Steuern der Regierung. So kostet ein Liter auch hier etwa einen Euro. Wenn man bedenkt, dass auch indische Ärzte, die in einem brutalen Wettbewerb unter Hochbegabten einen der wenigen Studienplätze erlangt haben (einer von 100 Bewerbern wird genommen), bei 70-Stunden-Wochen etwa 350 Euro nach Hause bringen: Auf europäische Verdienste gerechnet wäre das in etwa so, als würde der Liter Benzin an unseren Tankstellen 20 Euro den Liter kosten. Daher die menschlichen Zugtiere.

Auf den Bürgersteigen leben ganze Familien. Oma, Opa, Mutter, Papa, Kleinkinder. Es sind meist Dalits, „Unberührbare“, jene oft wunderschönen dunkelhäutigen Ureinwohner, die einst von hellhäutigeren Eroberern mit dem Kastensystem nach ganz unten geknechtet wurden.

Die Kasten

Die geniale, perfide Idee der Erfinder dieses Systems. Wenn man sich ganz, ganz doll anstrengt und alles macht, was die höheren Kasten befehlen, kann man – vielleicht – im nächsten Leben bei der Wiedergeburt in eine höhere Kaste gelangen, statt, wenn man sich schlecht verhielt und ungehorsam, etwa als Wurm neu das Licht der Welt zu erblicken.

Offiziell sind die Kasten abgeschafft, aber ein Blick in englischsprachige Zeitungen wie etwa die dicke „Times of India“ (die kostet gerade mal zehn Cent) reicht aus, um zu sehen, dass das Jahrtausende alte System faktisch noch stark in den Köpfen verankert ist.

Gerade mal fünf Prozent der Inder heiraten außerhalb ihrer eigenen Kaste. Wer es doch macht, riskiert sein Leben. Die Zeitungen sind voll von Extremfällen, in denen Familienmitglieder Pärchen ermordeten oder verstümmelten – weil etwa die Tochter einer mittleren Kaste sich in einen Dalit verliebte und ihn entgegen der Wünsche ihrer Eltern dann auch noch heiratete.

Und die Stadt ist voll, denn die Inder heiraten in der Regel und machen Kinder. Wer mit 30 noch nicht verheiratet ist, wird halb mitleidig und halb vorwurfsvoll betrachtet. Es ist in Mumbai so voll, dass man sich zur Rushhour in die Metro prügeln muss, um einen Platz zu erlangen. Geschätzt laufen hier pro zehn Quadratmeter etwa fünfzehn Mal mehr Menschen rum als in Berlin.

Mumbaier Slumkatze

„Behind the Beautiful Forevers“

Wer Näheres über Mumbai erfahren will, sollte „Behind the Beautiful Forevers“ der amerikanischen Pulitzerpreis-Trägerin Katherine Boo lesen. Das Buch liest sich wie ein grausamer, spannender, detailreicher Slum-Roman und spielt in Anawadi, einer weiteren Flughafen-Siedlung, nicht weit von Sahar Village. Nur: Es ist keine Fiktion. Boo verbrachte Jahre in dem Slum, den einst tamilische Bauarbeiter im Sumpf gründeten, den sie trocken legten.

Boo schrieb das Elend der Bewohner auf, die sich von Müllsammeln rund um den Flughafen ernähren ­­– für ein Kilo Papier kriegt man immerhin rund 12 Cent, die Ärmsten ohne Dach über dem Kopf schlafen auf ihren Müllbergen. Und sich dann auch noch mit neidischen Nachbarn, korrupten Polizisten und Richtern herumschlagen müssen.

Zusammen mit Arjun, dem Torwart, besuchte ich das mittlerweile berühmt gewordene Anawadi.

Und es hat sich was getan nach dem Bucherfolg: Der Schlamm-Dorfplatz ist jetzt gepflastert. Der Fäkalien-See, in dem Fischer noch Lebewesen fingen, hinter einer hohen Blechwand einer Flughafen-Baustelle gewichen. Und die Familie des Helds, des jungen muslimischen Müllhändlers Hussein, ist aus der Bröckelstein-Hütte am Platz weitergezogen. In ein richtiges Haus, sagt eine Nachbarin. Kleine Schritte, aber es geht voran.