Summer in the City
Jetzt ist Sommer. Da gibt es nichts zu meckern. Da wird jeder Biergarten zum Wallfahrtsort und die Wahl der Eissorte eine Frage des Stils. Eine kleine Hymne auf die Jahreszeit in Berlin.
Sommer ist Samstag. Die Arbeit schrumpft, die Krägen sind offen, jede rotwangige Frucht präsentiert sich als Vorschein vom Paradies. Es ist noch was zu tun, dies und das, aber auf dem Weg dahin liegen Biergarten, Eisdiele, ein Poser-Café. Wer jetzt noch arbeiten muss, findet eine Lösung. Wer jetzt den Sommer meilenweit flieht für einen anderen, der hat sich verrechnet. Jeder Tag lebt sich wie in einer Postkarte, hell, glänzend – eine Angeberei, dem die Worte fehlen.
Die Goldelse döst, der Fächer fächert. Doch das Schwitzen wird völlig falsch bewertet. Es ist eigentlich das Gefühl, das man auch auf dem Trimmrad hat, nur ohne Anstrengung. Endlich spürt man sich, seinen Körper, auch so.
Der Sommer geht mir durch und durch wie ein Schwips. In der Goethestraße kaufe ich Krawatten und Tee – ich brauche sie nicht. Jedes Sommerkleid erscheint mir wie ein Bild von Monet. Und ich vermisse das Theater nicht, das Pause macht und mich nicht stundenlang anbrüllen kann.
Vielleicht geht es auch den anderen Menschen in der Stadt so. Den Kindern ist sie Erfüllungszeit: Sie tragen jede Waffel Eis wie eine Trophäe. In dieser Hundeatemhitze müssen die Eltern jedem Drängen nachgeben, wenn sie nicht Gefahr laufen wollen, dass da auf Twitter ein Zeichen gesetzt wird gegen sie mit dem Hashtag #immermindestenszweikugelneis.
Und noch ein Wunder geschieht: Jeder Trauerkloß der Stadt schmilzt, jeder Miesepeter kapituliert. Sie schauen weniger verdrossen und nicht mehr so, als warteten sie im Regen auf den Schienenersatzverkehr. Vielleicht sind es auch Touristen, die ihre schicken Pornosonnenbrillen ausführen, ganz glücklich, ganz zufrieden. Nur ein wenig eingestaubt zwischen den Zehen flappen sie in ihren Flipflops durch klimatisierte Boutiquen, schmatzen sie in ihren Schlappen über die Berlins Boulevards auf der Suche nach den sagenhaften Biergärten, den phantastischen Eisdielen und dem noch unbekannten angesagten Poser-Café.
Vor mir steht ein älterer Herr, zeigt selbstbewusst seine eingewachsenen, muschelkalkschrundigen Fußnägel in der Männersandale und liest mein Gesicht; er sagt: „Ich weiß, dass ich scheele Blicke ernte, weil mein Körper nicht dem Klum’schen Standard entspricht. Aber das macht mir nix. Perfekte Prinzenbadfigur? Das ist doch Schwachsinn. Jeder Körper ist schön. Gerade der ältere.“
Der Schwips sitzt überall. Aus dem Rauch der abendlichen Grillwürste erklingt ein Halleluja. Kreative Tattoos, endlich entkleidet von zu engen Funktionshemden, unterhalten sich über die Subjektkonstruktion in Zeiten des Neoliberalismus. Wenn es im Holz knackt, dann ist es die Polizei, die mit dem Wasserwerfer die Not der Natur bekämpft. In der Enklave Schlachtensee liegen die echten, die richtigen Städter im Staubmatsch auf ihren weißen Frotteehandtüchern und sehen aus wie Lachssushis auf dem Reisbett.
Meine Nachbarin steckt jetzt ihre Haare hoch. Nachmittags geht sie in den Keller, wo es kühl ist, und zählt das Eingemachte aus den Achtzigern. „Ihr müsst mehr trinken!“, ruft sie gerade vom Balkon, aber sie meint nicht uns, die wir nach einem schweißgewürzten, kühlen Bier dürsten; sie meint die Vögel, die ihre Tasse Wassers verschmähen. Und selbst für die Mückenlarven ist das alles zu wenig. So kriegen es die Blumen, die längst vertrocknet sind.
Das Herz der Stadt ist der Dschungel. Langsam beginnt sie wie das Kamelgehege im Zoo zu duften. Und ich werde bei der Suche nach einem Weizen einen Sinatra-Song nicht los. Klar, dass der Mann in der Wüstenstadt Las Vegas seine größten Erfolge feierte. In dem Moment, als ich anfangen will zu singen, überfährt mich fast ein riesiger Schwede auf seinem winzigen Chinesenrad. Auch er muss den Schwips haben, denn er nimmt die Fast-Kollision ganz locker. Vielleicht ist er noch hypnotisiert vom Blutmond, den jeder zelebrierte, der keine Ausrede hatte.
An diesem Punkt, an dem ich keinen Platz finde in den affengeilen Biergärten, den ausverkauften Eisdielen und taften Poser-Cafés, durchfährt mich die Erinnerung an eine stille Stadt im Sommer, an eine halbleere Stadt, mit einem warmen Licht von Sonnenuntergängen, einer milden Brise Wind in den wispernden Straßen und magischen Glühwürmchennächten in den Gärten und Parks, als das Leben ganz lang und ganz groß war. Bevor sich die Spinnen ins Haus stehlen, die kommende Kälte ahnend.
Wer vom Wetter redet, kann vom Klima nicht schweigen. Aber davon rede ich jetzt nicht, ich rede vom Sommer, hier, in der großen Stadt…