Das Wort Atom geht in Deutschland nur mit Katastrophe zusammen, nicht aber mit Energie. Angst und Abwehr sitzen bei diesem Thema so tief, dass sogar sonst seriös arbeitende Medien ihre Standards vergessen.

Nach der Atomkatastrophe von Fukushima, die nur in Deutschland 20.000 Tote verursachte und in Wirklichkeit Tohoku-Tsunami heißt, dessen 20.000 ertrunkene, erschlagene und vermisste Opfer Japan bis heute betrauert, schien die Kernenergie in Deutschland erledigt. 

Eine eilends eingesetzte „Ethikkommission für eine sichere Energieversorgung“, der vor allem Kirchen- und Gewerkschaftsvertreter sowie Geisteswissenschaftlern, aber keine Atomexperten angehörten, befürwortete den Atomausstieg, der von der Bundesregierung in Höchstgeschwindigkeit beschlossen und in die Wege geleitet wurde. Doch angesichts der sich nun zeigenden Folgen der Energiewende – Deutschlands CO2-Ausstoss sinkt im Vergleich zu zahlreichen anderen Ländern nur im Zeitlupentempo – gibt es Menschen mit Verantwortungsbewusstsein, die dafür plädieren, den Atomausstieg zu stoppen und stattdessen Kohlekraftwerke sofort stillzulegen. Ihr Ziel: Den CO2-Ausstoß so schnell wie möglich und so wirksam wie möglich zu verringern.

Pseudoexperten!

Zu diesen Menschen gehören Nuklearexperten wie Rainer Moormann und Anna Veronika Wendland – beide ehemals in der Wolle gefärbte AKW-Gegner. Ihre Position haben sie hier dargelegt.

Moormann arbeitete fast vier Jahrzehnte am Kernforschungszentrum Jülich und machte sich einen Namen als Kritiker der Atomindustrie („Demagoge, der sicherstes AKW weltweit in den Schmutz gezogen hat“). Anna Veronika Wendland ist Technikhistorikerin und arbeitet zur vergleichenden Geschichte und Gegenwart der Reaktorsicherheit. Sie arbeitet dazu seit Jahren in Kernkraftwerken und hat jahrelang in der Ukraine gelebt und geforscht, unter anderem auch in der Gegend von Tschernobyl. Die Konfrontation mit der Kernenergie aus erster Hand hat sie über die Jahre von einer Atomgegnerin zur Kernenergie-Befürworterin gemacht. Ihre Publikationsliste und ihr Lebenslauf sind leicht zugänglich.

Moormann und Wendland haben lange auf Twitter und bei anderen Gelegenheiten gestritten, fanden aber schließlich zusammen, weil sie angesichts des Klimanotstandes radikale Schritte für dringend notwendig hielten – auch unkonventionelle Schritte.

Man sollte meinen, so gehen Streit und Dialog.

Atomlobby!

Dass oberflächliche Diskutanten das alles nicht sehen wollen und reflexartig „Atomlobby“ rufen (Spoiler: Es gibt gar keine Atomindustrie in Deutschland mehr) – geschenkt. Dass andere sich Argumente sparen und auf die Suche nach Material für ad hominem-Attacken (hat mal mit dem oder der geredet oder für dies oder das geschrieben oder kriegt Beifall von X und Y) – ebenfalls geschenkt.

Anders liegt der Fall, wenn Journalistinnen und Journalisten so etwas tun. Und noch schlimmer ist es, wenn das in einem so hoch angesehenen Medium wie „Übermedien“ passiert.

Vor wenigen Tagen beschäftigte sich dort die Autorin Daniela Becker sich mit einem Mitte März veröffentlichten Podcast der Tagesschau mit dem Titel „Zurück zur Atomkraft? Was dann?“. In ihrem Beitrag „Leider ausgestrahlt: Der Atom-Podcast der ‚Tagesschau‘“ stört sie sich vor allem daran, dass dort „diese Frau“ Wendland zu Wort kommen konnte:

„Doch dann habe die Frau, die als Technikhistorikerin vorgestellt wird, recherchiert, ein Buch geschrieben – und sei zur AKW-Befürworterin geworden. Wegen des Klimaschutzes. Potzblitz! Was für eine Wendung.“

Dann kommen die ad hominem-Vorwürfe gegen unsere Autorin  (hat mal bei EIKE … EIKE AfD-nah) und sie wird als angebliche Expertin vorgestellt, in dem das Wort Expertin in Anführungszeichen gesetzt wird. Wie absurd das alles ist, zeigt z. B. dieser Artikel auf unserer Plattform oder die Tatsache, dass Wendland seit Jahren dem Fachbeirat Europa/Transatlantik der Böll-Stiftung angehört. Nach Protesten unserer Autorin hat „Übermedien“ ersteres inzwischen richtiggestellt und zweites geändert.

Denunziation als Methode?

Doch nicht die Details, das ganze Stück sollte richtiggestellt werden. Die „Übermedien“-Autorin hat es komplett versäumt, eine Recherche anzustellen, oder sie hat sich ausschließlich auf der ohne Impressum betriebenen Denunziationsplattform Atomkraftwerkeplag „informiert“ – sonst wären ihr Qualifikation und Publikationsliste von Anna Wendland nicht entgangen.

Möglicherweise hat Becker diese Fakten aber auch bewusst unterschlagen. Denn erstens hat sie zwar die ARD wegen des Podcasts kontaktiert und deren Stellungnahme in ihren Artikel eingebaut, es zweitens aber unterlassen, dasselbe mit unserer Autorin zu tun, getreu dem Motto eines alten Boulevardzeitungsveteranen: „Lass Dir eine gute These niemals durch die Recherche kaputt machen!“. Ein Telefonat mit Wendland wäre ihrer Absicht, die Expertin für Atomkraft als „Pseudo-Expertin“ in eine Reihe mit COVID- und Klimawandel-Verharmlosern, Impfgegnern und Scharlatanen zu stellen, zuwidergelaufen und hätte ihren Spitzen, Unterstellungen und Vorwürfe die Grundlage entzogen.

„Das Portal klimafakten.de hat einen Merkzettel erstellt, woran man Desinformation identifizieren kann: Pseudo-Experten, Logik-Fehler, unerfüllbare Erwartungen, Rosinenpickerei und Verschwörungsmythen (PLURV). Es treten also zum Beispiel Pseudo-Experten als Gegenpart zu tatsächlichen Fachleuten auf, oder man sammelt aus einem großen Fundus an Daten gezielt jene raus, die zur eigenen These passen – und ignoriert die anderen.“

PLURV bei „Übermedien“

Leider muss man der Autorin des „Übermedien“-Artikels genau diesen Vorwurf machen, denn sie betreibt Rosinenpickerei und verbreitet Verschwörungsmythen: So schrammte Gundremmingen A 1977 keineswegs „nur Sekunden an einem GAU vorbei“ und die Havarien in Tschernobyl und Fukushima waren weder technisch noch von ihrem Sicherheitskonzept her auf die deutschen Anlagen übertragbar, weswegen sie sich auch nur sehr schlecht als Argument gegen die laufenden deutschen Anlagen anführen lassen. Auch verschweigt sie beispielsweise, dass nach den CO2-Bilanzberechnungen des IPCC die Kernenergie gleichauf mit der Windkraft steht. Sie ignoriert auch die aus dem Potsamer Institut für Klimafolgenforschung stammende und in Nature Energy veröffentlichte Studie, wonach die Lebenszyklusemissionen von fossilen Kraftwerken bei 78-110g CO2-Äquivalenten pro Kilowattstunde liegen, die von Kernkraft, Wind- und Solarenergie jedoch bei nur 3,5-12. Die Studie bestimmte die gesamten Lebenszyklus-Treibhausgasemissionen einer Reihe von Stromquellen bis zum Jahr 2050 und zeigt, dass der Kohlenstoff-Fußabdruck von Solar-, Wind- und Kernkraft um ein Vielfaches geringer ist als der von Kohle oder Gas mit Kohlenstoffabscheidung und -speicherung (CCS). Dies gilt auch nach Berücksichtigung der Emissionen während der Herstellung, des Baus und der Brennstoffversorgung.

Aber vielleicht arbeitet die „Übermedien“-Autorin – sie „saß als Kind im Fallout von Tschernobyl und befürwortet den Atomausstieg“ und wuchs vermutlich mit Gudrun-Pausewang-Büchern auf – auch nur ihr Kindheitstrauma auf? Betroffenheit und tiefsitzende Ängste sind ernst zu nehmende Probleme, aber sie haben nichts im Journalismus zu suchen (es sei denn, sie sind das Thema eines Stücks) und sollten nicht dazu verleiten, sich an Menschen abzuarbeiten, die sich an Fakten statt an Gefühlen orientieren.

Die Salonkolumnisten-Redaktion sieht einer Stellungnahme der „Übermedien“-Redaktion mit großem Interesse entgegen.