Einst ein Erfolg rot-grüner Reformpolitik, ist das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) bei den Grünen heute ungefähr so beliebt wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bei der AfD. Eine kleine Spurensuche.

Bei der Behauptung von Christian Meyer, dem amtierenden Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz in Niedersachsen, dass man laut dem Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) „kübelweise Glyphosat“ trinken könne, handelt es sich um eine Lüge. Eine Lüge des Politikers von Bündnis 90/Die Grünen, für deren „Wieso? Weshalb? Warum?“ man einige Jahre zurückgehen muss. Bis ins Jahr 2000, dem Beginn der BSE-Krise.

Damals wurde von der Politik zunächst unterschätzt, welche Risiken von BSE ausgehen. Es konnte weder seriös bestimmt werden, wie viele Rinder BSE haben, noch konnten tragfähige Aussagen über die Gesundheitsgefährdung für die Bevölkerung durch die potenziell durch BSE übertragene Creutzfeldt-Jakob-Krankheit getroffen werden. Die einen (Bauernverband etc.) sagten so, die anderen (Verbraucherschützer etc.) so. Ein Krisenmanagement, das anfangs so chaotisch und auf Blindflug verlief, dass die damalige rot-grüne Koalition unter Gerhard Schröder eine Kabinettsumbildung vollzog: Gesundheit ging von den Grünen an die SPD, Landwirtschaft und Verbraucherschutz von der SPD an die Grünen; das BSE-Krisenmanagement lag von nun an vor allem in der Hand der neu ernannten Ministerin von den Grünen, Renate Künast.

Kurzfristig ging es Künast darum, den mit BSE infizierten Rinderbestand aus dem Verkehr zu ziehen, langfristig wollte sie Strukturen schaffen, mit denen ähnliche Krisen bei der Lebensmittelversorgung möglichst frühzeitig verhindert werden können. Gestärkt werden sollte insbesondere die fachliche Expertise, gesundheitliche Risiken sollten erkannt und benannt werden, um präventiv tätig zu werden. Und im Krisenfall (wenn dieser sich schon nicht hundertprozentig verhindern lässt) sollten damit wenigstens tragfähige Informationen zur Verfügung stehen, ein künftiger „Die einen sagen so, die anderen so“-Blindflug wie bei BSE-Krise sollte unterbunden werden.

Nackte wissenschaftliche Expertise

Um das zu bewerkstelligen, hat Künast schließlich 2002 im Rahmen der Neuordnung des gesundheitlichen Verbraucherschutzes und der Lebensmittelsicherheit das bestehende Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin (BgVV) in drei eigenständige Einheiten überführt, der Bundesforschungsanstalt für die Viruskrankheiten der Tiere (BFAV), dem Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) und schließlich – jetzt wird es spannend – dem Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR). Gewollt war eine klare Trennung in Risikobewertung und Risikomanagement, seit Künast obliegt dem BfR die Bewertung der gesundheitlichen Risiken, das BVL ist für das Management der Risiken verantwortlich.

Eine Trennung, die potenzielle Interessenkonflikte unterbinden soll; das BfR liefert die nackte wissenschaftliche Expertise, über die Umsetzung zerbrechen sich dann andere den Kopf. Oder, in den Worten von Renate Künast (Rede zur Amtseinführung des Leiters des BfR vom 20. Mai 2003):

„Hinter dieser funktionellen und strukturellen Trennung steckt der Gedanke, dass die Bewertung von Risiken unabhängig erfolgen muss. Erstens unabhängig von politischen Erwägungen, zweitens unabhängig von wirtschaftlichen Interessen und drittens auch unabhängig von den Anforderungen des Krisenmanagements. Wer Risiken bewertet, muss in erster Linie zwei Dingen verpflichtet sein: Den Grundsätzen der Wissenschaft und der Verantwortung gegenüber den Menschen. […] Die Glaubwürdigkeit der Risikobewertung ist das zentrale Kriterium zur Wiedergewinnung des Verbrauchervertrauens. Und die Glaubwürdigkeit des BfR wird auf seiner Unabhängigkeit basieren.

Und unabhängig ist das BfR:
1. Es ist frei vom Zwang, die erkannten Risiken gleichzeitig auch managen zu müssen.
2. Es ist keinen anderen Kriterien außer denen der Wissenschaft verpflichtet.
3. Und es ist organisatorisch und finanziell weitgehend unabhängig: als eigenständige
Anstalt des öffentlichen Rechts – mit einem eigenen Verwaltungshaushalt.“

Neben der Trennung der Zuständigkeiten hat Künast zwei Prinzipien hochgehalten: Wissenschaftlichkeit und Unabhängigkeit. Ein Ansinnen, das sie gegen alle Widerstände durchgesetzt hat. Ganz gleich, was man ansonsten von Renate Künast hält, sollte man doch anerkennen, dass sie erfolgreich war, die von ihr geschaffenen Strukturen haben schließlich bis heute Bestand. Und das aus guten Gründen, das BfR hat zwar ein etwas preußisches Dienstverständnis entwickelt, ist nicht wirklich sexy, wird aber in der Wissenschaftscommunity als unabhängige wissenschaftliche Instanz wahrgenommen.

„Grün wirkt“, auf das BfR mit seinen 855 Mitarbeitern (darunter 345 Wissenschaftler) könnten die Grünen eigentlich stolz sein, ist es doch „ihr Kind“; eine der Erfolgsgeschichten der rot-grünen Reformpolitik, die bis heute Bestand hat. Stattdessen sind die Grünen dem BfR in einer derart herzlichen Abneigung verbunden, wie man es eigentlich eher von der AfD und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) erwarten würde, Lügen wie die eingangs zitierte Behauptung von Christian Meyer inklusive. Der Grund hierfür liegt jedoch nicht beim BfR, sondern bei den Grünen.

Sorgen und Ängste

Seit 2002 haben sich die Grünen auf vielen Politikfeldern auf die Mitte zubewegt, sind moderater geworden. Nicht jedoch bei Lebensmittelfragen, da hat die Partei eine Radikalisierung durchlebt. Sobald Lebensmittel ins Spiel kommen, sind Sorgen und Ängste der Dreh- und Angelpunkt der grünen Politik; die Partei artikuliert mittlerweile Positionen, die deutlich von denen des Jahres 2002 abweichen. Und das insbesondere bei der Risikobewertung, wodurch der Konflikt mit dem BfR vorprogrammiert ist.

Sorgen und Ängste, die auf Kontrollverlusten basieren. Stoffe wie etwa Fipronil, die im Verdacht stehen, Krebs zu erzeugen, lassen sich in der Regel nicht riechen, nicht schmecken, nicht sehen; mit menschlichen Sinnen sind sie nicht erfahrbar. Die womöglich tödliche Gefahr kommt unsichtbar daher, das Individuum ist abstrakten Kontroll- und Qualitätssicherungssystemen ausgeliefert, ohne selbst für die eigene körperliche Unversehrtheit sorgen zu können. Die damit einhergehende Verunsicherung der besorgten Bürger wird von den Grünen kanalisiert, indem sie lautstark eine Null-Toleranz-Politik fordern, die menschlich nur allzu verständlich ist. Stoffe wie Fipronil haben im Frühstücksei schließlich nichts verloren, die Scheiße gehört da einfach nicht hin.

Problematisch wird diese Sicht jedoch, sobald Wissenschaft ins Spiel kommt. Die moderne Messtechnik ist mittlerweile so gut, dass Wissenschaftler fast alles in fast allem nachweisen können, etwa Kokainrückstände auf neun von zehn Euronoten, die in Deutschland im Umlauf sind. „Ob“ etwas gefunden wird, ist daher für die wissenschaftliche Risikobewertung nicht entscheidend, sondern die Konzentration des gefundenen Stoffes. Und damit die Menge, die ein Mensch beim Verzehr zu sich nimmt, bei Fipronil liegt zum Beispiel die akute Referenzdosis (ARfD) bei 0,009 Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht, eine dauerhafte Überschreitung dieses Wertes könnte gesundheitliche Risiken nach sich ziehen (Paracelsus‘ überstrapazierten Spruch von der Dosis und dem Gift kann sich an dieser Stelle jeder selbst denken).

Beim Fipronil-Skandal war es übrigens die ansonsten so besonnene und moderate Katrin Göring-Eckardt, die das BfR mit den Worten angriff, dass es „unerträglich [sei], wie das dem Bundeslandwirtschaftsministerium unterstehende Bundesamt für Risikobewertung abwiegelt.“ Dabei hat das BfR gar nicht abgewiegelt, das Bundesinstitut kam bei der gesundheitlichen Bewertung nur zu dem Schluss, dass es unter bestimmten Umständen eine Grenzwertüberschreitung geben könne, die jedoch nicht „zwangsläufig eine konkrete Gesundheitsgefährdung durch den Verzehr von Hühnereiern“ nach sich ziehen muss, sondern anzeigt, „dass ein gesundheitliches Risiko bei der geforderten Sicherheit für Kinder nach Verzehr dieser belasteten Hühnereier möglich ist.“ Das Problem: Die Risikobewertung des BfR war zwar wissenschaftlich sauber, stimmte jedoch nicht mit den deutlich heftiger ausfallenden Sorgen und Ängsten überein, die sich die Grünen (und Teile der Bevölkerung) um Fipronil gemacht haben. Auf der einen Seite eine wissenschaftliche Risikobewertung, auf der anderen Seite eine gefühlte Risikobewertung, ein Konflikt, der sich praktisch nicht auflösen lässt.

Dieser fast schon klassisch anmutende „Ratio vs. Emotio“-Konflikt ist es, der die Atmosphäre zwischen den Grünen und dem BfR so vergiftet. Dabei sind dem BfR ausgerechnet durch die noch von Künast festgeschriebenen Prinzipien die Hände gebunden; würde sich das BfR stärker auf die Grünen zubewegen und Sorgen und Ängste in die Risikobewertung einfließen lassen, würde das BfR nicht nur die Grundsätze der Wissenschaft verletzen, sondern auch die eigene Unabhängigkeit. Also das verletzen, was für die Grünen von 2002 noch von entscheidender Bedeutung war.

0,000000000000001 g

Der härteste und neben der Gentechnik auch langlebigste Konflikt zwischen den Grünen und dem BfR tobt jedoch um das Totalherbizid Glyphosat, wobei der Grundkonflikt der Gleiche ist. Dem Umweltinstitut München (eine als gemeinnütziger Verein eingetragene NGO) gelang es etwa, Glyphosat im Bier nachzuweisen. Was die Grünen dazu veranlasste, nach einem Glyphosat-Verbot zu rufen, ein Vorgehen, das angesichts ihrer Null-Toleranz-Politik durchaus auch Sinn ergibt, zudem warfen die Grünen die ebenfalls berechtigte Frage auf, was zum Teufel ein Totalherbizid überhaupt im Bier zu suchen hat. Von wegen: Deutsches Reinheitsgebot und so.

Aus wissenschaftlicher Sicht war dies jedoch eine komplette Nullnummer, da Glyphosat mit der modernen Messtechnik in fast allen Lebensmitteln nachgewiesen werden kann – das jedoch in einer so geringen Konzentration, dass keine Gesundheitsgefährdung besteht. Oder, wie es das BfR formuliert hat: „Rückstände von Pflanzenschutzmittelwirkstoffen sind in Lebensmitteln in vertretbaren gesetzlichen Konzentrationen erlaubt und erwartbar. Die sich stetig verbessernde, immer empfindlichere Analytik führt dazu, dass Stoffe inzwischen fast überall nachweisbar sind – mittlerweile auf der Basis von einem Femtogramm (0,000000000000001 g). Deshalb ist das Vorhandensein eines Stoffes beziehungsweise Rückstandes noch kein Zeichen für eine gesundheitliche Gefährdung. Bei der Meldung zu Glyphosat in Bier wurde das eigentliche Gesundheitsrisiko übersehen: in diesem Fall die Aufnahme von Alkohol. Alkohol ist in viel kleineren Mengen krebserregend und reproduktionstoxisch.“

Mehr als 1.000 Liter Bier müsste ein ausgewachsener Mensch pro Tag trinken, um sich mit Bier der für Glyphosat ausgewiesenen akuten Referenzdosis (ARfD) zu nähern; ein aussichtsloses Unterfangen, über das man durchaus lachen darf. Nicht mehr witzig hingegen ist die Verhärtung des Konfliktes, radikale Ökoaktivisten (worunter Katrin Göring-Eckardt & Co. sicher nicht fallen) haben bereits fleißig Morddrohungen ans BfR geschickt, weshalb die Bundesregierung aus Fürsorgepflicht die personenbezogenen Daten der beteiligten Forscher nicht einmal mehr bei parlamentarischen Anfragen herausrückt. Es ist der nackte Hass gegen The experts, der sich dort in einer Mischung aus Kontrollverlusten, Sorgen und Ängsten und dem verunglückten Denken Bahn bricht.

Die vom BfR bei der Gesundheitsgefährdung von Glyphosat angewandte akute Referenzdosis (ARfD) beläuft sich übrigens auf 0,5 mg/kg Körpergewicht. Ein erwachsener Mann mit einem Gewicht von 100 Kilogramm darf also laut BfR 0,05 Gramm Glyphosat am Tag zu sich nehmen, was bei einer Dichte von 1,7 g/cm³ rund 0,029 cm³ Glyphosat sind. Und eben nicht „kübelweise trinken“, wie es Christian Meyer dem BfR unterstellt hat – bei einer handelsüblichen Kübelgröße von 10 Litern wären das schließlich rund 355.000 vom BfR als zulässig erachtete Tagesdosen. Aber wenn man sich selbst bei den Guten sieht und sich dabei erst einmal hingebungsvoll auf seinen Gegner eingeschossen hat, ist offenbar alles erlaubt.