Der Schriftsteller Botho Strauß hat uns lange Zeit in seinen Texten Beschreibungen und Gedanken geschenkt, die uns manches Mal die Augen öffneten. Jetzt hat er sich so weit verstiegen, dass es wie ein Abschied wirkt. Ein Bedauern.

Es gibt kaum einen Autor deutscher Zunge, der dieser vertrackten Sprache, von der Mark Twain einmal behauptete, sie entschlüpfe jedem Zugriff, solch wunderschöne Sätze abgerungen hat wie Botho Strauß. Seit seinem ersten Buch Mitte der siebziger Jahre schenkt er uns in einigermaßen regelmäßigen Abständen Prosa, die nicht immer leicht, aber doch dem Horazschen Gedanken des „prodesse et delectare“ aufrichtig verpflichtet schien: sie nutzte und erfreute. Um nur drei Bücher als Beleg zu nennen: Da sind die Paare Passanten, die – unvergesslich – mit einem „Psst!“ begannen. Wie bei vielen großen Künstlern ist in diesem Frühwerk schon der ganze Botho Strauß enthalten: wir finden erzählerische Perlen neben philosophischen Postkarten, nämlich die erhellend beschriebene Alltagsszene, in der uns die Augen aufgehen, wie auch die Selbstvergewisserung und Selbststilisierung in Kurztraktaten, philosophischen „Shots“, die merklich ihren Ausgang in der Lektüre der Altvorderen haben.

Etliche Jahre später zeigte er uns Die Fehler des Kopisten, ein Werk der verspäteten Lebensmitte, das als Erinnerungsbuch für den Sohn angelegt ist, ohne dass der Autor aus seiner Haut schlüpfen und seinem kommenden Leser irgendwie mit leichter Schreibhand entgegenkommen konnte. Aber warum auch? Es war ja, wie alle Strauß-Bücher, gegen die Gesellschaft geschrieben. Und gegen deren Geplapper, das weiß der Autor, hat er ohnehin einen schweren Stand beim Ringen um die Aufmerksamkeit seines Sohnes. Und Nachgeben gilt nicht. Bei dem Versuch einer poetischen Schutzimpfung seines Kindes gelangen Strauß, um Augenblicke für die Erinnerung des späteren Erwachsenen festzuhalten, zauberhafte Beschreibungen von seinem neuen Wohnort wie diese: „Die lotrechte Stille hält an. Kein Wehen, kein Flüstern. Die Vögel schreien wie in einem Käfig. Das hohe, regenschwere Gras liegt niedergedrückt in Wirbeln und flachen Strudeln, angehaltenen Wellenkämmen.“

Vor drei Jahren dann ein später Geniestreich: Herkunft. Darin wird die Erinnerung an den Vater zu einem Versuch der Selbsterkenntnis und zum Beweis, wie sehr wir von unserer Herkunft und unseren Vorfahren geprägt sind: „Ich wundere mich, wie diese frühe Prägung nun, da ich längst selber ins ‚Alter des Vaters’ eintrat, langsam, aber unerbittlich ihre Wirksamkeit entfaltet. Die Strenge des Vaters, sogar einzelne seiner Ansichten steigen wie eigner Erfahrungsbestand ins Bewußtsein. Man altert, trotz der sozialen Bedeutungslosigkeit von Tradition, immer noch geradewegs in das hinein, was man einst als rettungslos veraltet empfand.“ Diese anthropologische Tiefenbohrung ist für die Ganz-im-Heutigen natürlich starker Tobak und widerspricht den gängigen Thesen bzw. Wunschvorstellungen von totaler Befreiung und Autonomie. Aber Strauß hat nie Mainstream produziert, er war immer etwas aus der Zeit gefallen; in vielen Dingen wirkte er wie ein Spätromantiker.

Einsprüche aus der Eremitage

Er hat seine Konterposition zur Gesellschaft, sprich: das „Soziale“, nie angefochten, denn er hat sie gesucht – nicht nur ideell, sondern sogar räumlich, als er sich in den neunziger Jahren entschied, aus Berlin fortzuziehen und in der Uckermark auf einer Anhöhe ein Haus zu bauen, mit weitem Blick über eine Senke und von einem Wäldchen weitgehend geschützt gegen das immerwährende Rauschen einer Autobahn. Es ist eine Position, die der Gesellschaft nicht bedarf, aber diese selbst kann dieses Gegenüber gebrauchen, weil sie – wir kennen es alle – leicht untergeht im Wildwasser aus Werbung und Diskursen, Informationen und Nachrichten, Tweets und Likes, dieser – wie Strauß es nennt – „sekundären Welt“. Und Strauß hat aus seiner Eremitage regelmäßig diese notwendigen Einsprüche geliefert, um unseren Kopf über Wasser zu halten und ihn dann auch noch geradezurücken. Trotzdem hat er dafür viel Haue bekommen von der sogenannten Öffentlichkeit und den zeitgenössischen Empörungsverwaltern. Aber es hat beispielsweise bis heute noch niemand erklären können, was an seiner Feststellung falsch sein soll, dass wir es nicht mehr verstehen, wenn zum Beispiel jemand in Zentralasien es als politischen Auftrag begreift, seine Sprache zu erhalten wie wir unsere Gewässer. Zu viele verstehen es jedenfalls immer noch nicht. Für Strauß liegt das Eigene nicht nur in der Natur vor der Haustür – und ein See ist ihm gewiss nicht nur ein Trinkwasserreservoir –, sondern auch in der Kultur, in der Sprache, in dem, was man „Heimat“ nennen könnte. Man muss tatsächlich den eklatanten Widerspruch im eigenen Kopf bis an die Schmerzgrenze unterschlagen, wenn man die Kultur, die Identität, die Sprache eines Indianerstammes im Amazonasgebiet für schützenswert hält, hier aber die Forderung nach dem Vorrang deutscher Sprache für rassistisch, zumindest aber für „rechts“. Und hat folgendes Diktum von Strauß aus Anschwellender Bocksgesang (1994) sich nicht schon vielfach als korrekt erwiesen? „Wenn wir Reichen nur um minimale Prozente an Reichtum verlieren, so zeitigt das in unserem reizbaren, nervösen System nicht nur innenpolitische Folgen, sondern vor allem (…) den impulsiven Ausbruch von Unduldsamkeit und Aggression.“

Also sprach Zarathustra

Strauß hat über Jahrzehnte so etwas wie die Rolle eines Zarathustra eingenommen, der von Zeit zu Zeit mit seinen Texten hinabstieg in die Ebene, um, wie bei Nietzsche, seine Weisheit auf den Medienmarktplätzen mit den Menschen zu teilen. Doch Erfolg war ihm nicht beschienen, wenn auch des Feuilletons Aufmerksamkeit. Das ist in letzter Zeit einigermaßen überraschend, denn leider hat bei Strauß die Selbststilisierung, die, gewiss, immer Teil seines Schreibens, seiner Poetik war – und da merkt man, dass er aus der Theaterwelt kommt –, solcherart überhand genommen, dass ein Gehalt kaum noch vorhanden ist, an dem der Leser seine eigenen Gedanken, die auf die Zukunft gerichtet sind, anschließen kann. Besonders deutlich wird das bei seinem jüngsten Text in der ZEIT, der den Titel hat „Reform der Intelligenz“. Mal abgesehen davon, dass das Reden über die fehlende oder falsche Intelligenz anderer Leute immer etwas Eingebildetes, ja, Arrogantes hat, weil es einen selbst unausgesprochen ausnimmt, treibt Strauß die Selbstinszenierung durch Selbstisolierung auf die Spitze, indem er eine andere Intelligenz fordert, aber nichts weiter anzubieten hat als die Rollenfigur des Reaktionären. Es war immer eine Vorliebe von Strauß, paradigmatische Typen wie Unbeholfene oder Idioten zu skizzieren und darin mit Gewinn einen Anderen zu entwerfen, der sich von der Masse abhebt, eine echte „Privatperson“, das letzte Individuum, meinetwegen auch „der letzte Deutsche“. Aber auch der sollte etwas tun, das immer noch nützt. Dem will Strauß, wohl als letzte Stufe einer Verwandlung vom Intellektuellen zum Reaktionär, sich nun endgültig verweigern. Diese letzte Figur – wenn auch schon früh angelegt in der Prosa und den Essays – ist der „poetische Myste“, dessen verschlüsselte Metaphorik schwer zu hacken sei. Damit liefe dieser Autor geringe Gefahr, seines geistigen Eigentums beraubt zu werden. Das mag sein. Aber er wäre in einer ausschließenden Selbstbezogenheit gefangen, gleich einem Orden, der nur ein Mitglied kennt.

Strauß meint, dass wir die großen Skeptiker lesen, weil sie uns „von der großen menschlichen Kraft der Negation überzeugen, dank derer uns das Denken von den Dingen befreit“. Aber er irrt sich. In jedem Skeptiker lebt ein großer Bejaher. Darum lesen wir sie. Das von den Dingen befreite Denken, dem Undurchdringlichen und dem Schweigen geopfert, tendiert zur Esoterik und zu einer illiberalen Selbstbezogenheit.

Nietzsches Zarathustra begibt sich schließlich auf die Suche nach Gleichgesinnten. Es ist letztlich gut, im Gewimmel zu bleiben, denn die Einsamkeit ist nicht immer die beste Voraussetzung für klare Gedanken. Gerade in Zeiten, wo es nicht eines rechten oder eines linken Denkens bedarf, sondern eines kritischen Bewusstseins.