Irena Breznás literarische Reportagen „Wie ich auf die Welt kam“ sind voller Empathie und Genauigkeit – und ein Geschenk an die deutsche Sprache.

Als am 21. August 1968 sowjetische Panzer in die damalige Tschechoslowakei rollten, um den Prager Frühling niederzuschlagen, war unter den Okkupanten auch ein 18jähriger Usbeke namens Muchammad Salich, der mit seiner Einheit nach Bratislava beordnet worden war. „Alles erschien ihm wie ein Märchen: Er war überwältigt, in einer europäischen Stadt mit einer richtigen mittelalterlichen Burg zu sein – darinter lag eine Wiese mit hohem Gras in einer warmen Sommernacht. Er war schon damals Dichter. Den ersten Schmerz und die erste Scham, denen dann weitere folgten, empfand er, als die Soldaten das Gras zertrampelten und sich spuckend darauf einrichteten. Noch wusste er nicht, dass er ein Besatzer und kein Befreier war, doch nach der Entweihung der Ruhe auf der Wiese fing er an, es zu erahnen.“

Während jener dramatischen Tage entschied der Schweizer Bundesrat, dreizehntausend Tschechoslowaken Asysl zu gewähren – darunter auch der 1950 geborenen Irena Brezná und ihren Eltern. Die damals 18jährige lernte dann in Basel Deutsch, begriff jedoch eines sehr schnell: „Es gibt Länder, wo man sich durch Schlagfertigkeit und Sprachfarbe die Gunst des Gastlandes sichert, in der Deutschschweiz aber sind die Fremden eher willkommen, wenn ihre Sprache farblos und gebrochen ist. Ein allzu glattes Hochdeutsch wird als Überlegensheitsgebärde dechiffriert.“ Heute ist Irena Brezná eine der bekanntesten Schriftstellerinnen ihrer zweiten Heimat, für einen ihrer Romane sogar mit dem renommierten Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet.

Genaue Beobachterin und emphatische Zeitzeugin

Der hier vorliegende Band „Wie ich auf die Welt kam“ versammelt nun literarische Reportagen, autobiographisch grundiert und geschrieben in einem wunderbaren, poetisch-genauen Deutsch, das weder „allzu glatt“ noch „farblos“ ist. Außer der Stilistin ist hier vor allem eine genaue Beobachterin und emphatische Zeitzeugin zu entdecken: Viele Jahrzehnte nach jenem Sommer ’68 traf sie nämlich den einstigen Rekruten Muchammad Salich wieder, der inzwischen in Frankfurt am Main im Exil lebt und einer der führenden usbekischen Oppositionellen ist.

Es sind die Widerständigen am Rande, die es Irena Brezná angetan haben, so etwa Natalja Gorbanewskaja und Victor Fainberg, die am 25. August 1968 zusammen mit sechs Freunden auf dem Roten Platz in Moskau gegen den sowjetischen Einmarsch in der Tschechoslowakei protestiert hatten – mutterseelenallein und gleich darauf festgenommen, inhaftiert und vom allmächtigen KGB bis an den Rand des Suizids getrieben. Auch sie hat Irena Brezna später getroffen und schreibt über sie: „Wenn heute Natalja und Wiktor durch die Straßen von Bratislava gehen, wünsche ich mir, dass die Passanten sie als Teil unserer Geschichte erkennen, in die sie sich mit ihrer Tat selbst eingeschrieben haben. Ich wünsche mir, dass wir unsere Sinne für das Erkennen von echten Freunden und Freundinnen schärfen.“

Keine wohlmeinenden Phrasen

Nichts an dieser angemahnten Brüder- und Schwesterlichkeit ist sentimentalisch, und nie gehen die reportagehaften Erzählstücke dieses Bandes – ob nun aus Tschetschenien, Guinea oder Weißrussland – in die Falle einer obflächen-„engagierten Literatur“, die es bei wohlmeinenden Phrasen belässt. Denn ganz konkret ist, was Irena Brezna wahrnimmt – so etwa im Frühling 2018 bei den Massendemonstrationen in ihrer Geburtsstadt Bratislava, nachdem dort der regierungskritische Journalist Jan Kuciak und dessen Verlobte einem Mordanschlag zum Opfer gefallen waren. Die jetzigen Proteste erinnern sie an den Mut von ’68, und nicht zufällig stimmten ältere, aber auch jüngere Slowaken ein ganz bestimmtes Lied an. „Es ist jenes Lied, das Marta Kubisova damals gegen die Okkupation der Tschechoslowakei sang. Danach durfte sie nicht mehr auftreten, während ihr Bühnenpartner Karel Gott mit dem Regime paktierte. Heute nun hetzt der gealterte Gott aus Prag mit Verschwörungstheorien gegen Flüchtlinge, gegen Muslime.“

Irena Brezna ist die stille, doch unverzichtbare literarische Chronistin eines menschenrechts-orientierten Europa, das der Schäbigkeit und der historischen Amnesie zu widerstehen versucht.

Ermutigende aktuelle Pointe von dieser Woche: Während bei der Prager Gedenkfeier zur Erinnerung an den 21. August der putin-affine Präsident Zeman durch Abwesenheit glänzte und Ministerpräsident Babis, ein ehemaliger kommunistischer Geheimdienst-Kollaborateur, ausgepfiffen wurde, gab es dann abends am Wenzelsplatz eine berührende Szene: Tausende vor allem junger Tschen und Slowaken waren gekommen, um Marta Kubisova singen zu hören.

 

Irena Brezná: Wie ich auf die Welt kam. In der Sprache zu Hause. Literarische Reportagen. Rotpunktverlag, Zürich 2018, 190 S., geb., Euro 24,-