Was Medienkonzerne von Youtube-Videos lernen können
Länger als fünf Minuten würde online keiner zuschauen, alle paar Sekunden müsse ein Schnitt her, hieß es immer. Dabei scheint es so zu sein: Inhalt und Esprit stechen Technik.
Ich habe 2012/2013 eine journalistische Ausbildung an der Axel Springer Akademie gemacht. Die ist grundsätzlich sehr zu empfehlen, würde ich sagen. Meist gute, motivierte Dozenten, eine nette Atmosphäre, dies das. Und man lernte auch, Videos zu drehen und zu schneiden.
Ich erinnere mich an die Maxime: Mehr als fünf Minuten sollte ein Film im Internet nicht lang sein, sonst gucke das keiner. Am besten mindestens alle zehn Sekunden ein Schnitt, sonst schlafe der Zuschauer ein. Am besten brauche es mehrere hochwertige Kameras, um schneiden zu können.
Verlage, die aufgrund sterbender Print-Zeitungen gezwungenermaßen ins Online-Geschäft drängen, setzen zunehmend auf Videos. Nur dort kann man, so hörte ich, gutes Geld für Werbung verdienen, die vor den Clip gestellt wird. Die oft als nervig empfundenen Banner auf den Online-Seiten sind schwerer zu vermarkten, die Bezahlschranken-Angebote fangen die horrenden Verluste im Zeitungsgeschäft nicht auf.
Also werden regelmäßig mit größerem Aufwand Videos produziert. Da kommen dann ein, zwei Kameraleute, ein Redakteur, manchmal noch ein Regisseur und ein Cutter zusammen, teils werden Leute von außen eingekauft, Ozeane mit dem Flugzeug überquert. Das kostet viel Geld.
Der Ertrag: meist bescheiden. Werden die so aufwendig und teuer produzierten Videos auch auf Youtube gestellt, wo die Zugriffszahlen transparent sind, bleiben die Klickzahlen oft unter 10.000.
Millionenfache Aufrufe, kaum Schnitte
Es gibt allerdings ein Segment auf Youtube, das vieles, was uns damals die Dozenten in der Akademie erzählten, auf den Kopf stellt: Interviews, meist mit Deutschrappern. Es gibt oft fast gar keine Schnitte, gefilmt wird mit Go-Pros oder Handys. Und sie sind bis zu zwei Stunden lang. Und es funktioniert. Sie werden millionenfach geschaut und geliked.
Der Rapper Fler zum Beispiel, über den ein Kollege vor ein paar Jahren eine lustige Glosse schrieb („Altersarmut bei Rappern“), weil in einem Gerichtsentscheid offenbar wurde, dass der schon damals ein Diamanten-Glitzer-Leben propagierende Mann laut Gerichtseinschätzung nur 1200 Euro monatlich verdiente, gilt als Interview-König.
Seine Interviews bekommen regelmäßig mehr Aufmerksamkeit als seine Lieder. Er kann über alles reden, Gott und die Welt, und es ist unterhaltsam. Er philosophiert über Politik, das Leben auf der Straße, Kriminalität, Musikproduktion. Seine Zuschauer lieben es. Er muss es nicht immer so genau mit den Fakten nehmen, kann sich auch mal in ein und demselben Interview widersprechen, etwa, wenn er zunächst Journalisten ermahnt, sie sollten richtig recherchieren, wenn es um ihn geht und sich dann darüber aufregt, dass sie genau das tun.
Vielleicht könnte Fler, bürgerlich Patrick Losensky, in die Politik gehen und einen ähnlichen Effekt wie Donald Trump in den USA erhaschen, der selbst sagt, er könnte jemanden auf der 5th Avenue in New York erschießen und seine Anhänger würden weiter zu ihm stehen.
Fler kann Journalisten bedrohen, sich wie ein Berserker benehmen, wie auf einem Video zu sehen ist, auf dem die Berliner Polizei ihn festnahm, weil er mit seinem dicken Auto (mittlerweile hat er offenbar keinerlei Geldprobleme mehr) ohne Führerschein durch Berlin fuhr, und seine Fans feiern das. Und das stundenlange Interview über diesen Vorfall, das größtenteils ein Monolog ist, wird wieder über eine halbe Million mal geschaut.
Ein anderes Beispiel sind Videos mit dem Ruhrpott-Rapper Manuellsen. Wenn er über eine Stunde lang erzählt, wie er einst in ein Berliner Café kam, wo der Rapper Bushido mit seinem damaligen Schutzpatron Arafat Abou-Chaker saß und ein Streit geklärt werden musste, ist das sehr spannend und unterhaltsam. Manuellsen, ein großer, kräftiger, massiger Mann, sitzt in einem Café im Ruhrpott, es ist heiß, er schwitzt und redet, wütet und lacht und die Leute lieben es.
Auch große Verlage können das
Ein Beispiel, wie ähnliches auch großen Verlagen gelingen kann, ist der Podcast zweier Kollegen. Unter dem etwas sperrigen Namen „Sicherheit für die Ohren“ reden die beiden regelmäßig etwa eine halbe Stunde über polizeirelevante Neuigkeiten aus Berlin. Die beiden sind extrem gut vernetzt, haben viel Hintergrundwissen sowohl von der Polizei als auch aus der Halbwelt und könnten all das niemals in den recht kurzen Texten unterbringen, für die in der Zeitung Platz ist.
Also reden sie sich ihr Wissen gewissermaßen von der Seele und das ist sehr erhellend. Da fällt dann etwa in einem Nebensatz die Info, dass der erfolgreichste deutsche Rapper Capital Bra für seinen letzten Musik-Deal fünf Millionen Euro bekam. Auch besagter Fler ist ein Lieblingsthema der beiden.
Es ist eine Win-Win-Situation. Die beiden können ihre Recherchen ausgiebig darlegen, es macht ihnen offenkundig Spaß und den Hörern auch. Und wenn einige dieser Podcasts schnell und billig mit ein paar Fotos unterlegt auf Youtube gestellt werden, erreichen diese oft hunderttausende Klicks.
Auch wenn es mit einer gewissen Leichtigkeit rüberkommt – unbedingt leicht ist das, was die beiden machen, nicht. Einmal luden sie mich als Gast ein, damit ich erzählen könnte, wie ein Treffen von mir mit dem Berliner Clan-Boss Arafat Abou-Chaker in seinem Hummuscafé verlief. Ich verhaspelte mich und die Kommentare auf Youtube fielen vernichtend und zugegebenermaßen komisch aus. „Til spricht wie ein taubstummer Legastheniker auf Crack“, schrieb ein Kommentator.
Vielleicht kann man aus diesen Beispielen folgenden Schluss ziehe: Inhalt und Esprit stechen Technik. Ob das von großen Verlagen alles so eins zu eins übersetzt werden kann, ist natürlich eine andere Frage.