Dass die Linke in Thüringen stärkste Partei geworden ist, muss kein schlechtes Zeichen für die Republik sein. Denn Bodo Ramelows Linke will keinen Umsturz, sondern ist eine bürgerliche Kraft – und vielleicht die letzte Chance zur Rettung der SPD. Ein Gedankenspiel

Vor 30 Jahren hätte man die SED/PDS verbieten müssen. Doch das brachte die Politik des vereinten Deutschlands nicht fertig – ein Kardinalfehler. Die Gründe dafür spielen heute keine Rolle mehr, man kann Zeit nicht zurückdrehen. Die Folgen spielen aber eine gewaltige Rolle. Denn die weitere Existenz der SED/PDS, Linkspartei … bedeutete einen gewaltigen Startnachteil für die SPD, deren Mitglieder schon bei Gründung der DDR unter der Zwangsvereinigung zur SED zu leiden hatten. Ein nicht geringer Anteil der heutigen tiefen Krise der Sozialdemokratie ist auf diesen Kardinalfehler zurückzuführen. Denn die SPD musste nach der Wende im Osten gegen drei etablierte Parteien antreten, die auf organisatorische Strukturen zurückgreifen konnten. Neben der PDS hatten auch Union und FDP Vorteile, da sie die Apparate der gleichnamigen DDR-Blockparteien nutzen konnten.

Gerade weil es zu keinem Verbot kam, sollte man der Linken 2019 nicht mit Hilfe hysterisch anmutender Rote-Socken-Kampagnen einen Strick daraus drehen, wenn sie dann doch mal, wie in Thüringen, einen pragmatischen, sachorientierten, ja sogar bürgerlichen Kurs fährt. Im Gegenteil: Bodo Ramelow hat das Beste aus einer Partei mit üblen Wurzeln gemacht. Thüringens Ministerpräsident ist keine neuer Ernst Thälmann, er ist der rote Winfried Kretschmann. Das ist auch einigen seiner Genossen suspekt, und es ist eine regionale Ausnahme. Ramelow hat trotz seiner Bundes-Partei und nicht wegen seiner Bundes-Partei gewonnen. Nicht ohne Grund verzichtete er bei vielen Plakaten mit seinem Konterfei auf das Parteilogo. Dieser Ministerpräsident steht eben nicht für eine ewiggestrige Ost-Linke – wobei man ohnehin nicht vergessen sollte, dass im Osten schon seit Jahrzehnten in vielen Kommunen die PDS ff. dieselbe Rolle spielt, die in westdeutschen, konservativ geprägten Regionen die CDU spielt. Erst recht steht Ramelows Linke nicht für die in weiten Teilen durchgeknallt-sektiererische West-Linke, bei der die inflationären AfD-Gleichsetzungen schon eher passen.

Wer sich den Ministerpräsidenten nicht erst im Wahlkampf, sondern schon lange davor ein wenig genauer angesehen hat, sah einen Landesvater, keinen linken Ideologen. Es gibt prominente SPD-Funktionäre, die weiter links stehen als Ramelow. Doch gerade im Westen tut man sich verständlicherweise schwer, das zu sehen. Kein Wunder: Dort prägen ehemalige K-Gruppen-Spinner, Stalinisten, Putinversteher und Politclowns das Gesicht der Linken. Mehr als sein Parteibuch hat ein Diether Dehm jedoch nicht gemein mit Bodo Ramelow, auch wenn man sich das im Ruhrgebiet, Bayern oder an der Nordseeküste nicht vorstellen kann. Dennoch gehört zur Analyse von Politik genau das: sich Dinge genau anzusehen und seine Vorstellungskraft unter die Oberfläche gleiten zu lassen. 

Linke Mehrheiten im Bund

Ungeschickt und inhaltlich falsch bleibt allerdings Ramelows Versuch, die Ost-Seele zu streicheln, indem er ohne Not eine Debatte über den Begriff „Unrechtsstaat“ anzettelte – übrigens gemeinsam mit seiner SPD-Amtskollegin Manuela Schwesig aus Mecklenburg-Vorpommern. Dass dennoch irgendwas an der Linken in Thüringen und nicht an den Thüringern besonders sein muss, lässt sich bei näherer Betrachtung aus dem Wahlergebnis ableiten. Wir haben es eben nicht mit einer Bevölkerung zu tun, die den Extremen – für Ost-Verhältnisse – besonders zuneigt. Stattdessen gilt in Thüringen, was auch für Brandenburg und Sachsen galt: Der rechte Rand ist enorm stark, der Rest verteilt sich auf schwache Grüne, eine schwache FDP – und die Partei des jeweiligen die Mitte repräsentierenden Ministerpräsidenten. Das ist mal die CDU, mal die SPD und diesmal eben die Linke. Genau so waren auch die Wahlkampfveranstaltungen der Thüringer Linken, wenn Bodo Ramelow auftauchte. Wer dort zugehört und dabei die Augen geschlossen hätte, der wäre kaum auf die Idee gekommen, dass er sich bei einem Event einer Partei vom Rand des politischen Spektrums befindet – auch das ein wichtiger Unterschied zur AfD. Wir können also zumindest beim Blick nach links aufhören, uns über ein Bundesland zu gruseln, dessen Wähler die Extreme zu den stärksten Kräften gemacht habe. Die Ramelow-Linke ist damit schlicht falsch beschrieben und charakterisiert. Und es ist nachgerade grotesk, dass in der Wahl-Nachbetrachtung ausgerechnet in Thüringen die Regierungspartei eines durch und durch pragmatischen Ministerpräsidenten mit den Verfassungsfeinden der AfD in einen Topf geworfen wird – während beispielsweise nach der NRW-Wahl 2017 so gut wie niemand auf die Idee gekommen ist, die Stimmen für Linke und AfD zu einer gemeinsamen Extremistenfraktion zu addieren. Dabei wäre dies beim Zustand der Linkspartei an Rhein und Ruhr deutlich naheliegender gewesen als in Thüringen.

Immer wieder wurde in den vergangenen Jahren eine rechnerische, jedoch praktisch nicht nutzbare linke Mehrheit der Bundesrepublik beschworen, die sich ergäbe, wenn man SPD, Grüne und Linkspartei addiert. Diese Mehrheit ist mittlerweile wegen der Malaise der SPD zwar auch nicht mehr sicher, doch der Sonderfall der Linken in Thüringen legt eine spannende Idee nahe, die nicht nur den eingangs erwähnten Kardinalfehler korrigieren, sondern auch einen wesentlichen Schritt zur Vollendung der Wiedervereingung darstellen könnte. 

Was würde es wohl für die Sozialdemokratie bedeuten, wenn sich ihr die Sozialdemokraten aus der Linkspartei anschlössen? So herum – das ist klar – müsste das Manöver schon gefahren werden. Denn die Partei „Die Linke“ wird auch weiter gebraucht werden: Als Gefäß für die abgehalfterten Putinisten, Venezuela-Fans, Nato-Austrittsfreaks und Clowns, mit denen niemals ein Staat zu machen ist. Die Ramelow-Linke dagegen könnte eine konstruktive Rolle einnehmen. Für die und in der für dieses Land eminent wichtigen Sozialdemokratie. Und, kurzfristig und ganz nebenbei: Als Koalitionspartner der CDU in Thüringen. So eine Regierung sollte in diesen Tagen nicht nur als Zerreißprobe für die Union rezipiert werden. Sondern auch als möglicher Schritt für eine Spaltung der Linkspartei, die diesem Land einen großen Dienst erweisen würde.