Unser Mann in Amerika wagt ein Gedankenspiel

Es war eines jener Ereignisse, bei denen im Nachhinein jeder angeben konnte, wo er sich gerade befand, als er die Nachricht hörte. Der Schreiber dieser Zeilen etwa war in der schönsten Bar seines Viertels (“The Hare and the Turtle” am Broadway) damit beschäftigt, einen Burger zu verspeisen, als die Sendungen für eine Sondermeldung unterbrochen wurden: Der amerikanische Präsident war tot. Die Details wurden schnell bekannt: Joe Biden, bekanntlich ein leidenschaftlicher Radfahrer, war bei einem Ausflug am Potomac gestürzt; was erst wie eine harmlose Gehirnerschütterung aussah, hatte sich als Hirnblutung erwiesen; eine Stunde nach dem Unfall lag er im Koma, am nächsten Morgen atmete er nicht mehr. Die Stimmung im Lande kippte sofort ins Düstere. Vor allem in New York, einer Stadt, in der Republikaner gesellschaftlich ungefähr so angesehen sind wie Kinderschänder, liefen am Tag danach eigentlich alle in Schwarz herum, aber auch in Milwaukee, Chicago, New Orleans und Los Angeles versammelten sich spontan Hunderttausende zu stummen Trauerdemonstrationen. Bidens Begräbnis wurde zum größten Massenereignis der amerikanischen Geschichte. Bekanntlich waren die Umfragewerte des Präsidenten zuletzt miserabel gewesen — nun, nach seinem Tod, stellte sich heraus, dass ihm doch die Liebe eines großen Teils der Öffentlichkeit gehörte. Vor allem schwarze Amerikanerinnen und Amerikaner strömten zu Millionen nach Washington, DC, um seinem Sarg das letzte Geleit zu geben.

Natürlich waren nicht alle traurig: Die Anhänger Donald Trumps jubilierten ganz offen, sie feierten Bodens Tod mit Bier und Feuerwerk. Allerdings feierten sie nicht lange. Denn eine Woche, nachdem Joe Biden gestorben war, verschluckte sich Trump auf dem Flug zu einem Gerichtstermin an einem Cheeseburger. Das sofort angewandte Heimlich-Manöver führte nicht zum gewünschten Ergebnis: Die Bilder von dem zugedeckten korpulenten Leichnam, der auf einer Bahre aus dem Flugzeug getragen wurde, gingen um die Welt. Auch hier wurde das Begräbnis zu einem Massenereignis, allerdings hätte die Menge, die in Florida hinter dem toten Trump hermarschierte, von Biden Trauergemeinde nicht unterschiedlicher sein können: Man sah so gut wie keine schwarzen Gesichter und keine jungen Leute, und Frauen stellten nur circa ein Drittel der Trauernden. Für Schlagzeilen sorgte der Umstand, dass Melania, die Witwe von Donald Trump, sich nicht die Mühe machte, zur Beerdigung zu erscheinen.

Im Wahljahr stellte sich natürlich sofort die Frage nach der Nachfolge. Der Tod der beiden alten Männer — Joe Biden wurde 81, Donald Trump 77 Jahre alt — hatte zu einem völlig unvorbereiteten Generationswechsel geführt: Wer würde die beiden ungleichen Kontrahenten beerben? Bei den Demokraten war die Sache klar: Vizepräsidentin Kamala Harris hatte, wie es die Verfassung vorsieht, die Regierungsgeschäfte übernommen. Und obwohl ihre Umfragewerte noch schlechter waren als jene von Joe Biden, gab es niemanden, der ihr die Spitzenkandidatur streitig machen konnte. Gewiss, da war Gretchen Whitmer, die Gouverneurin von Michigan, ein Star der Demokratischen Partei; allerdings hätten die schwarzen Wählerinnen und Wähler mit verständlichem Ärger reagiert, wenn die erste schwarze Frau, die sich um das Präsidentenamt bewarb, zugunsten einer Weißen beiseite geschoben worden wäre. Peter Buttigieg, der Verkehrsminister, war ein begnadeter Kommunikator und verstand es, auf Fox News auch zu den Amerikanern im Mittleren Westen zu sprechen. Aber die schwarzen Amerikanerinnen und Amerikaner — die nur der amerikanische Rassismus daran hindert, mehrheitlich ziemlich konservativ zu sein — verziehen ihm seine offene Homosexualität nicht: In Umfragen fiel er bei ihnen regelmäßig durch. So tat Kamala Harris das einzig Logische und Vernünftige, sie machte Buttigieg zu ihrem Kompagnon.

Kamala Harris hatte dennoch ein doppeltes Problem: Sie galt dem linken Parteiflügel der Demokraten als viel zu rechts (“Kamala is a cop”, hieß es dort, eine Anspielung auf ihre Zeit als Staatsanwältin in San Francisco, wo sie hart gegen Verbrecher durchgegriffen hatte); unter moderaten Amerikanern wiederum ging das Gerücht, es handle sich bei Kamala Harris um eine radikale Linke. Sie beschloss, dass es weniger wichtig für sie war, die Linken für sich zu gewinnen, und sprach im Wahlkampf von der Notwendigkeit, die Grenze zu Mexiko zu sichern, und ließ sich mit Vorliebe im Kreise von Ordnungshütern ablichten. Gleichzeitig sprach sie vom Recht auf Abtreibung, einem Gebiet, auf dem sie sich schon als Vizepräsidentin einen Namen gemacht hatte. Außenpolitisch stand Harris für eine Fortsetzung des Biden-Kurses: Loyalität zur Nato, Loyalität zu den europäischen Verbündeten, Waffenhilfe für Israel, die Ukraine und Taiwan.

Bei den Republikanern schien die Sache ebenfalls klar zu sein: Nikki Haley wurde die Kandidatin. Auf den ersten Blick sah es so aus, als würden zwei sehr ähnliche Frauen gegeneinander antreten: Beide ungefähr gleich alt (Kamala Harris 59, Nikki Halley 51 Jahre), beide nach amerikanischem Verständnis dunkelhäutig; beide stammten außerdem von indischen Einwanderern ab. Allerdings hörten hier die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Denn während Kamala Harris sich politisch nach der Mitte orientierte, versuchte Nikki Haley, Trumps Anhänger für sich zu begeistern; und das konnte nur gelingen, wenn sie ihre Rhetorik radikalisierte. Also beyeichnete sie illegale Einwanderer als “scum” (Abschaum), nannte Trump “einen großen Amerikaner und Staatsmann”, pries den Mob, der am 6. Januar 2021 das Kapitol gestürmt hatte, als “Patrioten” und versprach, jene, die wegen ihrer Teilnahme am Sturm auf das Kapitol verurteilt worden waren, am ersten Tag ihrer Präsidentschaft zu begnadigen.

Das Dumme war: Es half ihr gar nichts. Noch im Sommer wurde auf einer ihrer Wahlkampfveranstaltungen das erste Schild mit der Aufschrift “Nimrata is a Sikh” gesichtet, eine Anspielung darauf, dass sie ihren indischen Vornamen anglisiert hatte und in der Sikh-Religion erzogen worden war. Schon bald musste sie sich auf Fox News and anderen rechten Fernsehkanälen die Frage gefallen lassen, ob sie 1996 ehrlichen Herzens zum Christentum konvertiert sei oder heimlich weiterhin einer fremden, unamerikanischen Religion angehöre. Es verbreitete sich ferner das Gerücht, ihre Eltern seien illegale Einwanderer gewesen; sie habe gar nicht die amerikanische Staatsbürgerschaft, könne rechtens also auch nicht amerikanische Präsidentin werden. Am schlimmsten war allerdings die Geschichte mit der Konföderiertenflagge. Als Gouverneurin von South Carolina hatte sie 2015 die Kriegsflagge der Konföderierten einholen lassen, die bis zu jenem Jahr gegenüber dem Kapitol des Bundesstaates geflattert hatte (damit reagierte sie auf ein Massaker; ein Rassist hatte neun Betende in einer schwarzen Kirche erschossen). In der heutigen Republikanischen Partei war dies eine unverzeihliche Sünde: Nimrata Haley, so hieß es, habe mit ihrem damaligen Akt uramerikanische Traditionen verraten. Es nützte nichts, dass Nikki Haley sich ein Kleid in den Farben der Konföderierten schneidern ließ. Als sie beschloss, Elise Stefanik zu ihrer Kandidatin für das Amt des Vizepräsidenten zu machen, war alles zu spät, denn Elise Stefanik hatte natürlich keinerlei Lust, sich einer Nimrata unterzuordnen.

Elise Stefanik — mit 49 Jahren die jüngste Bewerberin — hatte sich im Repräsentantenhaus als Abgeordnete aus dem Bundesstaat New York einen Namen gemacht, weil sie Donald Trump bedingungslos unterstützte. Zu Fernsehprominenz brachte sie es, als drei Universitätspräsidentinnen sich in einer öffentlichen Befragung vor Elise Stefanik nicht dazu durchringen konnten, auf die Frage, ob jüdische Studenten vor Belästigungen geschützt werden müssten, mit “Ja” zu antworten. Seither ließ sie sich als Verteidigerin der Juden feiern. Allerdings vertrat Stefan gleichzeitig die Theorie, dass  jüdische Eliten im Hintergrund dafür sorgten, weiße Amerikaner durch dunkelhäutige Einwanderer zu ersetzen. Nachdem Nikki Haley ihren Abschied von der Politik verkündet hatte, schoss Elise Stefanik schnell an die Spitze der Republikanischen Partei empor. Anders als Haley verkündete sie, dass sie die Vereinigten Staaten aus der NATO zurückziehen und jede Militärhilfe für die “korrupte Ukraine” einstellen werde. Als Mitkandidatin wählte sie die Verschwörungstheoretikerin Marjorie Taylor Greene aus. Laut den Umfragen hat sie gute Chancen, Kamala Harris im November zu schlagen.