Die Identitäre Bewegung will die Sexismus-Debatte vereinnahmen. Ihre Stärke ist der falsch verstandene Antirassismus der Linken.

Dass die Identitäre Bewegung (IB) nicht die sympathischste Truppe ist, weiß, wer sich mit ihrer völkischen Ideologie und dem pauschalen Gepolter gegen „Multikulti und Masseneinwanderung“ beschäftigt. Nun wollen die rechten Aktivisten mit der Kampagne „120 Dezibel“ in feministische Kreise vorstoßen.

Eine Woche nach dem Start haben sie, gemessen an der Resonanz im Netz, einen Achtungserfolg erzielt. Internationale Popstars der Islamkritik wie die US-Autorinnen Ann Coulter und Pamela Geller rühren die Werbetrommel – Coulter hatte sich auf Twitter sogar gewünscht, den Mobilisierungsclip während der Halbzeit des Super Bowls zu zeigen. Breitbart-News berichtete, Erika Steinbach und die AfD bekundeten ihre Sympathie. Und die Linken?

Starren wie das Kaninchen auf die Schlange. Außer der üblichen Phraseologie haben die Gralshüter des Guten und Richtigen der IB-Aktion kaum etwas entgegenzusetzen. Denn, und das ist eine Wahrheit, die wehtut: Mit ihrer Thematisierung von Übergriffen durch Menschen aus dem islamischen Kulturkreis haben die rechten Aktivisten einen Nerv getroffen.

Nicht nur Einzelfälle

Hinter vorgehaltener Hand berichten zahlreiche Frauen von entsprechenden Vorfällen. Ein paar Beispiele: Eine Freundin läuft mit ihrer Mutter durch Neukölln. Ein arabischer Mann ruft der Mutter etwas obszönes hinterher. Die Tochter schreitet ein, protestiert. Der Mann läuft auf sie zu und droht beiden Frauen Schläge an. Diese ergreifen hilf- wie wortlos die Flucht.

Zweiter Vorfall: Eine Freundin läuft durch Kreuzberg. Ein Mann, wieder augenscheinlich arabischer Herkunft, nähert sich auf einem Fahrrad, spuckt ihr ins Gesicht, nennt sie „Schlampe“ und droht ihr an, dass der Bezirk bald für Frauen wie sie ohne Kopftuch nicht mehr zu betreten sei. In der Straße einer weiteren Freundin hat ein arabisches Café eröffnet.

Die Gäste sind ausnahmslos männlich und sitzen den ganzen Tag an einem Tisch vor dem Lokal. Seitdem vergeht kein Tag ohne anzügliche Bemerkungen, Griffe nach dem Körper und abschätzige Blicke. Sie fühlt sich in ihrer eigenen Straße permanent bedroht. Von deutschen Männern kenne sie das so nicht, sagt sie.

Zwar leugnen diese Frauen nicht, dass Sexismus auch unter Biografiedeutschen existiert. Aber die Qualität sei doch eine andere, vor allem wenn es um Gewalt geht. Die Bereitschaft etwa, eine fremde Frau auf der Straße ins Gesicht zu schlagen, wenn diese sich über Anmacherei beschwert, sei bei Männern mit arabisch-muslimischem Hintergrund weitaus höher. Und dass Frauen (und übrigens auch LGBTI-Personen und Nicht-Muslime) in Flüchtlingsheimen massiven Gefahren durch Männer ausgesetzt sind, ist unter Flüchtlingshelfern bekannt.

Bloß nicht rassistisch sein

Man kann all diesen Frauen Rassismus vorwerfen. Man kann zum guten alten Instrument des „whataboutism“ greifen und anführen: Aber Deutsche machen das auch! Nur sind dies fragwürdige Argumente aus den Elfenbeintürmen einer intellektuellen Elite, die mit der Lebensrealität von Erna Normal kaum noch etwas zu tun hat.

Die Intention ist verständlich und nicht böse gemeint: Man möchte alles richtig machen, nicht rassistisch sein, auf der guten Seite der Geschichte stehen. Wer für reale Gewalt- und Übergriffserfahrungen allerdings nur ein paar bauchlinke Feelgood-Plattitüden übrig hat, darf sich über den Erfolg von #120Dezibel nicht wundern.

Im Vice-Magazin haben kürzlich mehrere Frauen Stellung zu der IB-Kampagne genommen. Ihre Antworten sind bezeichnend: Das eigentliche Thema wird umschifft und durch ein „Aber die Weißen!“ ersetzt.

Als Feministin mache sie keine Ausnahme, wenn es um sexualisierte Gewalt geht, gibt etwa Anne Wizorek zu Protokoll. Die neue Rechte tue das aber die ganze Zeit und beziehe sich ausschließlich auf nicht-weiße Männer. „Diesen Rassismus müssen wir immer wieder entlarven“.

Nina LaGrande findet, hinter #120dezibel stecke “die perfide Botschaft, dass sexualisierte Gewalt ausschließlich von nicht-deutschen Personen ausgeht“ und ausschließlich deutsche Frauen Opfer und schützenswert seien. „Bedeutet das im Umkehrschluss, dass Gewalt, die von Deutschen ausgeht, in Ordnung ist?“

Amina Yousaf sagt: „Sexualisierte Gewalt darf aber nicht nur dann thematisiert werden, wenn die Täter die vermeintlich ‚Anderen’ die oder die Opfer weiße, europäische Frauen sind.“

Absurde Blüten

Vor dem Hintergrund der rassistischen Schlagseite der Identitären Bewegung lässt sich eine Instrumentalisierung von Sexismus kaum leugnen. Nur fühlen sich auch die Frauen alleingelassen, die keine Menschenfeinde sind und trotzdem nachts das Abteil wechseln, wenn eine arabische Männergruppe die Bahn betritt.

Was für absurde Blüten dieser falsch verstandene Antirassismus treibt, zeigt ein Beispiel aus Leipzig. Der linksradikale Laden „Conne Island“ zog 2016 die Notbremse, nachdem junge Flüchtlinge den antisexistischen (und antirassistischen) Freiraum quasi zur No-Go-Area für Frauen gemacht haben. Das Plenum sah sich genötigt, die Eintrittsermäßigung zurückzunehmen und erklärten:

Die stark autoritär und patriarchal geprägte Sozialisation in einigen Herkunftsländern Geflüchteter und die Freizügigkeit der westlichen (Feier-)Kultur bilden auch bei uns mitunter eine explosive Mischung. Sexistische Anmachen und körperliche Übergriffe sind in diesem Zusammenhang im Conne Island und in anderen Clubs vermehrt aufgetreten – auch mit der Konsequenz, dass weibliche Gäste auf Besuche verzichten, um Übergriffen und Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen.

In einem mutigen Beitrag für die Süddeutsche Zeitung schrieb Ulrike Heidenreich im Herbst 2017:

Wenn Frauen heute einer größeren Gruppe von männlichen Geflüchteten begegnen, ist da immer wieder dieses Gefühl der Bedrohung. Die Frauen haben die Kriminalitätsstatistik über Vergewaltigungen durch Flüchtlinge im Kopf – und damit auch die Angst. Vielen Frauen ist mulmig. Sie fürchten, durch ihr Auftreten falsche Signale auszusenden. Das kann nicht sein. Die Freiheit, sich so zu kleiden und so zu bewegen, wie man möchte, ist unverhandelbar. Selbst die Gutwilligsten tun sich keinen Gefallen, den Bruch in der Willkommenskultur auszublenden. Man muss die Fakten nüchtern benennen, ohne Dämonisierung einerseits und Verklärungen andererseits.

Die Feministin Alice Schwarzer sagte Anfang 2016 mit Blick auf die Übergriffe in der Kölner Silvesternacht in einem „Welt“-Interview:

Nach den Ereignissen in Köln habe ich bei einer der sogenannten jungen Feministinnen gelesen, auch „weiße Bio-Deutsche vergewaltigen“. Da kann ich nur sagen: Richtig, das sagen wir feministischen Pionierinnen seit 40 Jahren! Doch jetzt müssen wir weiterdenken, denn die Ereignisse in Köln und an anderen Orten hatten über die uns bisher bekannte sexuelle Gewalt hinaus eine neue Qualität, eine ganz andere Dimension.

Dass sowohl das Conne Island als auch Alice Schwarzer mit Rassismus-Vorwürfen überzogen werden, wundert angesichts der oft hysterischen Debatte nicht.

Es braucht mehr als angestrengtes Weggucken

Die Kampagnen #metoo, #aufschrei und #ausnahmslos haben gute und wichtige Punkte angesprochen. Andererseits wurde vieles in den Rang eines sexuellen Übergriffs gehoben, das dieses Label in den Augen vieler nicht verdient. Ein dummer Kommentar reicht aus, um zur persona non grata zu werden – man erinnere sich an Rainer Brüderles anzüglichen Dirndl-Kommentar. Die Zumutungen, denen Frauen – selbstverständlich auch Frauen arabisch-muslimischer Herkunft – im Kontext der Flüchtlingskrise ausgesetzt sind, bewirkten ein ungleich leiseres Echo.

Um rechten Trittbrettfahrern wie der Identitären Bewegung das Wasser abzugraben, braucht es mehr als ein angestrengtes Weggucken und Rassismusvorwürfe. Auch und grade Linke sollten in der Lage sein, einen emanzipatorische Antisexismus an die Stelle realitätsferner One-World-Bekenntnisse treten zu lassen.

Dabei können sie sich übrigens ruhigen Gewissens bei denen bedienen, die in ihren Einlassungen kaum vorkommen: Bei den Feministinnen in muslimischen Ländern wie Ägypten und Iran, die teils unter Lebensgefahr gegen die männlich dominierte muslimische Mackerkultur protestieren.