Boris Palmer hat es wieder getan und laut seinem persönlichen Verwundern Ausdruck verliehen. Müssen wir uns damit beschäftigen? Ja, dieses eine letzte Mal vielleicht. Hier die Gründe.

Boris Palmer, seines Zeichens grüner Oberbürgermeister der „Universitätsstadt Tübingen“, ist ein Mann mit kommunikativer Macht: Er schafft es immer wieder, mit nur kurzen, ja fast winzig zu nennenden Einlassungen die ihm folgenden oder auch nur vom Rand der Öffentlichkeit zuschauenden Massen in zwei sich spinnefeind gegenüberstehende Menschenmengen zu teilen; vielleicht macht er aber auch nur den inhärenten Antagonismus sichtbar. Man könnte ihn jedenfalls mit dem schönen wie schnöden Epitheton „streitbar“ charakterisieren – eine Eigenschaft, die ihn in unseren streitlustigen Zeiten immer wieder mitten in die Lichtkegel der Medienarena katapultiert. Und dann ist es naturgemäß schwer, an ihm vorbeizuschauen.

Dass Palmer einen gewissen Hang zur Provokation hat, ist unübersehbar. Man kennt diese Typen auch aus dem Fußball: Die Fans seiner eigenen Mannschaft finden ihn spitze oder sehen über seine Charakterschwäche hinweg, solange er dem eigenen Lager dient; die Gegner hassen und verachten ihn einfach und tun, was sie nicht tun sollten: Sie lassen sich wie ihre Mannschaft provozieren. Und der Provokateur – der erliegt irgendwann seinem eigenen Ruf: Selbst bei einem richtigen, warnenden Gedanken wie dem, dass es auch Probleme geben könnte, wenn plötzlich mehrere Hunderttausend junge Männer aus einem anderen Kulturkreis im Land zu versorgen und zu betreuen sind, ruft die breite Mehrheit „Foul!“ und lehnt es ab, auch nur eine Sekunde über das Dargestellte oder Gemeinte nachzudenken. Palmer hat so oft gegen den vermeintlich links-liberalen kulturellen Mainstream angestunken und an der von ihr festgelegten Demarkationslinie zum Rassismus entlang getänzelt, dass es keinem, auch ihm selbst nicht, auffällt, wie er mittlerweile in die eigenen Kommunikationsfallen tappt.

DIE NEUE DB-IMAGEKUNST

Er hat der Deutschen Bahn dieser Tage ein Werbefoto zum Vorwurf gemacht, es gebe nicht die deutsche Realität wieder. Nun tun das Reklamebilder in den seltensten Fällen. Sie übermitteln positive Botschaften und Images, die ein Produkt cool aussehen lassen sollen. Wer ab und zu die Bahn benutzt, der weiß, dass sie solche Botschaften gut gebrauchen kann. Ob man je einen der abgebildeten TV-Prominenten in einen der überfüllten, zum Teil dysfunktionalen Zügen antreffen wird, darf bezweifelt werden – dann doch eher den Grünen Palmer selbst, wenn er denn nicht lieber fliegt. Palmer wollte nun das Bild zum Anlass nehmen, selbst eine Botschaft unters Volk zu bringen: Einer wie er fühle sich – stellvertretend für 65 Prozent der Menschen in Deutschland – nicht durch das Foto repräsentiert. Im „Deutschlandfunk“ hat er das näher erläutert: Die Deutsche Bahn betreibe mit dem Bild linke Identitätspolitik, die den Menschen bestimmte Merkmale zuweise; dies sei rassistisch und spalte die Gesellschaft.

Das sind keine geringen Vorwürfe, die der Bahn da gemacht werden. Nur fällt es Palmer anscheinend nicht auf, dass er diese Merkmale – er kann hier nur die Hautfarbe oder einen sonst erkennbaren oder vermuteten „Migrationshintergrund“ gemeint haben – selbst erst ins Spiel bringt. Damit fällt seine Argumentation auf ihn wieder zurück. Er macht es Gegnern leicht bis hin zur unabweisbaren Plausibilität, ihm Fremdenfeindlichkeit oder Rassismus zu unterstellen. Wenn Schweigen keine Option ist und er wirklich etwas gegen die aus den USA importierte und zweifellos erfolglose Identitätspolitik hätte sagen, ja, sie hätte entwaffnen wollen, weil er sie für sinnlos und gefährlich hält, dann hätte er die Werbekampagne der Bahn auch als Beleg dafür preisen können, wie sichtbar der Erfolg von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland tatsächlich ist. Nur dafür hätte Boris Palmer ein republikanisches Verständnis der deutschen Einwanderungsgesellschaft haben müssen, die Erfolg, Aufstieg und Teilhabe nicht von äußeren Merkmalen oder bestimmten Migrationshintergründen im Negativen wie Positiven abhängig macht, sondern von Leistung, Integrationswillen, Gemeinwesen- und Gemeinwohlorientierung. Palmer reproduziert die angestrebte Stände- und Stämme-Repräsentation linker Identitätspolitiker, für die bekanntlich eine freiwillige Feuerwehr erst dann eine rechtschaffene, sozial gerechte Institution ist, wenn sie einen bestimmten Anteil ethnischer, religiöser oder sexueller Identitäten repräsentiert, ansonsten betreibe sie Ausgrenzung.

Man kann von dieser Art linker Politik halten, was man will – aber sie ist gewiss nicht rassistisch. Sie mag das Gegenteil erreichen von dem, was sie will: nämlich soziale Inklusion Außenstehender und zum Teil Diskriminierter – aber sie ist gewiss nicht rassistisch.

EIN TRAUM

Es gibt von Zeit zu Zeit Tage, da träume ich ganz fest, dass das ganze Gerede von Migrationshintergründen und Hautfarben ein Ende hat und der moderne Individualismus und die liberale Gesellschaft unerschütterliche Grundfesten sind und dass sie in einem zwanglosen Prozess diesen ganzen Schabernack beenden. Doch wenn ich die Augen wieder öffne, die Ohren nicht mehr verschließe, dann ist dieses Gerede immer noch da, ohne Hoffnung auf Fortschritte, und man schilt mich und andere, die diesen Traum teilen, sogar der naiven, falschen und heimtückischen Farbenblindheit. Aber ich gebe diesen Traum trotzdem nicht auf. Und das wird kein Boris Palmer, kein rechter und kein linker Identitärer jemals ändern.