Marko Martin hat bei der 68er-Konferenz „Eine globale Revolte bewegt(e) Frankfurt“ der Goethe-Universität einen Vortrag über das linke Erbe der neuen Rechten gehalten – wir dokumentieren ihn hier.

Lassen Sie mich ein paar Beobachtungen skizzieren, die sich auf Erbstücke von ’68 beziehen – in Verbindung mit der heutigen Rechten. Dabei werde ich hoffentlich auch nicht mit Kausalketten rasseln und auch keine (zu) schlüssigen Thesen entwickeln.

Solches gilt schon deshalb zu vermeiden, da wir zurzeit ohnehin eine Renaissance der Allerklärungen erleben, einer wütend angestrebten Widerspruchsfreiheit mit allen dazu gehörigen Verschwörungstheorien und Hasstiraden. Mich interessiert, was diesen entgegengesetzt werden könnte – und welche fortgesetzten Lebenslügen des sogenannten „progressiven/weltoffenen/toleranten Lagers“ dies erschweren.

Mich interessiert, auf welchem Weg – um nur ein Beispiel zu nennen –  der Spott über den sogenannte „FDGO-Staat“ von links nach rechts gewandert ist.

Tatsache ist, dass nicht wenige der Schriften – wahrscheinlich würde man in diesen Kreisen eher von Schrifttum sprechen – die im Umkreis des inzwischen republikweit bekannten Rittergutes Schnellroda oder in der rechtsnationalen Wochenzeitung Junge Freiheit publiziert werden, direkte Anleihen an ehemals linker Häme- und Verdachts-Rhetorik nehmen. Ganz zu schweigen von den Sprüchen und Slogans auf der Straße, die uns ein Revival des „Schweinesystems“ und des Wunsches aufs „Plattmachen“ beschert haben.

Was gegenwärtig rechts über „Lügenpresse/Das System Merkel/mörderischen Globalismus“ etc. zu vernehmen ist – unterscheidet es sich wirklich so fundamental von den überklugen Sophismen des „Verblendungszusammenhangs“, der „repressiven Toleranz“ und der „Charaktermasken“, des „militärisch-industriellen Komplexes“, der Chiffre „Wallstreet“ et tutti quanti?

Gewiss, auf Fragen dieser Art folgt gern die prompt beleidigte Retourkutsche:  Ob man, erstens, das damalige Reden und Tun, welches – schmeichelhafte Selbstbeschreibung – doch trotz allem von „emanzipatorischer Intention“ getragen gewesen sei, im Ernst mit dem heutigen Regressions-Sprech der Rechten vergleichen möchte. Und ob denn, dies zweitens und Wichtigstes, etwa eine „Total-Affirmation des Systems“ gewünscht werde vom derart despektierlich nachfragenden Nachgeborenen. Nicht nur alte Zausel der damaligen Bewegung höre ich häufig so sprechen, Zigarettenselbstroller mit dem besserwisserischen Habitus des Dauer-Nachdenklichen, sondern auch unzählige der von ihnen Sozialisierten, Absolventen jener seit damals wie Pilze aus dem Boden geschossenen Fachhochschulen, Sozialkundelehrer und wohlbestallte KulturamtsmitarbeiterInnen mit den quasi amtsüblichen Doppelnamen.

Ich spreche hier nicht von der einstigen DKP-Hochburg Marburg, möchte auch keine Detail-Exegese von Milieu-Zeitschriften wie konkret betreiben, sondern verlasse mich – Theoriedefizit hin, falsche Unmittelbarkeit her – auf meine Erinnerungen und Erfahrungen in dieser Republik. Denn über  genau jene freiheitlich demokratische Grundordnung, die nun gegen deren rechte Verächter verteidigt werden soll, hörte ich ja, sogleich nach meiner Ankunft im Westen im Mai ´89, nicht etwa in dubiosen Extremistenzirkeln spotten: Nein, es waren die Stadttheater- und Kommunalen Kulturzentrums-Bühnen, auf denen Dieter-Hildebrandt-Epigonen ihrer wissend lächelnd Beifall klatschenden Klientel ein ums andere Mal bestätigten, „was wir doch alle wissen“: Dass FDGO eine Augenwischerei sei, dass wir in Wahrheit regiert und manipuliert werden „von ganz anderen“.

Wer dann beim nachträglichen „Wir gehen zum Portugiesen“-Weintrinken am gehobenen Stammtisch widersprach oder auch nur Ergänzung vorschlug, der fand sich sehr schnell befragt, ob er denn also alles abnicken wolle, was der CDU-Staat gerade wieder verbreche. (Wie die Zeiten sich ändern und auf vertrackte Weise wiederholen…) Wenn man solche letztlich apolitische Schimpferei zu kontern versuchte mit den Lektüren aus den nun doch nicht völlig „konsumterroristisch gleichgeschalteten“ Buchhandlungen und Antiquariaten, erntete man freilich nicht einmal Schelte, sondern lediglich verständnisloses Stirnrunzeln, denn diese Namen schienen vollständig Hekuba. Dolf Sternberger, Karl-Dietrich Bracher, Leszek Kolakowski, Kurt Sontheimer, Odo Marquardt, Manés Sperber, Jeanne Hersch, Raymond Aron.

Rächt sich jetzt womöglich diese Ignoranz, da viele der medial gehypten, „gegen rechts“ gerichteten „Aufstände“ und Demos und Hashtags und „Kulturschaffende“-Apelle (by the way, „Kulturschaffende“ ist eine Wortschöpfung von Joseph Goebbels) ebenso moralistisch aufgeladen erscheinen wie gedanklich unter-komplex? Frage: Hat man sich durch jene bequeme Pose, die den einstigen Revolutions-Furor ins selbstzufrieden grummelnde „Eigentlich schon gegen dieses System“ umleitet, nicht in selbstverschuldeter Unmündigkeit um ein Denken gebracht, das gerade heute von Nutzen wäre, um den seit der Gründung der Bundesrepublik nie da gewesenen rechten Frontalangriff abzuwehren – und zwar mit Verweis auf eben jene Bundesrepublik, die jedoch im altlinken und neorechten Sprech weiterhin verächtlich als „BRD“ firmiert?

Judenhasser als vermeintliche Spaßmacher

Zusätzliche Frage: Wie effizient – von Glaubhaftigkeit gar nicht zu sprechen – sind die Antisemitismus-Vorwürfe in Richtung AfD, wenn sie aus einem Milieu kommen, das den pathologischen Judenhasser Dieter Kunzelmann noch heute für einen „Spaßmacher“ hält, den selbstgerechten Israel-Verleumder Christian Ströbele für „engagiertes Urgestein“ und vorgibt, sich an die einstige Parole „Schlagt die Zionisten tot/ Macht den Nahen Osten rot“ so gar nicht mehr erinnern zu können?

Wer auch sollte sich dann über die Schizophrenie von neorechten Publizisten und AfD-Funktionären echauffieren, die ein doppeltes Kunststück vollbringen: Vermeintlich „pro-israelisch“ zu sein, indem man die einzige Demokratie des Nahen Ostens als Araber-Verprügler vom Dienst missversteht und gleichzeitig hier in Deutschland die Erinnerung an die Shoa als „Schuldkult“ diffamiert – oder triumphalistisch das vermeintliche „Leid der Palästinenser“ herausstellt und parallel hierzulande antimuslimische Hetze betreibt. Heuchelei, Rabulistik? Gewiss. Nur dass man früher – und zum Teil auch heute –  vergleichbare Verdrehtheiten, kamen sie von links, „Dialektik“ oder „solidarische Konsequenz“ nannte: Ostentativ ein Tränchen verdrückt bei öffentlicher Lesung von Anne-Frank-Tagebüchern, gern auch mit Klezmer-Untermalung, Paul Celans Todesfuge hoch- und runter rezipiert, die Bundesrepublik hurtig auf die Chiffren „Globke und Oberländer“ reduziert – und gleichzeitig diese fortdauernde besserwisserische Eiseskälte gegenüber Israel als dem Staat der Überlebenden und seiner hochkomplexen Wirklichkeit.

Denn auch da: Die Bücher und Texte von Jean Améry, Léon Poliakov, Elie Wiesel und Ralph Giordano, die sich mit eben jenem Zusammenhang zwischen rechtem Antisemitismus und linken Antizionismus beschäftigten, sie wurden nicht gelesen und sind heute so gut wie vergessen.

Doch wie gesagt: Es sollen keine kausalen Zwangsläufigkeiten konstruiert werden.

Die recht homogene neue Rechte hat zu ihrer Motivation die stets heterogene und sich im Laufe der Jahrzehnte immer weiter ausdifferenzierende Linke gewiss nicht nötig. Indessen: Wer heute das Wort vom „Zivilisationsbruch Auschwitz“ ein wenig zu selbstgewiss im Munde führt, um Gaulands skandalöse „Fliegenschiss“-Behauptung zu kontern, täte vielleicht gut daran, sich an jene Zeit zu erinnern, als Nationalsozialismus historisch verfälschend nur „Faschismus“ heißen durfte und dieser kurzerhand weg-erklärt wurde als besonders aggressive, wenn auch keinesfalls atypische Form des Imperialismus, während „Selektion“ ohnehin das vermeintliche Grundprinzip des Kapitalismus sei.

Und weil wir hier in der Universität zu Frankfurt sind und weil sich in wenigen Tagen zum vierzigsten Mal der Freitod von Jean Améry jährt (der im Unterschied zu den lange vor der AfD antizivilisatorisch tümelnden Volker Braun, Heiner Müller und Christa Wolf eben nicht den Georg-Büchner-Preis erhalten hatte), sei hier eine Passage aus den zu Unrecht vergessenen  Unmeisterlichen Wanderjahren zitiert, die von Adornos Unterrichtung der jungdeutschen Studenten erzählt, ehe sich diese in der pöbelnden Manier ihrer Väter – genau hier an dieser Universität – auf den Remigranten stürzten und damit dessen kurz darauf folgenden Herztod wohl zumindest mitverursachten. Jean Améry:

„Adorno und andere brachten die frohe und dringend benötigte Botschaft hegelianisch-marxistischer Geschichtlichkeit. Dialektische Geistesschärfe höchster Ordnung brachte das Irreduktible, was sich im Lande ereignet hatte, unter in einer keimfreien Denkstruktur. Darin nahm das Unbegreifliche sich aus wie irgendwas. Der Faschismus – denn ihn hatte es offenbar nur gegeben und nicht originale, unverwechselbare Tatbestände des SS-Staates – war Sache kritischer Reflexion. Der Tod war kein Meister aus Deutschland. Er war faschistisch oder faschistoid. Die realen Gräuel, bei denen niemand sich aufzuhalten brauchte, wenn in angestrengter Begrifffssprache doziert wurde, bekamen etwas Märchenhaftes. Die abstrakte Reflexion nahm ihnen ihre Schrecken. Das Gewesene konnte kaum noch aufscheinen, ohne dass es als anekdotische Beigabe in seine Schranken verwiesen wurde. Damit verschaffte man den heraufrückenden Generationen Intellektueller nebst dem schneidenden Vokabular auch das fleckenreine linke Gewissen.“

Kunstblut und Flugblätter

Apropos: Was das sogenannte „Umfunktionieren“ öffentlicher Veranstaltungen betrifft – auch da ist das von Jean Améry beschriebene „schneidende Vokabular“ weiterhin quicklebendig, wenn auch inzwischen keineswegs mehr automatisch „fleckenrein links“. Wenn etwa heute sogenannte „Identitäre“ in Wien eine Theateraufführung eines Elfriede-Jelinek-Stücks aufmischen, Kunstblut in die Menge spritzen und Flugblätter in den Saal werfen, auf denen „Multikulti tötet“ zu lesen steht – auf wen beziehen sich da wohl diese jungen Leute, die vor allem aus dem akademischen Burschenschaftler-Milieu stammen? Sind sie Wiedergänger jener Goebbelschen Horden, die in der Endphase der Weimarer Republik Kino-Adaptionen von Remarques kriegskritischem „Im Westen nichts Neues“ oder der „Dreigroschenoper“ durch das Freilassen von Mäusen zu stören trachteten? Möglicherweise.

Ebenso wahrscheinlich aber, dass sie Anleihen an einem ursprünglich progressiv gedachten whataboutism genommen haben, der bis heute in so mancher Rückschau als vermeintlich „mutiges Ansprechen verdrängter Wirklichkeiten“ buchstabiert wird. Das von den intellektuell angehauchten jungen Ultrarechten verspritzte Kunstblut sollte nämlich, auch darüber informierten Handzettel, „an die vergessenen Opfer von Brüssel“ erinnern. Ehe ob solch widerlicher Instrumentalisierung von Terroropfern – die, ob am Brüsseler Flughafen oder in der Innenstadt, ja ebenfalls “multikulturell“ waren – erneut die bekannten Reflexe einsetzen, eine Zwischenfrage zur Vergangenheit: Hatte man einst von linker Seite die Opfer des Vietnamkriegs, der Apartheid und der Greuel in Lateinamerika nicht ebenso zur „systemkritischen“ Spielkarte herabgewürdigt und im raunenden Gerede über „größere Zusammenhänge“ ein zweites Mal ent-individualisiert und ins Anonyme gestoßen – „Kapitalismus tötet“?

Nach meinen unmaßgeblichen Erfahrungen: Wer solches geflissentlich vergessen hat, bekommt häufig noch immer leuchtende Augen, wenn er von der sogenannten „subversiven Gaudi vom August 1967“ spricht, als vor dem Schöneberger Rathaus das als reaktionär staatstragend interpretierte offizielle Gedenken an den ehemaligen Reichstagspräsidenten Paul Löbe skandalträchtig „umfunktioniert“ worden war. Damals mittenmang: der Psychopath Andreas Baader, der bemühte Hedonismuspriester Rainer Langhans sowie – aus einem Sarg „Wir wollen ein paar Leichen verscharren“-Flugblätter in die johlende Menge werfend – der Kommunarde und Antisemit Dieter Kunzelmann. Während der solcherart verhöhnte (und heute dem kollektiven Gedächtnis fast völlig entschwundene) Paul Löbe ein sozialdemokratischer und dazu proeuropäischer Anti-Nazi gewesen war, der Gefängnis und Konzentrationslager überlebt hatte. Auch hier: Der jenseits der verdienstvollen Demystifizierungs-Arbeiten etwa von Wolfgang Kraushaar und Gerd Koenen weiterhin fortgesetzte Unernst beim Interpretieren des biographisch oder politisch als die „eigene Geschichte“ Begriffenen macht das gegenwärtige Augenrollen über „neorechte Umtriebe“ zumindest partiell zur Farce.

Vermeintlich anachronistische Polit-Anekdoten

Wer von Seiten der postmodernen Linken dies alles nun für anachronistische Polit-Anekdoten von gestern hält und stattdessen lieber die Vokabel diversity wie eine Monstranz vor sich herträgt, ist sich womöglich des emanzipatorischen Gehalts der eigenen Ideologie sicherer als dies angezeigt wäre. Über die im Nachgang zu ’68 entstandene Identitätspolitik und deren Anschlussfähigkeit nach Neo-Rechts ist indessen schon manches gesagt worden; ich will es hier nicht wiederholen – obwohl auch dies eine Debatte ist, die dringend zu führen wäre.

Wobei dann jedoch nicht etwa die feinziselierten Selbststilisierungen innerhalb der akademischen Blase im Fokus stehen müssten, sondern deren Hinein-Diffundieren in den gesamtgesellschaftlichen Diskurs, wo eine fast schon sakral überhöhte „Differenz“ eben nicht nur linksalternative Wertschätzung für Minderheiten bedeutet, sondern auch die Blaupause sein kann für den ausgrenzenden Kulturalismus der Rechten. Vereinfacht gesagt: Was dem einen sein binnen-homogen gedachtes „Multikulti“ und ein mikroskopisch immer weiter ausdifferenzierter Minderheiten-Status, ist dem anderen sein ebenso homogener „Ethnopluralismus“ – und beide sind einig in der Ablehnung eines Menschenrechts-Universalismus, der als starrer westlicher Dominanz-Mechanismus denunziert wird. Die sogenannten „Identitären“, die nun auch in Deutschland Zulauf bekommen, wussten jedenfalls sehr genau, welches keyword sie da gewählt hatten zur Benennung ihres zur Organisation gewordenen Abgrenzungswahns.

Und so ginge es fort und fort. Ja, in der Tat wäre eher von Fortsetzung, Überschneidung und Umdeutung zu sprechen, von Wechselspiel, Mutation und erfolgreicher Travestie anstatt stur Kausalität zu behaupten.

Denn auch jene in den Jahren und Jahrzehnten nach 68 mehr oder minder zum linken Mainstream gewordene „Äquidistanz“ zu den sogenannten „beiden Machtblöcken“ NATO und Warschauer Pakt (der freilich schon zu dieser Zeit um den Kreml kreiste) setzt sich heute gleichsam fort in den antiamerikanischen und russland-affinen Neutralitäts-Überlegungen selbsternannter „moderater“ AfD-Vordenker. (Sofern denn nicht, wie im Querfront-Magazin Compact des ehemaligen Linksaußen-Kolumnisten Jürgen Elsässer, die einstige Antimperialismus-Rhetorik nahtlos fortgesetzt wird, nun jedoch aufs rein Völkische reduziert, doch bei Beibehaltung des altbekannten verschwörungstheoretischen „Es kann kein Zufall sein, dass…“.)

Fort setzt sich auch das Negieren Moskauer Menschenrechtsverletzungen im Inneren und der Völkerrechtsbrüche im Ausland zugunsten des Fetischs „Stabilität“. Fort setzt sich, freilich unter anderen Vorzeichen, der milde Blick auf die DDR, der einst „utopisches Potential“ und “soziale Errungenschaften“ bescheinigt wurden und die nun in den Reden von Gauland, Höcke und anderen – trotz monierter sozialistischer Schlacken – als idealisierter Hort von Ordnung, Tradition und deutscher Disziplin eine zusätzliche Nobilitierung erfährt. Und so wie einst unzählige karrierebewusste 68er bei ihrem Marsch durch die Institutionen schnell ihren Frieden mit sozialdemokratischem Etatismus gemacht hatten und während in der SPD von heute noch immer von den dubiosen Aspekten Egon Bahrscher „Entspannungspolitik“ höchstens verklausuliert gesprochen wird – so ist nun auch jenes Verständnis-Mantra von den „legitimen russischen Interessen“ mühelos nach rechts gewandert. Dies deshalb ohne jegliche polemische Zuspitzung: Im Blick auf das Putin-Regime passt zwischen AfD und Linkspartei kein Blatt Verpflichtungspapier – und zwischen AfD und SPD bei diesem doch nicht ganz unwichtigen Thema als Differenzfigur höchstens noch der gegenwärtige Außenminister, der freilich von sehr schlanker Natur ist.

Alles mit allem verbunden

Jene Durch-die-Institutionen-Marschierer haben freilich in der SPD auch erfolgreich dafür gesorgt, dass das alte sozialdemokratische Menschenbild eines selbstbewussten, emanzipationsfähigen Arbeiters abgelöst wurde von der Vorstellung eines Mündels, das mittels Umverteilung vor den Unbilden der Marktwirtschaft zu schützen sei. Müsste hier deshalb nicht eine weitere Frage gestellt werden? Könnte es nämlich nicht sein, dass jene über die Jahrzehnte hinweg paternalistisch geschürten Wähler-Erwartungen die jetzige aggressiv-enttäuschte Anspruchshaltung und rabiate Enttäuschung zumindest mitgezüchtet haben, die da nun unter dem Begriff des “Wutbürgers“ subsummiert wird? Irgendwohin müssen die dramatisch verlorenen SPD-Wählerstimmen ja gewandert sein. Ressentiments verschwinden nicht, sondern suchen sich lediglich neue Adressaten.

Wer sich jetzt über den Höhenflug der Grünen freut – und dies womöglich zu voreilig als späten Sieg von ’68 verbucht – sollte sich vielleicht auch ein paar Gedanken machen über den Sinkflug des linken Nachbarn.

Hinzu kommt (und dies jetzt als Schlussbemerkung), dass seit Jahrzehnten Wirtschaftsgeschichte zumindest unterhalb der universitären Ebene hauptsächlich gelehrt wird als Verdachtsgeschichte. Wer meint, hier verkürze einer beim Schweinsgalopp durch die Zeiten und Gestimmtheiten, schaue einmal in bundesdeutsche Gymnasiallehrbücher. Wir im Norden sind so reich, weil der Süden so arm ist. Myriaden von Pädagogen, Sozialarbeitern und anderen Alltags-Multiplikatoren haben solches in die Welt gesetzt, und nicht wenige von ihnen, nun älter und noch frustrierter geworden, versehen inzwischen den alten verschwörungstheoretischen „Es kann kein Zufall sein, dass…“ mit neuem Text: Wir sind auf dem absteigenden Ast, weil sich der Kapitalist nun neue Leute aus dem Süden holt, um noch billiger produzieren zu können. Gernegroß-Oskar trommelt und Gattin Wagenknecht versucht das als riesig vermutete rechtslinke Wähler-Reservoir mit derlei Rabulistik abzuschöpfen.

Wäre es also nicht eine lohnende Aufgabe für all jene messerscharf Analysierenden unter den 68ern und Nach-68ern, darüber ein bisschen länger nachzudenken, anstatt sich heimelig gruselnd wieder und wieder um das bequeme Schlagwort vom „Extremismus der Mitte“ zu versammeln?

Soweit die Nachfragen. Entschuldigen Sie die Kompaktheit meiner Betrachtungen, denen man womöglich ein Vom-Hölzchen-aufs-Stöckchen vorwerfen könnte. Andererseits: Heißt es nicht seit damals, dass alles mit allem verbunden sei?

Ich danke Ihnen.