In einem offenen Brief fordern internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als Reaktion auf die immer brutalere Unterdrückung in Russland und Belarus die Schaffung einer Osteuropäischen Universität. Wir dokumentieren das Schreiben

Die Entführung und Festnahme des Journalisten Roman Protasewitsch, die Vergiftung und Verhaftung des Oppositionspolitikers Alexej Navalny, erfundene Beschuldigungen und Schauprozesse für den Historiker Juri Dmitriew, die Künstlerin Julia Zwetkowa und weitere Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler, Prozess und Straflager für die Redakteure der studentischen Zeitschrift DOXA, Verhaftung und Folter hunderter friedlicher Demonstrantinnen und Demonstranten, Ermordungen zahlreicher politischer Aktivisten, die anhaltende Okkupation großer Teile der Ukraine, Haftandrohungen, Belästigung und Tod für Tausende, die wagen, sich gegen diese Wirklichkeit zu erheben – das ist die düstere Realität brutaler Staatsgewalt, die die russische und belarusische Regierung ihren Bevölkerungen heute bieten. Politiker verurteilen diese Gewalt weltweit, Experten beobachten die Verletzung der Menschenrechte, nationaler Gesetze und internationaler Abkommen. Doch geschlossene Lufträume, geplante Boykotte und empathische Aussagen der Unterstützung reichen nicht mehr aus. Was wir benötigen, ist ein integrativer ostpolitischer Ansatz, der die traditionelle Diplomatie ergänzt, indem Bürgerinnen und Bürger einbezogen werden, neue Möglichkeiten geschaffen und – kurzgesagt – Zuckerbrot statt Peitsche eingesetzt wird. 

Die Europäische Union samt Mitgliedsstaaten sollte ihre Politik gegenüber den Nachbarn in Osteuropa überdenken und ihre etablierten Körperschaften, wie den Europäischen Rat und die Östliche Partnerschaft wiederbeleben. Deren Ziele sollten überarbeitet, Kompetenzen erweitert und Ressourcen gestärkt werden. Der Schlüssel zum Erfolg ist jedoch die Kooperation mit den ehrlichen Menschen in Belarus, Russland und weiteren östlichen Nachbarn. Die europäische Menschenrechtskonvention (von Russland, jedoch nicht von Belarus unterzeichnet) definiert die Rechte und Würde dieser Menschen; die Östliche Partnerschaft (zu der Belarus, aber nicht Russland gehört) definiert „den Dialog mit der Zivilgesellschaft…und Investitionen für die Menschen und die Gesellschaft“ als Hauptanliegen. Leider werden diese Ziele in der Praxis unzulänglich umgesetzt. Heute ist mehr denn je klar, dass die Förderung der Bildung, Gesundheit und Mobilität der Bürgerinnen und Bürger aus den Nachbarstaaten ein ausschlaggebender Bestandteil für die europäische Stabilität ist. 

Da die Anzahl der unschuldig Verhafteten und Gefolterten verheerend wächst, bitten wir unsere politischen Repräsentanten eindringlich, über einfache Solidaritätsbekundungen hinauszugehen. Zwar können Sanktionen wirksam sein, sie betreffen letztlich aber nur die herrschenden Eliten und Individuen während sie für die Bevölkerung keine Änderungen oder sogar Leid hervorbringen. Deshalb fordern wir Sie auf, einen Teil der eingefrorenen EU-Hilfsgelder zur Unterstützung der Zivilgesellschaft, Bildung und Mobilität zu nutzen. Wir benötigen großzügige Regelungen und Fördergelder für Visa, Zuschüsse und Stipendien; für akademische, therapeutische und humanitäre Aufenthalte. Wir müssen ehrgeizig und kreativ neue Wege für Bürgerdiplomatie, neue integrierte Bildungseinrichtungen und umfangreichere Möglichkeiten zur produktiven Arbeit schaffen. Schockiert von den Verbrechen des belarusischen Regimes, der fortwährenden Okkupation ukrainischen Staatsgebietes und den Zeichen einer De-Modernisierung Russlands, sind wir dazu angehalten, unsere Grenzen poröser werden zu lassen. Für die Jugend Russlands, Belarus‘ und anderer autoritärer Staaten müssen wir Chancen anbieten. Ein Hoffnungsschimmer für die kommende Generation soll auf diesem Wege entstehen.

Auf die positiven Erfahrungen transnationaler akademischer Institutionen, wie des Europäischen Hochschulinstitutes (EUI) in Florenz, der Central European University, der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder, der Europäischen Geisteswissenschaftlichen Universität, des College of Europe und CIVICA (eine Vereinigung von acht europäischen Universitäten der Sozialwissenschaften) aufbauend, müssen wir eine neue Osteuropäische Universität in einem der EU-Mitgliedsstaaten errichten. Wir, die unterzeichnenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, fordern öffentliche und private Institutionen dazu auf, eine solche Hochschule zu finanzieren und zu beherbergen. Sie würde den Entlassenen, Unterdrückten und Verfolgten neue Möglichkeiten eröffnen sowie Studierenden eine Ausbildung nach europäischem Standard ermöglichen. Wir werden unsere intellektuellen Ressourcen und unsere Erfahrung bereitstellen, um eine solche Universität zu etablieren.

(Hier das Original)

Ellen Rutten, Slavistin, Universität Amsterdam 

Alexander Etkind, Historiker, European University Institute, Florenz

Jan Claas Behrends, Historiker, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF), Potsdam & Europa-Universität Viadrina 

Ernst van Alphen, Literaturwissenschaften, Universität Leiden 

Alexander Astrov, Internatoinale Beziehungen, Central European University, Wien

Mieke Bal, Kulturswissenschaften, Universität Amsterdam

Dorothee Bohle, Politikwissenschaften, Universtität Wien

Judith Butler, Philosophie, University of California, Berkeley

Dmitrii Bykov, Schriftsteller, Moskau

Wolfgang Eichwede, Historiker, Forschungsstelle Osteuropa Bremen

Sergei Erofeev, Soziologe, Rutgers University, New Jersey

Nancy Fraser, Philosophie, New School for Social Research, New York

Juliane Fürst, Historikerin, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF), Potsdam

Masha Gessen, Distinguished Writer in Residence, Bard College

Simon Goldhill, Altertumswissenschaften, Cambridge

Leonid Gozman, Psychologe, Freie Universität Moskau

Boris Groys, Philosoph, New York University

Sergei Guriev, Ökonom, Institut d’études politiques/ Sciences Po, Paris

Gasan Guseinov, Philologe, Freie Universität, Moskau

Marianne Hirsch, Komparatistik, Columbia University, New York

Eva Illouz, Soziologie, Bezalel Academy of Arts & Design, Jerusalem

Lola Kantor-Kazovsky, Kunstgeschichte, Hebrew University of Jerusalem

Michael Kemper, Osteuropastudien, Universität Amsterdam

Ulrike Kistner, Philosohin, Universität Pretoria

Leszek Koczanowicz, Philosoph, SWPS University of Social Sciences and Humanities, Wrocław

Pavel Kolář, Historiker, Universität Konstanz

Ivan Krastev, Politikwissenschaften, Institut für die Wissenschaften vom Menschen, Wien

Geert Lovink, Kulturwissenschaften, Amsterdam University of Applied Sciences

Edward Lucas, Journalist, Centre for European Policy Analysis, London

Ingunn Lunde, Linguistik, Universität Bergen

Luciano Mecacci, Historiker, Universität Florenz

Mikhail Minakov, Philosophie, Kennan Institute, Washington, DC & journal Ideology & Politics, Kyiv

Aleksandr Morozov, Journalist, Boris Nemtsov Academic Centre for the Study of Russia, Moscow & Karls Universität, Prag

Susan Neiman, Philosophie, Einstein Forum, Potsdam

Elena Nemirovskaya, Politikwissenschaft, School of Civic Enlightenment, Riga 

Zhanna Nemtsova, Journalistin, Boris Nemtsov Academic Centre for the Study of Russia, Moskau

Joy Neumeyer, Historikerin, European University Institute, Florenz

Andrzej Nowak, Historiker, Jagiellonische Universität, Krakau

Julia Obertreis, Historikerin, Friedrich-Alexander-Universität Nürnberg-Erlangen

Luisa Passerini, Historikerin, Universität Mailand

Andrea Petö, Historikerin, Central European University, Wien

Kevin Platt, Literaturwissenschaftler, Edmund J. and Louise W. Kahn Term Professor in the Humanities, University of Pennsylvania

Serhii Plokhii, Historiker, Harvard University

Matthew Rojansky, Wilson Center’s Kennan Institute, Washington DC

Elizabeth Roosevelt Moore, Kulturwissenschaften, Cambridge

Lev Rubinstein, Schriftsteller, Moskau

Manfred Sapper, Politikwissenschaft, Zeitschrift Osteuropa, Berlin

Saskia Sassen, Soziologie, Columbia University, New York

Jos Schaeken, Slavistik, Leiden University

Yurii Senokosov, Politikwissenschaft, School of Civic Enlightenment, Riga

Timothy Snyder, Historiker, Yale University

Olga Tokarczuk, Schriftstellerin & Nobel-Preisträgerin, Krajanów

Jay Winter, Historiker, Yale University

Eli Zaretsky, Historiker, New School for Social Research, New York

Boris Zilber, Mathematik, Oxford

Slavoj Žižek, Philosophie, Universität Ljubljana