Auch 75 Jahre nach Ende des Holocaust pflegen die Deutschen zum Judenhass ein inniges Verhältnis.

Wer nach Auschwitz-Birkenau fährt, braucht weder Hunger noch Durst zu fürchten. Direkt vor der Gedenkstätte, auf dem Parkplatz, verkauft eine ältere Frau polnisches Gebäck; ein paar Schritte weiter wird für eine Handvoll Zlottys Cappuccino der italienischen Rösterei Segafredo ausgeschenkt – für den eiligen Genießer auch im Pappbecher zum Mitnehmen. Im Souvenirshop wiederum kann man sich mit Videos, T-Shirts und Kühlschrank-Magneten eindecken, die nach der Rückkehr an den Trip in die Gedenkstätte erinnern. Kurzum: Aus dem einstigen deutschen Vernichtungslager ist eine Touristenattraktion geworden, die nach den gleichen marktwirtschaftlichen Gesetzen funktioniert wie Disneyland.

Sicher, das kann man geschmacklos finden. Aber man muss es nicht, man kann es auch ganz anders sehen: An dem Ort, an dem die Deutschen einst Zivilisationsbruch begingen, haben die Polen in den letzten Jahrzehnten dafür gesorgt, dass die Zivilisation wieder eingekehrt ist. Wo die Deutschen einst mordeten, sieht man heute Menschen miteinander essen und trinken, man sieht sie miteinander sprechen, weinen und lachen. Und ja, es ist auch ein Ort, an dem Menschen friedlich miteinander Handel treiben. Auschwitz ist für Juden zu einem Ort geworden, an dem sie sich 75 Jahre nach Befreiung des Vernichtungslagers sicher bewegen können.

So viel zu den guten Nachrichten. Der Hass auf die Juden hingegen war mit der Lagerschließung nicht aus der Welt und noch weniger aus den Köpfen der Täter. Im Gegenteil, sie haben ihn weitergegeben an ihre Kinder und Enkelkinder. Mit der Konsequenz, dass Deutschland heute zwar kein Sperrgebiet mehr ist für Juden. Ein sicherer Ort aber ist das Land auch nicht geworden.

Man hat sich redlich bemüht

Immerhin, wir haben es versucht. Wir haben uns bemüht darum, den Antisemitismus aus Deutschland zu verbannen. Nehmen wir die Hauptstadt Berlin: Dort leistet sich nicht nur die Landesverwaltung einen Antisemitismusbeauftragten. Auch die Berliner Polizei und die Berliner Generalstaatsanwaltschaft haben für den Kampf gegen den Judenhass jeweils eine eigene Planstelle eingerichtet. Hinzu kommen unzählige Projekte und Initiativen, mit denen Kinder, Jugendliche und Erwachsene für das Thema “sensibilisiert” werden sollen, wie es so schön heißt.

Nicht so schön: Die Zahl der Straftaten gegen Juden steigt – in Berlin und anderswo. Trotz aller Antisemitismusbeauftragten, trotz aller Antisemitismusinitiativen und trotz aller Ressourcen, die in den siebeneinhalb Jahrzehnten nach Auschwitz in Deutschland auf den Kampf gegen den Judenhass verwendet wurden. Das legt den Schluss nahe: Die Deutschen sind, ganz nüchtern betrachtet, schlecht im Kampf gegen Antisemitismus.

Und mit schlecht ist nicht nur ein bisschen schlecht gemeint, sondern: richtig, richtig mies. 

Denn diese Republik hat offensichtlich nicht nur Probleme damit, den Antisemitismus zu bekämpfen. Nein, sie scheitert schon daran, Hass auf Juden überhaupt zu erkennen.

Motive? Unbekannt.

Zu dieser Einsicht muss kommen, wer in den vergangenen Monaten die Nachrichten verfolgt hat. Zuletzt war da etwa von einem Mann zu lesen, der mit gezücktem Messer auf eine Berliner Synagoge zulief. Von einer Tat aber, die vom Hass auf Juden motiviert war, wollten die hauptstädtischen Polizisten nichts wissen: “In einer ersten Befragung ließ sich die Motivlage des Mannes nicht klären”, heißt es in der Polizeimeldung. Auch eine richterlich angeordnete Durchsuchung der Wohnung des Mannes habe nicht zur Klärung eines möglichen Motivs geführt. 

Ein paar Tage später dann rannte ein bewaffneter Neonazi an Jom Kippur ungestört durch die Innenstadt von Halle. Er schoss mit einem Gewehr auf eine Synagoge, warf Sprengsätze auf einen jüdischen Friedhof, ermordete letztlich zwei Menschen und verletzte zwei weitere. Erst nach anderthalb Stunden gelang es der Polizei, das antisemitische Pogrom von Halle zu beenden.

Sachsen-Anhalts Innenminister Stahlknecht fand dennoch lobende Worte für die Arbeit der Beamten. Seine Sicherheitsbehörden hätten sich keine Vorwürfe zu machen, sagte Stahlknecht der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung”. Die Beamten hätten „gute Arbeit“ geleistet, befand er. Und wurde dabei nicht mal rot vor Scham.

Hass aus der Mitte der Gesellschaft

Doch Juden müssen in Deutschland nicht nur durchgeknallte Neonazis fürchten. Die Verachtung schlägt ihnen mittlerweile aus der Mitte der Gesellschaft entgegen. Das bewies kürzlich das „Zentrum für Politische Schönheit“, das eine “Gedenksäule” mit der (vermeintlichen) Asche von Holocaust-Opfern aus Auschwitz füllte und vor dem Berliner Reichstag aufstellte. Man wolle damit vor einer Zusammenarbeit der Unionsparteien mit der AfD warnen, hieß es vom Kollektiv.

Mit dieser schäbigen Aktion standen die Aktivisten in guter deutscher Tradition. Denn schon im Holocaust ging die Verachtung deutscher Antisemiten für ihre jüdischen Opfer noch über den Tod hinaus: Wohl wissend, dass die Halacha die Feuerbestattung untersagt, verbrannten die Deutschen in Auschwitz die Leichname der Juden. Jetzt, Jahrzehnte später, halten es ein paar Enkel der deutschen Täter für eine opportune Idee, die Asche der Juden, die zu Lebzeiten und auch danach misshandelt wurden, wieder auszugraben und für eine politische Aktion zu missbrauchen. Antisemitismus-Vorwürfe wiesen die Aktivisten jedoch brüsk zurück.

Wie gesagt: Deutschland ist richtig, richtig mies im Kampf gegen den Judenhass. 

Düstere Aussichten

Hoffnung auf Besserung? Besteht keine. Oder nur sehr geringe: Denn wenn die vergangenen zwei Jahrtausende etwas bewiesen haben, dann war es die Erkenntnis, dass der Antisemitismus mit unserer Gesellschaften verwachsen ist wie die Flechte mit dem Pilz. Könige, Kaiser und Kanzler kamen und gingen, der Antisemitismus aber blieb.

Dennoch gäbe es Dinge, die man tun könnte. 

Zum Beispiel ein bisschen Mut zur Wahrheit aufbringen. Denn wie jeder Anonyme Alkoholiker weiß, ist der erster Schritt zur Besserung das Eingeständnis darüber, überhaupt ein Problem zu haben. Die Deutschen, die zum Judenhass traditionell ein ähnliches inniges Verhältnis pflegen wie die Pegeltrinker zum Schnaps, wären daher gut beraten, sich endlich einzugestehen, was sich ohnehin nicht länger leugnen lässt: der Judenhass ist, anders als es in den politischen Sonntagsreden behauptet wird, sehr wohl Teil von Deutschland. Und er ist eben nicht nur ein Ressentiment, das sich bei einer Handvoll Neonazis findet. Auch in der Mitte der Gesellschaft wird antisemitisch gedacht. 

Dieses Eingeständnis würde aber voraussetzen, dass wir Antisemitismus endlich als Phänomen begreifen, das nicht erst in Auschwitz anfängt.