Vor 100 Jahren wurde Elisabeth Noelle-Neumann geboren. Ihre Theorie der „Schweigespirale“ ist heute so aktuell wie lange nicht mehr: Sie hilft, die Taktiken der Populisten zu verstehen.

Heute vor 100 Jahren, am 19. Dezember 1916, wurde Elisabeth Noelle-Neumann geboren, die Gründerin und langjährige Leiterin des Instituts für Demoskopie Allensbach und meine akademische Lehrerin. Es lohnt sich in diesen Tagen nicht nur wegen dieses Datums an sie zu denken, sondern auch, weil ihr wissenschaftliches Hauptwerk, die Theorie der „Schweigespirale“, helfen kann, das aktuelle politische Klima in Deutschland zu verstehen.

Die Theorie der Schweigespirale besagt im Wesentlichen das Folgende:

Die meisten Menschen empfinden Isolationsfurcht. Sie haben eine – wahrscheinlich im Laufe der Evolution erworbene – Angst davor, von ihrer Umgebung zurückgewiesen zu werden. Deshalb beobachten Sie laufend und meist unbewusst das Verhalten anderer Personen in ihrer Umwelt und registrieren aufmerksam, welche Meinungen und Verhaltensweisen die Zustimmung der Mehrheit in der Gesellschaft finden und welche nicht. Noelle-Neumann nennt diese Fähigkeit der Einschätzung von Meinungsklima das „quasistatistische Organ“.

Weil die meisten Menschen die Isolation fürchten, neigen sie dazu, sich mit öffentlichen Äußerungen zurückzuhalten, wenn sie merken, dass sie mit ihrer Meinung in der Öffentlichkeit empörten Widerspruch, Hohngelächter, Verachtung, eisiges Schweigen oder ähnliche Isolationsdrohungen auf sich ziehen. Umgekehrt werden diejenigen, die merken, dass sie mit ihrer Meinung Beifall finden, diese ohne Furcht frei und selbstbewusst vertreten.

Diejenigen, die sich laut und selbstbewusst zu ihrer Meinung bekennen, verstärken dadurch den Eindruck, ihre Position sei die der Mehrheit. Damit verstärken sie auch die Isolationsdrohung gegenüber den Vertretern der Gegenmeinung und als Folge davon wiederum deren Gefühl, im Hintertreffen zu sein. Ein Spiralprozess setzt ein (darum der Begriff „Schweigespirale“): Die einen stecken sich gegenseitig zum Reden an, werden immer lauter und selbstbewusster, die anderen fühlen sich mehr und mehr in der Minderheit und verstummen.

Zum Verständnis des heutigen gesellschaftlichen Klimas sind besonders zwei Aspekte dieser Theorie bedeutsam. Zum einen: Der „quasistatistische Sinn“ kann täuschen. Das, was die Menschen als die vermeintliche Mehrheitsmeinung wahrnehmen, muss nicht unbedingt die tatsächliche Mehrheitsmeinung sein.

Zweitens ist ein Randaspekt der Theorie von Bedeutung, der auch in der Fachwelt nur selten beachtet wird. Noelle-Neumann beschreibt mit ihrer Theorie das Verhalten der meisten Menschen: Die meisten Menschen empfinden Isolationsfucht und neigen dazu zu verstummen, wenn sie sich in der Minderheit fühlen. Doch nicht alle.

Es gibt auch den so genannten „harten Kern“: Das sind Menschen, die die Isolation nicht fürchten und auch dann ihre Redebereitschaft nicht verlieren, wenn sie mit ihrer Position scheinbar hoffnungslos in der Minderheit sind. Sie sind damit in gewisser Hinsicht stärker als andere: Wer als einziger in einer größeren Gruppe frei von Isolationsfurcht ist, kann rasch zu deren Anführer werden. Solche Menschen handeln wider das gängige Muster, aber die anderen sind darauf nicht vorbereitet und reagieren nach gängigem Muster. Die Vertreter der harten Kerns reden, als seien sie in der Mehrheit. Und das kann andere zu dem Eindruck verleiten, sie seien es tatsächlich.

Diktatoren und Populisten in aller Welt und ihre Propagandisten zeigen immer wieder ein tiefes Verständnis für diese Mechanismen. Sie müssen das Prinzip gar nicht vollständig intellektuell durchdrungen haben. Sie wissen instinktiv, worauf es ankommt. Der Redaktion des ZDF-Magazins „Frontal 21“ wurde in diesem Herbst ein Datensatz mit internen Emails der ostukrainischen Rebellen zugespielt. Darunter befand sich auch ein Strategiepapier russischer sogenannter „Berater“. Darin hieß es: „Es sollen Aktivistengruppen für Internetkommentare in Blogs, Foren und sozialen Netzwerken aufgestellt werden (…) aufgrund der Intensität ihrer Arbeit (wird) der Eindruck erweckt, die Mehrheit denkt so.“

Wie dieser Hebel angesetzt wird, zeigen die Propagandisten der AfD: Wir wissen aus unseren Umfragen, dass der Anteil derjenigen an der Bevölkerung, die für die Parolen dieser Partei anfällig sind, bei etwa 20 Prozent liegt. Man kann beklagen, dass das viele sind, aber es handelt sich dennoch eindeutig um eine recht kleine Minderheit. Und doch bekommt jeder, der diese Tatsache öffentlich präsentiert, die Folgen ihrer wilden Entschlossenheit zu spüren, den gegenteiligen Eindruck zu erwecken.

Ich konnte das eine Zeitlang bei meinen Artikeln erleben, die ich regelmäßig für die FAZ schreibe, bevor diese die Kommentarfunktion ihrer Internetseite weitgehend ausschaltete. Wann immer ich zeigte, dass die Mehrheit der Bevölkerung nicht der Ansicht ist, dass die Europäische Union eine dem Untergang geweihte Diktatur sei, dass die Deutschen sich mit großer Mehrheit nicht zu Russland sondern zum Westen hingezogen fühlen, dass sie nicht daran denken, in Kürze die Bundeskanzlerin zum Teufel zu jagen und Pegida nicht das Volk ist, quoll Minuten nach der Veröffentlichung im Internet die Kommentarspalte über von hunderten wüster Beschimpfungen.

Dieses Vorgehen hat System und eine klare Funktion: Es ist ein Versuch der Manipulation unseres quasistatistischen Organs.

Man kann annehmen, dass die meisten Menschen, die in Dresden „wir sind das Volk“ brüllen, dies tatsächlich glauben. Doch die Drahtzieher, die sie aufgehetzt haben, sind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht so naiv. Sie wissen genau, dass sie für eine kleine Minderheit stehen. Sie wissen aber auch, dass es für ihren Erfolg entscheidend ist, den falschen Eindruck zu erwecken, in der Mehrheit zu sein. Wenn ihnen dies gelingt, werden ihnen nämlich Heerscharen von arglosen Unpolitischen, Eingeschüchterten und Opportunisten zulaufen. Und dann wäre der Punkt nicht mehr weit, an dem sie tatsächlich die Mehrheit auf ihre Seite ziehen könnten.

 

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Thomas Petersen, Projektleiter am Institut für Demoskopie Allensbach, berichtet in der Reihe „Aufzeichnungen eines Erbsenzählers“ in unregelmäßigen Abständen über das Leben als Umfrageforscher. Die gesamte Erbsenzähler-Reihe kann hier nachgelesen werden.