Es ist wohl die bislang schwierigste Mission der Ampel-Koalition: unseren bisherigen Wohlstand retten. Warum das nicht klappen kann und das Vorhaben den Falschen nützt, steht hier.

Es gibt im Bereich der Musik den Begriff der „Standards“, das sind im Jazz zum Beispiel sehr beliebte Stücke, die von fast allen Solisten und Bands zur Freude der Zuhörer immer wieder gespielt werden, wobei die Interpretationen natürlich variieren können.

Auch in der deutschen Politik gibt es solche Standards. Dort lautet der beliebteste Standard der letzten Jahrzehnte: Entlastung. Jede Regierung hatte ihn auf der Playlist, und wenn eine Bundes- oder Landtagswahl anstand, konnten sich die Steuerzahler über steigende Nettoeinkommen freuen und das Gefühl höheren Wohlstands genießen. Wer mag daran nicht Gefallen finden?

Wenn man aber genauer hinschaute und nicht zu Verdrängung neigte, trübte sich schon länger die Freude, weil immer deutlicher wurde, dass diese fortgesetzte Wohlstandsrente auf Verschwendung, Ausbeutung, strategisch verbilligten Energieträgern und externalisierten, sprich: in andere Länder und die Zukunft verlagerten Kosten beruhte. Deutschlands Wohlstand war zu einem großen Teil das Ergebnis von Putins Gunst und ökologischem Pump. Eine prekäre Mischung. Aber irgendwann wird Schuld beglichen, und Schulden werden eingetrieben. An den Punkt kommen wir gerade. Das wird unzureichend, aber ökonomisch passend als Inflation bezeichnet. Es macht letztlich keinen Unterschied, ob die hohen Gaspreise eine schockschnelle Folge von Krieg und Sanktionen sind oder von sich langsam erhöhenden und notwendigen CO2-Steuern: Die Preise beginnen die Wahrheit zu sagen. Das Leben in der Zukunft wird nicht billiger. Unser bisheriger Wohlstand bröckelt.

WER SOLL DAS BEZAHLEN? WER HAT SOVIEL GELD?

Die Frage, an deren Beantwortung keine Regierung vorbeikommt, lautet: Wer kann sich das leisten? Die Ampel-Koalition ist momentan mit der Tatsache konfrontiert, dass sie mehrere große Probleme gleichzeitig lösen muss: Sie muss erhebliche finanzielle Anstrengungen für die äußere Sicherheit unternehmen (und das heißt auch, die Ukraine mit Waffen und Geld unterstützen); sie muss gewaltige Finanzmittel für die Anpassung an den Klimawandel bereitstellen (also für unsere tägliche Sicherheit); sie muss die ökologische Transformation der Wirtschaft anstoßen und mithilfe der Unternehmen vorantreiben; sie muss verhindern, dass die finanzielle Klemme von etwa einem Viertel der Gesellschaft nicht zu einer existentiellen Not anwächst; und sie muss eine Rezession verhindern und gleichzeitig die Schuldenbremse einhalten. 

Nicht jedes dieser Probleme ist neu und wäre jeweils wahrscheinlich auch nicht zu einem riesigen Problem angeschwollen, wenn die vergangenen 16 Jahre politisch nicht solch eine sträflich verschluderte Zeit gewesen wären. Aber schauen wir uns die Probleme im Einzelnen an: 

Angesichts der geopolitischen Lage mit Kriegen, Krisen und Konflikten und der Ungewissheit über die Zukunft der USA braucht es eine starke, gut ausgerüstete Bundeswehr. Es wäre sträflich, irgendwie auf Europa zu warten. Durch Finnland und Schweden ist die NATO zunächst stärker geworden, aber alle Bündnismitglieder erwarten, dass Deutschland dies nicht wieder für Ausflüchte nutzt, weniger in Rüstung zu investieren als angekündigt.

Die vergangenen Jahre haben deutlich gemacht, dass die Anpassung an den Klimawandel und den Erhalt des „Sprinquells alles Reichtums“ – sprich: der Natur – zügige und erhebliche Investitionen in die Infrastruktur, den Schutz der Böden und den Umbau der Wälder und Städte erfordert. Denn selbst wenn alle Räder stillstünden und wir das Atmen einstellen würden – der Klimawandel wäre mit all seiner zerstörerischen Kraft immer noch da. Die Kosten für Bund, Länder, Städte und Gemeinden sind noch gar nicht zu beziffern. Nur eines ist sicher: Das kostet!

Die aus vielen Gründen nötige ökologische Transformation der Wirtschaft duldet auch keinen Aufschub. Effizienzrevolution, Aufbau einer Kreislaufökonomie, Verkehrs- und Energiewende werden Staat und Unternehmen finanziell ziemlich in Anspruch nehmen. Am Ende wird man damit auch gut verdienen – aber zunächst kostet es!

In den vergangenen sechs Monaten sind die Preise bei Lebensmitteln und Energie überproportional gestiegen, d.h. deutlich über dem Inflationsdurchschnitt. Diese Teuerung trifft besonders die Armen und Geringverdiener. Sie kamen bisher mittels Sozialtransfers über die Runden, aber sie haben weder Polster noch Spielräume, können also nicht auf irgendetwas verzichten, um die Teuerungen bei Lebensmitteln und Energie abzufedern.

Im Jahr 1973 hat eine Reduzierung der Öllieferungen aus dem arabischen Raum um gerade Mal 5 Prozent schon für eine jahrelange Rezession gesorgt. Damals war die energetische Abhängigkeit vom Öl das, was wir heute mit dem Gas erleben. Es ist nun ein Wettrennen zwischen Putin und Wirtschaftsminister Habeck: Ist die Diversifizierung (auch mit Atomenergie!) schneller und umfassender als die russischen Drehungen am Abstellhahn, die die Preise in die Höhe treiben?

GESCHENKE FÜR ALLE

In diesen Zweikampf eingemischt haben sich nun Finanzminister Christian Lindner und Kanzler Olaf Scholz selbst. Es gibt da eine Gemeinsamkeit zwischen diesen Regierungspartnern: Beide wollen retten, was nicht zu retten ist: unseren bisherigen Wohlstand. Der Kanzler selbst gibt da die Richtung mit einer von ihm immer wieder gern verwendeten Phrase vor: dass er der Kanzler aller Bürgerinnen und Bürger sei. Ja, was denn sonst? Aber zunächst einmal ist Scholz der Kanzler dieses Landes, dieses Staates, dieses Gemeinwesens – und das Wohlergehen dieses Landes muss nicht bedeuten, dass jedem ein Geschenk gemacht wird. Es benötigt auch nicht jeder einen Treppenlift, einen Parkplatz oder den Zuspruch eines Therapeuten. Trotzdem bastelt die Ampel an gleich drei Entlastungspaketen, senkt den Spritpreis auch für durstige Spritschlucker und versucht sich an der Behebung der kalten Progression – mit dem gleichen Ergebnis wie schon bei ihren Vorgängern: Immer kommt heraus, dass Mehrverdiener absolut davon mehr profitieren als Schlechtverdiener. Das konnte man früher noch nachvollziehen, wenn man bedenkt, dass die Mehrverdiener proportional auch mehr für den Bundeshaushalt tun und rund ein Drittel der Haushaltsmittel schon für Soziales ausgegeben wird. Aber wir leben jetzt nicht mehr in der lang gehegten Illusion einer ewigen Schönwetterzeit, in einer von vier Merkel-Regierungen betulich verwalteten Republik, die alle Kräfte darauf verwendete, einen politischen Quietismus zur Staatsräson zu erheben. Jetzt ist allerorten Krise. Jetzt ist Realzeit. Und da kann man nicht die alten Problemlöser und Instrumente hervorholen. Es wäre so unsinnig, wie Antibiotika gegen Viren einzunehmen.

Interessant ist dabei die Rolle von Lindner und der FDP. Das ist immerhin eine Partei, die sonst gerne an die Eigenverantwortung der Bürger appelliert. Das ist mir nicht unsympathisch. Aber nun wäre die Zeit, das noch einmal zu tun – und zwar bei jenen, die sehr gut verdienen, die wegen ihres hohen Einkommens Rücklagen, Eigentum und somit jede Menge Spielräume haben. Um die braucht sich angesichts der hohen Inflation die Regierung nicht kümmern, die können die Probleme stemmen, die kaufen sich einfach weniger Swarovski-Tinnef, und schon sind die nicht vorhandenen Sorgen verflogen. 

Und weiß die FDP eigentlich, wie nah sie schon bei den Apologeten eines Bedingungslosen Grundeinkommens stehen: Jeder, einfach jeder, ob er arbeitet oder nicht, gut verdient oder nicht, möge eine solche staatliche Apanage bekommen – wegen der Gerechtigkeit? Die deutsche Politik sinkt immer mehr auf das Niveau eines Kindergeburtstags.      

GEGEN Mt 25, 29

Es sind die Menschen mit niedrigen Einkommen, Rentner und Arbeitslose, die jetzt besondere staatliche Hilfe benötigen – weil sie einfach keine finanziellen Spielräume haben. Am besten wären Direktzahlungen, auch die weitere Erhöhung von Grundfreibeträgen würde helfen (wenn auch nicht allen Bedürftigen). Direktzahlungen in Form eines „Energiegeldes“ an Bedürftige waren in den vergangenen Jahren fester Bestandteil bei allen Konzepten, die eine Erhöhung der CO2-Steuer vorsahen, um als notwendige Klimaschutzmaßnahme Anreize zum Energiesparen zu geben. Es wäre jetzt Zeit, diese Konzepte aus den Schubladen zu holen. Dazu würde auch gehören, den Öffentlichen Nahverkehr zu verbilligen sowie den sozialen und ökologischen Wohnungsbau voranbringen. Der Eigenheimbesitzer kann sich eine Wärmepumpe einbauen, der Bewohner der Mietskaserne nicht.

Es braucht in der jetzigen Situation jedenfalls Maßnahmen, die dem bekannten Vers aus dem Matthäus-Evangelium (Mt 25, 29) ernsthaft widersprechen: „Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat.“