Auf dem polnischen Markt Hohenwutzen gibt es billigere Zigaretten als in Berlin. Aber so richtig zieht das nicht mehr.

Am Marzahner Plattenbau Ecke Allee der Kosmonauten/Rhinstraße steht ein Busschuppen. Von hier geht es los nach Polen, nach Hohenwutzen, direkt auf der anderen Seite der Oder. Zehn Euro hin und zurück. Kurz vor 9 Uhr stehen die Butterfahrer da und rauchen. Bald gibt es ja Nachschub.

Im Bus gibt es viel schweren Atem auf dem letzten Loch, den Duft von verteerten Lungen. Ein Rentner mit frisch rasierter Glatze und Fünf-Tage-Bart liest DDR-Literatur. „Rolf war politisch nun wirklich nicht so weit, dass wir diese Möglichkeit ernsthaft erwogen hatten“, steht da in seinem auf DDR-Papier gedruckten Ost-Buch.

Eine Rentnerin, Ende 50, liest was Neueres, ein Buch mit dem Titel „Der kategorische Imperativ ist keine Stellung beim Sex“.

Ein Mann, etwa 110 Kilo, 1,70 Meter groß, Lemmy-Kilmister-Gedächtnis-Schnurbart, leidet an einem rasselnden Raucherhusten. Später auf dem Markt will er filterlose Zigaretten kaufen, die gibt es aber nicht mehr. „Wurde verboten“, sagt ein Verkäufer.

Auf den zwei Fernsehern im Bus läuft „Mr. Bean“ auf Repeat, ohne Ton. Im „Polenmarkt“-Prospekt steht, dass es da Straßen gibt: KuDamm, Schopenhauer Straße und Heinzstraße heißen die. 800 Zigaretten darf man einführen, ein Kilogramm Rauchtabak und zehn Liter Schnaps.

Als letzte betreten zwei gepiercte, 90er-Love-Parade-Mäuse mit verwaschenen Tätowierungen den Bus. Eine liest den „Berliner Kurier“, hört ohrenbetäubenden 90er-Trance auf Kopfhörern. Sie hat ein rotes Tattoo auf dem Hals, das wohl Messerschnitte imitieren soll.

Etwas über eine Stunde dauern die 60 Kilometer zur Grenze. Auf Landstraßen geht es vorbei an grünen Wiesen, Plattenbauten und Bad Freienwalde, dem internationalen Ski-Springer-Städtchen.

Einst war hier eine Papierfabrik

Hinter der Brücke über die schöne Oder sind wir da. Riesige Fabrik-Ruinen springen ins Auge. Ein weiterer Blick ins Prospekt zeigt. Hier stand zur Nazizeit eine Papierfabrik. Nach dem Krieg demontierten die Sowjets alle Maschinen, schafften sie in ihr Reich. Seitdem stehen da die entkernten Gerippe, die sie den Polen überließen. In ein paar von ihnen sind die 200 beheizten Marktstände gebaut worden.

Die anderen 500 Verkaufszelte stehen unter freiem Himmel. 2012 brannte bei einem Großfeuer, welches sich durch das allseits erhältliche „Fajerwerk“ entfachte, das meiste ab. Auf Youtube gibt es eine Aufnahme davon.

Die meisten Stände bieten Zigaretten, Gemüse, Wurst, Käse, scharfe Unkrautvernichter und ziemlich hässliche Gartenzwerge und -drachen aus Plastik an. Ein paar Läden verkaufen auch Waffen. Messer, Luftpistolen, Elektroschocker. Und Handgranaten für vier Euro.

„Sind das Attrappen?“, frage ich. „Ja, brauchst Du echte?“, fragt der Verkäufer. „Hast Du welche?“, frage ich. „Weiß nicht, gerade nicht“, sagt er.
Die Zigaretten kosten je nach Qualität zwischen 25 und 35 Euro die Stange. In der Chopinallee gibt es auch einen Shop mit Gummimuschis. Frieseure bieten ihre Dienste an.

Angelika Schack (52) ist extra dafür mit ihrer Schwester Ramona (46) aus Bad Freienwalde rübergekommen. „Hier zahle ich 12 Euro statt wie bei uns 32“, sagt sie. Und ein paar Zigarettenstangen wird sie auch einstecken. Auch der Kuchen sei sehr gut, schön drapiert mit Sahne.

Rentner durchforsten den Markt. „Bitteschön, Damen, bitte“, ruft ein Verkäufer, verkauft einer älteren Dame zehn Doppeldotter-Eier für drei Euro. Vier Pflaumen kosten einen Euro. Ein Schnäppchen ist das nicht. „Wir können unsere Familien davon ernähren“, sagt ein Verkäufer.

Wir laufen aus dem Markt an den Fabrik-Ruinen vorbei. Hier stehen auch markteigene Müllwagen. Es sind ausgediente, leicht rostige Fahrzeuge der Berliner Stadtreinigung. Die hat der deutsche Chef das Markts wohl aus der Hauptstadt rübergeschafft.

Am Oder-Fluss kann man campen. Kostenlos. Einst beschossen sich hier Rote Armee- und Wehrmachtssoldaten. Fritz Bäcker (73) ist mit seiner Freundin Vera Zander (65) im Campingwagen Marke Fiat Chausson aus Berlin gekommen, steht hier seit drei Tagen. Im gefällt die Natur, die Wiese am Fluss, er läuft mit freiem Oberkörper rum. Ist schwül hier am Fluss. Auch wenn der Markt nicht mehr das sei, was er mal war. „Der Tabak ist das Einzige, was günstig ist“, sagt Bäcker.

Sie, graue Haare, fröhlich, hat geangelt die drei Tage. Sechs Euro kostet das pro Tag. Die Barsche, Karpfen und Plötzen hat sie dann direkt vor dem Wagen gegrillt. Ost-Idylle. Wasser und Duschen sind umsonst. Nur der Strom kostet etwas. „Zwei Euro haben bei uns genügt“, sagt Bäcker.

Außer dem Pärchen stehen noch zwei weitere Camper da. Einer davon schon seit zwei Monaten. „Wenn ich in Deutschland stehe, habe ich gleich das Ordnungsamt und die Polizei am Arsch“, sagt der Rentner. „Und Campingplatzbetreiber wollen Millionäre werden.“ Er schimpft über Deutschland, ein wenig über die Flüchtlingspolitik, wahrscheinlich wählt er die AfD oder die Linke.

Er hat noch eine Wohnung in Berlin, aber im Sommer ist er oft hier. Wenn es kälter wird, geht es dann für sechs Monate nach Italien. Da stellt er sich dann an Fischereihäfen hin, am liebsten auf Sizilien. „Strom brauche ich nicht, ich hab Solar“, sagt er und deutet auf den Dach seines Campers.

Mittlerweile ist auch der 12-Uhr-Bus aus Berlin angekommen. Wir fragen einen Mitfünfziger, der samt Familie gekommen ist, was er hier mache. „Zigaretten, Haare schneiden, tanken“, sagt er. „Und Blumen“, fügt seine Frau hinzu. Das Benzin ist mit 1,10 Euro pro Liter tatsächlich etwas billiger als in Deutschland. Manche kaufen sich für zwei Euro 20-Liter-Kanister und bunkern.

Mittendrin ein Nazi-Shop

Inmitten der harmlosen Zeltläden mit Ramsch ist auch ein Stand, der NS-Insignien verkauft. Da gibt es dann nachgemachte Hakenkreuzdolche für 50 Euro und echte für 100 Euro. Dabei sind auch „Arbeitsbücher“ aus der Nazizeit. In eines trug ein Hinrich Selle seine Arbeitsstellen ein. Damit sollte laut einem Gesetz von 1935 eine „zweckentsprechende Verteilung der Arbeitskräfte in der deutschen Wirtschaft“ gewährleistet werden.

Hinten an der Wand hängen Neonazi-Shirts. „Landser – Deutsche Wut“, steht auf einem. Ein alter Deutscher, Typ Militaria-Sammler, kauft einen der Hakenkreuz-Dolche. „Sag Bescheid, wenn Du wieder was Gutes hast“, raunt er dem Verkäufer zu.

Was auffällt: Im Gegensatz zu vielen anderen Basaren wie etwa in der Türkei gibt es hier wenig gefälschte Markenware. Nur ein paar Eastpack-Bauchtaschen, Roberto-Geissini-Shirts (die von den Geissens) und Film-DVDs sind zweifelhaften Ursprungs. Und was früher mal zog, interessiert jetzt kaum noch. Seit es illegale Streaming-Dienste gibt, kauft kaum noch jemand die schwarzgebrannte Ware.

In dem Zehn-Euro-Ticket ist auch ein Zwei-Euro-Rabat für Restaurants enthalten. Wir kehren ins Restaurant „An der Oder“ ein, das wie alles hier einen deutschen Namen trägt. Das Schnitzel mit Pommes und polnischen Salaten für 4,40 Euro statt 6,40 Euro schmeckt gut.

Erdebeerverkäuferin und B.Z.-Abonnentin Gudrun Schwarz (74) ist mit dem Auto aus Berlin gekommen mit zwei Freundinnen und Hündchen Pele (13). Sie hat sich für zwei Euro zwei große Schmorgurken gekauft. „Die kommen in die Pfanne mit Speck, Zwiebeln und Dill. Die gibt es bei uns nicht so schön“, sagt sie. Dazu dann noch eine Stange Zigaretten. Warum nicht vier wie erlaubt? „Ich will nicht so viel rauchen“, sagt sie.

Diese Gewissensbisse haben Bauer Paul (20) und DHL-Fahrerin Monique (19) aus dem nahen Dannenberg nicht. Sie rauchen jeweils vier Schachteln am Tag, „Minimum“. Sie sind noch jung und vertragen das scheinbar ganz gut. „Wenn man Stress im Beruf hat, hilft das. Dann sind es auch mal sechs“, sagt Paul. Sie haben beide den Tag freibekommen, sind sowieso mindestens zwei Mal die Woche hier. „Hier zahlen wir für die Stange Pall Mall 32 Euro. In Berlin gibt es die bei den Vietnamesen für 20 Euro, aber die schmecken nicht.“

Im Verwaltungsgebäude, das dem Anschein nach mit dem abgewetzten Holzdielenboden auch schon zu NS-Zeiten dem Fabrik-Chef als Bürohaus diente, ist heute die Marktleitung. Der deutsche Chef ist gerade nicht da. Ein Angestellter sitzt vor zwei Bildschirmen mit 43 Überwachungskameras und hat alles im Blick.

„Uns gibt es seit 1992“, sagt der Deutsch-Pole. „Wir haben nur deutschsprachige Händler, die Preise regeln die selber.“ Wie viele Menschen täglich kommen, wie sich die Besucherzahlen entwickelt haben, wisse er nicht. Es müssten weniger geworden sein. Vor den EU-Beitritten Polens und Tschechiens gab es auf den Märkten entlang der Grenze noch extreme Schnäppchen. Eine Stange russischer Zigaretten mit trockenem Tabak für zehn D-Mark etwa. Das ist jetzt verboten.

Polnischer Karpfen

Unten am Fluss angelt jetzt der Vietnamese Dang (61) auf Karpfen. Er ist mit seinem alten Japaner extra aus Berlin rübergefahren. Auf der deutschen Oderseite würde er für die Tages-Angelkarte zehn Euro zahlen, also vier mehr. Die Strömung ist schnell, er hat noch nichts gefangen.

In einer kleinen Einbuchtung ist das Wasser so ruhig, dass man baden kann, was außer einem Hund kaum jemand tut. Es ist zwar ziemlich schlammig, aber ansonsten sauber. Viele kleine Fischlein haben hier ihre Kinderstube. Blaue Blumen blühen. Schön ist es.

Der Tag neigt sich dem Ende zu. Auf dem Markt sitzt Angelhändler Ryszard (47) in seinem Zelt und liest auf Polnisch „The Man in the High Castle“ von Philip K. Dick. Die Story, Deutschland und Japan haben den Zweiten Weltkrieg gewonnen und sich die USA aufgeteilt, wurde von Amazon in einer Serie verfilmt, aber er mag das nicht. „Ich bin ein Bücherwurm, Bücher sind immer besser“, sagt er. 1000 Bände habe er zu Hause.

Dann sagt er etwas traurig. „Endlich Feierabend, keine Kunden.“ Und das ist ein Eindruck, der sich an diesem Donnerstag auf dem Polenmarkt Hohenwutzen verfestigt. Die Zigaretten sind noch relativ günstig. Aber ansonsten haben sich die Preise durch den EU-Beitritt Polens dem deutschen Markt angeglichen. Im Landesinneren sollen sie etwas günstiger sein.

Doch die niedrigen Gehälter – Polen verdienen bei einem guten Vollzeitjob umgerechnet oft nicht mehr als 700 Euro netto im Monat – zeigen: Die Nachbarn der Deutschen haben es nicht leicht. Sollten die Polen ihren Zloty verlieren und den Euro bekommen, könnte sich – so fürchten es dort viele – die Preissituation noch verschärfen.

Cześć Tristesse

Auch im etwa 300 Meter entfernten Friseursalon an der Schnellstraße ins polnische Landesinnere ist nichts los. Hier arbeitet im ersten Stock Adriana (23), rot gefärbte Haare, feines Gesicht, Brille, neben einem Sex-Shop mit dem Motto: „Spaß beginnt mit guten Ideen“. Polnisches Radio plärt, es ist dunkel, keine Kunden. Draußen rauschen Autos vorbei.

An den Wänden hängen Spiegel mit golden verzierten, geschwungenen Rahmen. Der Chef Slawomir (44) setzt sich für ein Symbolfoto in den Frisierstuhl. „Wir haben erst seit einem Monat auf“, sagt der freundliche Mann.

Auf der Rückfahrt mit dem letzten Bus um 16.45 Uhr sitzen dann noch sieben Leute im Fahrzeug. Darunter zwei 16-jährige Schülerinnen, eine hat eine 30-Euro-Tasche gekauft. Danach waren sie noch bei McDonalds. „Das ist hier pro Menü zwei Euro billiger“, sagt eine. Sie war früher schon mit ihrem Papa hier.

Ein Elektrotechnikstudent, etwas verhärmte, kluge Züge, ist zufrieden, er kam um 16.10 Uhr an, ist direkt zurück, ökonomisch. „Habe vier Stangen gekauft, selbst mit dem Zeitaufwand lohnt sich die Fahrt noch“, rechnet er nach. Aber von seinen Bekannten wollte keiner mehr mit, der Markt zieht nicht mehr so richtig. „Hat abgenommen mit den Polenfahrten.“

Dieser Text erschien zuerst in kürzerer Form bei „Bild“ und „B.Z.“