Die Ukraine wird von Russland militärisch bedroht – und Deutschland sucht nach Gründen, Putin nicht richtig böse zu sein. Wie diese Art kognitiver Dissonanz funktioniert und welche Folgen sie hat, beschreibt dieser Beitrag.

„L’Ukraine a toujours aspiré à être libre.“ 

(Die Ukraine hat immer danach gestrebt, frei zu sein.“)

Voltaire

Es gab einen Satz in den frühen 1970er-Jahren, der mich maßlos ärgerte. Ich war politisch sehr frühreif und entwickelte gerade Sympathien für die Sozialdemokraten unter Willy Brandt, als mich die Mutter eines Freundes bei jeder passenden wie unpassenden Gelegenheit mit der Aussage triezte, die SPD würde uns an die Russen verkaufen. Das hat Willy Brandt natürlich nicht getan. Er hatte auch nie die Absicht. Im Gegenteil, er war durch und durch Transatlantiker, kein Pazifist und ein Patriot, der, bei aller Westbindung, das Schicksal der Deutschen in der DDR nicht vergessen wollte. Wer sich daran nicht erinnern kann oder nichts davon weiß, der sollte sich seinen legendären kurzen Auftritt 1970 im Hotelfenster in Erfurt auf Youtube anschauen. Man nannte das jedenfalls „Entspannungspolitik“, und es ging vor allem darum, die Trennung der Deutschen soweit abzumildern, dass gegenseitige Besuche über den eisernen Vorhang hinweg möglich wurden. Eine zweite Säule der Entspannungspolitik in Mitteleuropa war der sogenannte „KSZE“-Prozess („Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“) in den Jahren von 1973 bis 1975, an deren Ende die Helsinki-Schlussakte stand. Das von 35 Staaten unterzeichnete Papier – darunter die USA, die Sowjetunion, Deutschland, Frankreich und Polen – verpflichtete die Unterzeichnerstaaten zur Anerkennung von Souveränität und Grenzen, aber auch der Menschenrechte. 

Inwieweit diese Absichtserklärungen zum Ende des Kalten Krieges beigetragen haben, ist schwer einzuschätzen. Ihre positiven Wirkungen lagen wohl eher in einer erleichterten wirtschaftlichen Zusammenarbeit und beim kulturellen Austausch, mehr nicht. Was den Ostblock letztlich zerschmettert und den Kalten Krieg beendet hat, das waren die Gründung der Gewerkschaft Solidarnosc, Gorbatschows Glasnost, die Öffnung der ungarischen Grenze und die Leipziger Montagsdemonstrationen. 

DAS GEHEIMNIS DER SPD

Ich habe diese Entspannungspolitik hier kurz skizziert, weil sie in letzter Zeit von SPD-Politikern immer wieder als Begründung für die politische Zurückhaltung vorgebracht wird, wenn es um das aktuelle russische Drohszenario gegen die Ukraine geht. Doch diese Entspannungspolitik in den 1970er-Jahren hat nichts mit der Gegenwart zu tun. Gar nichts. Vor fünfzig Jahren ging es darum, in einer Zeit hochgerüsteter Militärbündnisse eine direkte Konfrontation mitten in Europa durch Abrüstung und diplomatische Gespräche zu verhindern und den Menschen im Osten wenigstens die Hoffnung auf Erleichterungen hinter dem „Eisernen Vorhang“ zu geben. Der Begriff „Entspannungspolitik“ wird zur Zeit als Blendwerk eingesetzt, um die distanzierte Haltung Deutschlands als Fortsetzung einer Tradition erfolgreicher und ehrbarer Politik sozialdemokratischer Kanzler wie Willy Brandt und Helmut Schmidt zu erklären. Wirklich: Nichts könnte irrealer sein. Und wenn es darauf angekommen wäre, hätte die Entspannungspolitik damals ein zweites „Prag“, also einen Einmarsch von Staaten des Warschauer Pakts in einen westwärts strebenden Staat Osteuropas, nicht verhindern können. Wieso die SPD also für ein Mittel wirbt, dass in der jetzigen Situation untauglich ist, wird ihr Geheimnis bleiben.

Genauso wie die Intensivierung der Gespräche mit der SED in den 1980er-Jahren, als die SPD in der Opposition war und sich in der DDR eine Friedens- und Bürgerrechtsbewegung bildete. Während die Grünen den Kontakt zu den Regimekritikern aufnahmen und diese aktiv unterstützten, pflegte die SPD quasi stolpehaft an der Bundesregierung vorbei ihre guten Beziehungen zum Honecker-Regime. Was dieses als Ermunterung verstehen durfte, die DDR-Opposition weiter zu bekämpfen, zu unterwandern und zu zersetzen. Diesen Fehler hat die SPD bis heute nicht eingesehen. Da verwundert es nicht, dass sie im sogenannten „Ukraine-Konflikt“ wieder auf die falsche Seite setzt und die Freiheitswilligen verrät.

EINE UNAUSGELEBTE VERWANDTSCHAFT

Doch seien wir fair. Was Freiheit und Westbindung angeht, da ist Deutschland im Ganzen ein – sagen wir – „unklarer“ Kantonist. Das gründet auf etlichen weiteren Irrtümern. Einer – er ist gerne bei den braunen Genossen der AfD zu finden – hängt mit dem Glauben zusammen, Deutsche und Russen hätten beide eine aus tiefen Seelenschichten sich nährende Kultur und so eine mystische, bislang unausgelebte Verwandtschaft. Das gibt es allerdings nicht, das ist reaktionärer Unfug. In Russland haben der Stalinismus und die Gier des jetzigen Bulldoggenkapitalismus, in Deutschland der Nationalsozialismus und die französische Postmoderne alle geistige Tiefe, die vielleicht Dostojewski und Mann, Tschaikowski und Wagner, Kirejewski und Nietzsche besaßen, vollständig eliminiert. Jetzt gibt es nur noch kulturelle Schaubuden. Aber auch damit kann man gut leben. Eine tiefere Verbindung zwischen Deutschland und Russland gibt es jedenfalls nicht. Wenn es sie gab, dann ist sie in Jahrhunderten der Despotie und der Kriege untergegangen. Und sie sollte sich mal tiefe Gedanken darüber machen, wieso die tiefgründige Kultur mit so viel brutaler Gewalt korrespondierte.

QUÄLENDE DEUTSCHE GEDANKEN

Bevor wir zu den Großmeistern der deutschen Irrtümer in Sachen Deutschland und Russland gelangen, also den Linken, schauen wir auf die aktuellen Tatsachen, die uns alle beschäftigen: Die Ukraine ist ein souveräner Staat, d.h. er hat das Recht auf territoriale Integrität und normsetzende Entscheidungen in politischen und rechtlichen Fragen (Ausnahmen sind die Rechtsetzung durch internationale Verträge, die die Ukraine selbst ratifiziert bzw. anerkannt hat). Die Ukraine ist eine Demokratie. Sie hat ein frei gewähltes Parlament, einen frei gewählten Präsidenten. Sie hat weder die Absicht noch die Fähigkeit, irgendein Land in ihrer Nachbarschaft anzugreifen – und ganz bestimmt nicht Russland. Sie hat aber den Wunsch, zu ihrem Schutz Mitglied der NATO und zur Mehrung des Wohlstands Mitglied der Europäischen Union zu werden (was ihr durch die Mitgliedstaaten der NATO und der EU jeweils verwehrt wird). Vor ihren östlichen Grenzen sind rund 100.000 russische Soldaten mit schweren Waffen aufmarschiert, um – so hat es den Anschein – eine Okkupation der Ukraine vorzubereiten. Da das Putin-Regime schon vor ein paar Jahren keine Hemmungen hatte, die Halbinsel Krim, also ukrainisches Territorium, zu annektieren und im Osten der Ukraine einen schwelenden Partisanenkrieg zu installieren, der bislang über 13.000 Tote forderte, ist der Gedanke an einen Einmarsch – mit welchem Ziel auch immer – nicht abwegig. 

Gerade in Deutschland macht man sich nun quälende Gedanken, was Wladimir Putin bewegen könnte, solch einen aggressiven politischen Kurs zu fahren. Hat es was mit der Innenpolitik zu tun, mit seinem Gegner Nawalny, den er in einem Lager schmoren lässt? Oder, im Gegenteil, wegen der erreichten Grabesruhe im Inneren? Mit der bislang fehlenden Genehmigung für Nordstream II? Mit gekränkter Eitelkeit? Mit Corona? Oder will er endlich Samuel P. Huntingtons These vom zwingenden Bruchlinienkrieg zwischen westlichen und östlichen Kulturen belegen?

Eine in Deutschland sehr beliebte Vermutung ist: Putin möchte nur mehr Respekt, mehr Anerkennung, mehr Aufmerksamkeit, vielleicht die Liebe aller Menschen von Lissabon bis Wladiwostok. Jüngst war es ein Vizeadmiral der deutschen Marine (sic), der die Sache mit der Respektsuche wieder in die Öffentlichkeit trug. Leider vergaß er zu erklären, warum man gerade dem Respektlosen Respekt zollen soll. Und auch die schöne, immer wiederkehrende Forderung von Verhandlungen auf „gleicher Augenhöhe“, die deutsche Russlandversteher an den Westen richten, ist bemerkenswert, denn Russland schaut doch in Wirklichkeit auf Europa und den Westen hinab. Außerdem hat der Blick die tiefe Dunkelheit von Geschützrohren. Man spürt förmlich die Lust von Putin und seinem Regime, sich an der Hühnerhaufigkeit des Westens zu ergötzen. Vor allem die deutsche.

Das Magazin Eurozine hat einmal nachgezeichnet, wie Russlands kremltreue Intellektuelle sich von Europa angewidert abwenden. So konstatiert der Politwissenschaftler Sergei Karaganow vom Rat für Außen- und Verteidigungspolitik, dass Russland nun mal ein autoritärer Staat und es an der Zeit sei, sich nicht mehr dafür zu schämen, dass man die dekadente und liberale Demokratie ablehne. 

Ach, würden die deutschen Russlandversteher doch seine Worte hören. Aber es würde wohl nichts nutzen. Sie würden trotzdem ignorieren oder leugnen oder fortgesetzt verschleiern, dass Putins Regime kleptokratisch, repressiv, aggressiv und imperialistisch ist. Gerade in letzterem hat Russland seit 500 Jahren einige Erfahrung gesammelt. Die Ukrainer – doch nicht nur sie – können ein bitteres Lied davon singen. Die Opferzahlen gehen in die Millionen.

EIN HYBRIDER KRIEG

In gewisser Weise muss man schon Respekt für die deutschen Russlandversteher aufbringen, denn was sie alles geflissentlich übersehen müssen, damit man des wahren Charakters des Putin-Regimes nicht teilhaftig wird – das ist schon große Kunst:     

Manipulationen der westlichen Öffentlichkeit, Einflussnahme auf die vorletzte Präsidentenwahl zugunsten von Trump, Cyberattacken auf deutsche Einrichtungen, Verhaftungen von, Anschläge auf und Morde an Regimegegnern, militärische Unterstützung von Despoten in Nahost und Nordafrika (ja, dieses Vergehens haben sich die Amis auch schuldig gemacht), Einmischung in der Ukraine, in Kasachstan, Weißrussland, Moldawien, Transnistrien, Georgien, Baltikum, inakzeptable Ansprüche auf Rohstoffe in der Arktis usw. Es sind lauter kleine Bausteine in einem hybriden Krieg um Einflussnahme und Destabilisierung souveräner Staaten.

Womit wir wieder bei den schon erwähnten Großmeistern deutscher Irrtümer sind: der Linken. Nach ihrem Verständnis befindet sich Russland in einem Verteidigungskampf gegen die NATO. Wie diese Behauptung mit den Fakten einer geschwächten NATO zusammenzubringen sind, bleibt auf ewig schleierhaft. Aber die deutschen Linken bleiben trotzdem die treuesten Vasallen Russlands, als hingen in ihren Büros noch immer die Kalender aus dem Jahre 1983, das Magazin Sowjetunion heute läge noch aus und der Verlag Pahl-Rugenstein existierte noch. Dabei ist Russland nun alles andere als die Hoffnung der internationalen Arbeiterklasse. Aber Identitäten sind halt sehr starr. Man legt sie sich ja zu, um sich nicht verändern zu müssen. Und damit kennt sich die Linke sehr gut aus. Vor allem ihr gemeinsamer Antiamerikanismus ist unverbrüchlich, dicht gefolgt von der Abneigung gegen den Westen, seine liberalen Demokratien und den Kapitalismus. Der allerdings ist in Russland… ach, die Linke muss selbst mit ihren Widersprüchen klar kommen. Ich vermute, sie wird daran zerbrechen.

DEUTSCHE VERDRUCKSTHEIT

Wenn es das jetzt wäre mit den deutschen Irrtümern in Sachen Russland, dann wäre es schon schlimm; aber leider ist es schlimmer, denn auch die CDU/CSU hat mit ihrem strammen Pro-Nordstream-Kurs nicht nur die Politik von Gerhard Schröder alias „Gerdprom“ (Kofferwort aus Gerhard und Gazprom) fortgeführt, sondern auch die Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen aus Russland verstärkt. Denn neben dem Gas wird auch in riesigen Mengen Öl und Kohle aus Russland importiert. Damit wird Deutschland erpressbarer. Aus ökologischen wie auch strategischen Gründen waren vor allem die Baltikum-Staaten und auch Polen gegen die Nordstream-Pipelines. Es hat die Merkel-Regierungen (mit SPD wie auch mit FDP) nicht interessiert. Gleichzeitig kürzte man den Verteidigungsetat von Jahr zu Jahr bis fast zur Handlungsunfähigkeit.

Bleiben noch die Grünen. Durch ihren standhaften Menschenrechtsflügel haben sie nie einen Zweifel an ihrer kritischen Haltung gegenüber der russischen Politik aufkommen lassen. Und doch: Ihre dem linken, pseudopazifistischen Flügel geschuldete Forderung, NATO-Atomraketen aus Deutschland zu verbannen, leistet einen Bärendienst an der Verteidigungs- und Abschreckungsfähigkeit des Westens. Europa ist viel zu schwach, als das ernsthaft in Betracht ziehen zu dürfen. Allein der französische Präsident Macron scheint das verstanden zu haben. Aber sein Land ist eine eigenständige Atommacht, was Deutschland gar nicht sein muss. Aber es muss ein verlässlicher Partner für alle NATO- und EU-Mitgliedsländer sein. Stattdessen pflegt es angesichts der ukrainischen Wünsche nach Lieferung von Verteidigungswaffen eine Verdruckstheit, die auch andere Länder in Osteuropa nervös macht. So ist Deutschland angesichts einer der größten Bedrohungen seit Jahrzehnten für den Frieden in Europa zu einem Problem für den Westen geworden.