Der französische Starphilosoph Michel Onfray verwechselt in seinem neuen Buch „Niedergang. Aufstieg und Fall der abendländischen Kultur“ den liberalen Westen mit einem „entchristianisierten Christentum“ und stellt beiden den Totenschein aus, klaglos und apodiktisch. Eine Lektüre, die zum Widerspruch reizt.

Michel Onfray, Jahrgang 1959, ist einer der bekanntesten französischen Gegenwartsphilosophen und multimedial präsent. „Er verfasste mehr als fünfzig Bücher“, vermerkt stolz der Klappentext seines nun in deutscher Übersetzung erschienenen 700-Seiten-Werkes „Niedergang. Aufstieg und Fall der abendländischen Kultur – von Jesus bis Bin Laden“. Onfray nimmt für sich in Anspruch, hier keineswegs ein Lamento verfasst zu haben, weder Optimist noch Pessimist zu sein, sondern „die dritte Option – das tragische Denken“ zu bevorzugen: „Das tragische Denken sieht und zimmert keinen Plan, um das Reale am Sein zu hindern.“ In der Konsequenz heisst das, das hier nicht etwa der Philosoph Onfray schreibt und subjektiv interpretiert, sondern nichts weniger als „das Sein“ dargestellt wird – und zwar als zweitausendjähriges Panorama.

Und so geht’s mit Schwung sogleich in die Vollen, wird das Christentum auch keineswegs idealisiert, sondern sein Aufstieg mit seinem frühen Staatlichwerden unter Kaiser Konstantin erklärt, der quasi die Logistik zur Idee lieferte. Denn: „Nicht Kulturen bringen Religionen hervor, sondern Religionen sind der Ursprung von Kulturen.“ Deshalb irre auch der Marxismus, der Jegliches auf wirtschaftliche Produktionsbedingungen zurückführe: „Zudem interpretiert der Marxismus den Kapitalismus als späte Erfindung – als regiere das Kapital nicht schon seit dem Zeitpunkt, als die Seltenheit eines Gegenstandes zum wertbestimmenden Kriterium wurde. Zu behaupten, der Kapitalismus sei zu einem bestimmten Zeitpunkt entstanden, suggeriert, er könne auch zu einem bestimmten Zeirtpunkt untergehen.“ So erfrischend diese (besonders im jetzigen Marx-Jahr komplett negierte) Einsicht auch sein mag, sie wird sogleich wieder begraben unter einem Wust von historischen Abschweifungen zur Früh- und Reformationsgeschichte des Christentums, die den Leser nicht zuletzt wegen häufig fehlender Quellenangaben taumeln lassen.

Dabei ist klar, was der Autor sagen will: Nach der frühen Machtentfaltung kam es zum Niedergang – Stichworte sind hier die Französische Revolution, Nietzsches „Gott ist tot“ und schließlich die inner-katholischen Reformen seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Der selbsterklärte Atheist Onfray sieht darin – vorgeblich ganz objektiv – fortgesetzte Manifestationen der Schwäche, die es nun dem Islam erlauben würden, an Stelle des Christentums Europa zu dominieren, vorläufig erst Stück für Stück, doch aufgrund der Demographie bald vollständig. Dazu trüge auch dessen Homophobie und Frauendiskriminierung bei, da gerade diese vom ursprünglichen Christentum abgeschaute Rigidität fruchtbare Großfamilien entstehen lasse, während der individualisierte Westen lediglich „unverbundene Monaden“ hätschele.

Jüngste Werk aus dem beliebten Genre der Untergangsliteratur

„Es gewinnt nie der Gerechteste oder der Wahrhaftigste, sondern immer der Stärkste. Man gewinnt nicht mit Wahrheit oder Gerechtigkeit, sondern mit Kraft. Die Kraft aber weiß nichts von Gut und Böse.“ Dass die Prosperität Westeuropas  mit dem alliierten Sieg über das keineswegs schwache, doch grundböse Hitlerregime begann, ist Onfray deshalb auch keine Zeile wert – ebenso wenig wie er seine furiose Schreib-Energie an die nicht ganz unwichtige Frage verschwendet, ob das auf unserem Kontinent inzwischen nachlassende antitotaliotäre Bewusstsein nicht ein größeres Problem ist als die „Entchristianisierung des Christentums“. Was für ein merkwürdiges Buch, in dem es derart statisch spenglert! Und ein reichlich inkohärentes dazu, denn das von Onfray in Anspruch genommene „tragische Denken“, stammt ja von Albert Camus, der sein Schreiben unter das just gegenteilige, das individuell aufrührerische anstatt kulturalistische Motto gestellt hatte: „Es kommt darauf an, den Menschen Gründe gegen sein Schicksal zu geben.“

Nichts wird man davon bei Michel Onfray finden, der sich in Sachen Warnschriften vielleicht besser an seinen großen luziden Vorgängern Jean-Francois Revel („So enden Demokratien“) und Raymond Aron („Plädoyer für das dekadente Eruropa“) orientiert hätte anstatt an einem ebenso ahistorischen wie ärgerlich homogenen Religions- und Kulturbegriff. Und so gilt auch für dieses jüngste Werk aus dem neuerdings wieder beliebten Genre der Untergangsliteratur das, was ein hellsichtiger liberalkonservativer Geist wie Joachim Fest schon vor einem Vierteljahrhundert als die eigentliche „offene Flanke der offenen Gesellschaft“ ausgemacht hatte: „Unter den Gefährdungen freiheitlicher Systeme steht das Empfinden der Ohnmacht obenan, und dessen Wortführer waren seit je die sichersten Beförderer jenes Menetekels, das sie von allen Wänden lasen.“

 

Michel Onfray: Niedergang. Aufstieg und Fall der abendländischen Kultur – von Jesus bis Bin Laden. Aus dem Französischen von Stephanie Singh und Enrico Heinemann. Knaus Verlag, München 2018, 702 S., geb., Euro 28,-