Russlands Krieg gegen die Ukraine ist zu einem Testfall für Deutschland geworden. Doch es scheint, als wäre die angekündigte Zeitenwende nicht wie erwartet. Das könnte tiefere Gründe haben.

Krisenzeiten können die Sinne schärfen und helfen, Irrtümer über Bord zu werfen und neue Prioritäten zu setzen. Im Falle Deutschlands scheint das schwieriger zu sein. Viele Sinne sind weiterhin getrübt, über die neuen Prioritäten wird – trotz Dringlichkeit – ausgiebig gestritten, Irrtümer werden als unumstößliche Gewissheiten verteidigt. Dabei liegen die Dinge klar auf der Hand: Die bisherige europäische Friedensordnung ist zerstört, die Ukraine kämpft um ihr Überleben, Russlands Neoimperialismus bedroht den ganzen Kontinent! Und all das passiert mit Ankündigung. Also kann die bisherige Politik der angeblichen EU-Führungsmacht Deutschland, die Putin hofierte, Warnungen in den Wind schlug und den eigenen Irrweg unbeirrt viele Jahre fortsetzte, nicht viel getaugt haben. 

Über das Versagen, Russlands Aggressivität zu übersehen und sich gleichzeitig in zunehmende Abhängigkeit von Russland zu begeben, ist schon viel gesagt worden – es muss dringend aufgearbeitet werden, Twitter-Scharmützel genügen nicht. 

Was uns aber auch Sorgen machen muss, das ist die offensichtliche Krisenunfähigkeit Deutschlands. Sie wird deutlich in der Weigerung, die Krise, ihren besonderen Charakter und die daraus resultierenden Herausforderungen überhaupt wahrnehmen zu wollen und die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen. Da dies so ist, muss das Problem tiefer liegen. 

DER AUFKLÄRER  

Einer, der darum weiß, ist Andrij Melnyk, der ukrainische Botschafter in Deutschland, besser sollte man sagen: der Hiobsbotschafter, denn niemand schafft es wie er, die Nachrichten von der existentiellen Not seines Landes mit den deutschen Illusionen bezüglich Russlands in Verbindung zu setzen. Damit Deutschland der heilende Schrecken richtig funkenschlagend in die Glieder fährt, stellt er gleichzeitig unentwegt Forderungen nach schweren Waffen für sein Land. Damit agiert er im besten Sinne aufklärerisch: Er sagt, was Sache ist, nämlich Krieg mitten in Europa, und was gegen die Sache zu tun ist: mit starken Waffen Widerstand leisten. Doch Deutschland zögert, zaudert, knirscht mit den Zähnen. Schließlich galt es bisher (meist), zwar Waffen an Despoten zu verkaufen, aber niemals nie in Krisen- oder Konfliktgebiete. Denn das verlangte ja Parteinahme, also eine Bewertung der Kriegsursachen und der Schuld, und somit eine Infragestellung des hehren Neutralitätsprinzips, das bei Russlands Krieg gegen die Ukraine etwa so sinnvoll und moralisch vertretbar ist wie die teilnahmslose Zeugenschaft bei einer Vergewaltigung. 

Aber dieses falsche, deutsche Neutralitätsgebot gründet nicht nur in dem Krämerseelencharakter dieses Landes – es hat auch eine andere Geschichte. Und die ist nicht vergangen. 

Wer Äußerungen und Texte von Steinmeier, Mützenich, von Dohnanyi, Platzeck und anderen SPD-Granden liest, findet immer wieder die Forderung nach einer deutschen  Äquidistanz zwischen USA und Russland und einer quasi gelebten Neutralität innerhalb der NATO und der Idee des Westens. Ich kenne diese Forderung genau, und sie scheint in den vergangenen Jahren – mit Ausnahmen – sogar Staatsräson geworden zu sein: Sie entspricht weitgehend der „Stalin-Note“ aus den frühen 1950er-Jahren, die in der SPD vor 1989 immer noch rumspukte, obwohl sie Brandt und Schmidt ablehnten. Zur Erinnerung: Stalin bot in seiner Note damals an, dass Deutschland wiedervereinigt werden könnte, wenn es sich entnazifizierte und neutral werden würde. Adenauer durchschaute damals den Winkelzug Stalins, betrieb die Westbindung und verhinderte so, dass die BRD und Westeuropa in eine sowjetische Einflusszone verwandelt wurden. Nach der Wiedervereinigung 1990 war dieser Stalin-Spuk zunächst verschwunden. Aber nun ist er wieder da und treibt sein Unwesen. 

Kulturell eingebettet ist diese Politik in eine habituelle Lauheit. Dass Melnyk die Einladung zu einem „Friedenskonzert“ im Schloss Bellevue ausschlug, war mehr als konsequent. Der Bundespräsident war schon in seiner ersten Amtsperiode durch eher nichtssagende Reden und Kirchentagskitsch aufgefallen, wie das Aufstellen von Kerzen während der Pandemie. Steinmeier setzt – wie große Teile der Republik übrigens – gerne Zeichen: Zeichen des Respekts, des Mitgefühls, des Friedens, der Solidarität usw. Aber anscheinend verhindert dieses Zeichensetzen, die Zeichen der Zeit zu erkennen. Oder es verschleiert diese Zeichen sogar mit Absicht. 

EINE SCHRECKLICHE LEERE

Neben dem Trend, eine gleichgültige Neutralität zu leben und Zeichen zu setzen, also nur symbolisch zu handeln, fällt eine Sprachlosigkeit beim politischen Spitzenpersonal auf, und es liegt nicht fern, das symbolische Handeln mit dieser Sprachlosigkeit in Verbindung zu bringen. Schon Angela Merkel hatte in ihrer langen Amtszeit ein Problem damit, ihr Regierungshandeln oder auch ihr Nichthandeln zu erklären und Führung zu übernehmen. Die Finanzkrise überließ sie weitgehend Wolfgang Schäuble, die Coronakrise Jens Spahn. Einmal ging das gut, das andere Mal nicht. Scholz scheint diese Tradition fortsetzen zu wollen und überlässt die jetzige Krise – ja wem eigentlich? Nicht mal richtig sich selbst, scheint es. Gestern beraumte er kurzfristig eine Pressekonferenz an, ohne dort etwas Konkretes zu sagen. Da ist eine schreckliche Leere mitten in Berlin – politisch, kommunikativ, strategisch. So besinnt man sich auf ein altes Mittel, mit dem sich Deutschland über Jahrzehnte die Welt vom Leibe gehalten hat: das Scheckbuch. Das ist im ersten Moment clever, kann aber nie auf Dauer funktionieren. Und wie groß und irritierend die Leere ist, wurde nie deutlicher, als Mitte März der ukrainische Präsident Selenskyj per Video im Bundestag sprach. Der Mann redete quasi um sein Leben, bat um Unterstützung für sein Land und gegen den russischen Aggressor – aber der gesamte Bundestag fand keine Worte dazu, machte, angeleitet von der Bundestagsvizepräsidentin Göring-Eckardt, einfach mit seiner normalen To-do-Liste weiter. 

Einige Wochen vorher hatte sich Göring-Eckardt noch dafür stark gemacht, das Amt einer Bundestagspoetin zu installieren, um den Bundestag mit einer „anderen Sprache“ zu bereichern. Nun kam in einer anderen Sprache die bittere, bedrohliche Realität des Krieges ins Haus – und die Abgeordneten mussten feststellen: Sie haben keine passenden Worte, keine passende Sprache, keine passenden Gedanken für solche Zwecke, für solche Krisen, für solche Gefahren. Noch schlimmer: Es fiel ihnen nicht einmal auf. Eine andere Sprache fördern zu wollen, aber selbst die eigene Sprachlosigkeit nicht überwinden und eine zeit- und anlassgemäße Sprache finden zu können – das ist problematisch für ein Parlament. 

In den Zusammenhang passt es auch, dass man sich – vor allem von Seiten der SPD –Melnyks Klartext vehement verbittet, aber nie ein Problem mit den fortgesetzten Täuschungen, Drohungen und Lügen des russischen Außenministers Lawrow hatte. Ist das nun deutsche Gleichgültigkeit oder Unfähigkeit, die unterschiedlichen Bedeutungen des ukrainischen und des russischen Redens zu erkennen?

IN ZEITEN DER BEWÄHRUNG

Und auch Folgendes gehört hierhin: Das Verhalten von zwei Umweltministerinnen nach den Jahrhundertfluten an Erft und Ahr im Juli letzten Jahres zeigt eine weitere Verbreitung politischer Fehleinschätzungen bei Krisensituationen und Notlagen. Weil herauskam, dass sie ihre Pflichten vernachlässigt hatten und in Urlaub gefahren waren, sind sie zwar mittlerweile zurückgetreten, aber nur auf Drängen und anscheinend ohne sich eines Fehlers bewusst zu sein. Dabei haben 180 Menschen bei der Katastrophe ihr Leben verloren, noch viele mehr sind ihrer Häuser und Existenzen durch die Wassermassen beraubt worden. Diese Realität scheint den Amtsträgerinnen nicht richtig bewusst worden zu sein. Dabei ist das politische Amt ein wesentlicher Baustein dieses Staates, das in Verantwortung gegenüber Volk und Parlament wahrgenommen werden muss. Diese müssen dem Amtsinhaber vertrauen können, dass er stets als Treuhänder für das Gemeinwohl fungiert. Diese auch vom Bundesverfassungsgericht definierten Bedingungen sind in Deutschland nicht mehr selbstverständlich. Denn sonst wäre klar, dass Privates hinter den Amtserfordernissen zurückstehen muss. Wenn die persönliche Situation das nicht zulässt, dann muss man von sich aus auf das Amt verzichten. Doch auch das scheinen die betreffenden Politikerinnen nicht begriffen zu haben – große Teile der Öffentlichkeit aber auch nicht. Man nahm sie vielerorts in Schutz und stellte sie als Opfer einer unmenschlichen, natürlich patriarchalen Politik dar. Doch es hat verheerende Folgen für unser Gemeinwesen, wenn Amtsträger ihre Aufgabe, ihre Rolle, ihre Pflichten nicht mehr kennen, wenn Haltung mehr zählt als Verantwortung, wenn der unbedingte Einsatz in Krisensituationen eben nicht mehr selbstverständlich ist, wenn eine Prüfung schlichtweg verweigert wird. Dieses Land hat sich mal was auf seine Institutionen und seine Ämter zugutehalten können – aber jetzt, so scheint es, schaffen es Politiker immer seltener, Ethos und Ethik bzw. genauer: Amtsethos und Verantwortungsethik zusammenzubringen. Das ist von Nachteil für unsere Demokratie.

Eine alte Weisheit sagt: In Zeiten der Bewährung zeigt sich der Charakter. Die bedenkliche deutsche Krisenunfähigkeit beweist, dass etwas nicht stimmt mit diesem Land. Das ist unseren Nachbarn in Europa auch schon aufgefallen. Auf ein entschlossenes Handeln oder Vorangehen Deutschlands wartet keiner mehr. Deutschland ist mittlerweile ein Land ohne Ambitionen und läuft Gefahr, zu einem Sonderling zu werden.