Seit dem 7. Oktober haben die Versuche, die Erinnerung an den Holocaust zu relativieren, wieder zugenommen. Das ist kein Zufall, wie man gerade erkennen kann.

Ein besonderes Merkmal unserer Zeit ist der fortgesetzte Versuch, den Holocaust, also die Vernichtung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten und ihre Helfershelfer, auf die Größe einer historischen Trivialität, einer Fußnote oder eines Vogelschisses zu schrumpfen. Die Menschheitsgeschichte ist voll von schrecklichen und unfassbaren Verbrechen. Der Holocaust aber, nur zur Erinnerung, war ein bis dahin und ist ein bis heute unvergleichliches Unternehmen gewesen, eine bestimmte ethnisch-religiöse Menschengruppe unter Zuhilfenahme des Militärs, der staatlichen Verwaltung, der Industrie, der Parteiorgane usw. der Vernichtung zuzuführen – es war breit organisierter Völkermord.

Besonders rührig, die Besonderheit des Holocausts zu schrumpfen, waren in letzter Zeit die Vertreter der Postcolonial Studies: Israel sei, so der wiederholte Vorwurf, ein terroristisches Kolonialprojekt, eine Fortsetzung der jahrhundertealten weißen rassistischen Unterdrückungspraxis und die Kritik an Israel durch die besondere, schuldbewusste Erinnerung an den Holocaust betäubt, obwohl der Holocaust in eine ganze Reihe von Genoziden einzuordnen sei und Israel entsprechend ein gewöhnlicher Täter wie die Nazis, der an den Palästinensern Völkermord begehe. So weit durch Postcolonial-Protagonisten wie Achille Mbembe, Dirk Moses usw. immer wieder mit viel Erfolg vor allem an Universitäten und Kultureinrichtungen vorgetragen.

Hier ist auch die Publizistin Masha Gessen, aktuell Hannah-Arendt-Preis-Trägerin, einzuordnen. Vor einigen Tagen hat sie im New Yorker unter dem Titel „In the Shadow oft the Holocaust – How the politics of memory in Europe obscures what we see in Israel an Gaza today“ vor allem die deutsche Erinnerungspolitik kritisiert. Aber natürlich geht es immer auch um mehr, erheblich mehr. Gessen unterstellt – ähnliche Einlassungen kennt man auch von Susan Neiman –, sie würde in Deutschland Ärger bekommen, wenn sie sagen würde, was sie über Israel dächte. Sie behauptet, es gäbe mit dem von der AfD inspirierten Bundestagsbeschluss, Veranstaltungen mit Beteiligung der Israel-Boykott-Kampagne BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) nicht mehr mit öffentlichen Mitteln zu finanzieren, eine Diskursverengung. Die gängige Definition von Antisemitismus sei darüber hinaus viel zu streng. Sie vergleicht Gaza mit einem osteuropäischen Ghetto der Nazis. Sie benutzt die Ukraine mit dem in bestimmten Milieus verbreiteten nationalistischen Bandera-Kult, um in Richtung Israel zu beweisen, dass auch Opfer Täter gewesen sein können – und umgekehrt. Gleichzeitig stellt sie Netanjahu auf eine Stufe mit Putin, weil sie beide ihre Gegner als Nazis brandmarkten, um Bombardierungen und Besetzungen zu rechtfertigen.

KEIN EINZELFALL

Nichts davon ist im Kern neu, es sind die üblichen historischen Verdrehungen, leeren Behauptungen und aus dem Postkolonialismus bekannten und mit großer Lust betriebenen Versuche, Israel selbst als eine Art Nazi-Staat darzustellen; aber die Infamie, mit der die Verharmlosung von Antisemitismus und die Relativierung des Holocaust fortgesetzt und verschärft wird – das hat schon eine neue Qualität. Und es ist kein Einzelfall.

Gerade ist auf dem Verfassungsblog unter dem Titel „Das Spannungsverhältnis zwischen Staatsräson und Grundrechten“ eine Attacke auf die sogenannte „Staatsräson“ Deutschlands veröffentlicht worden. Die Zielkoordinaten waren letztlich die gleichen wie beim Gessen-Essay: Antisemitismus möglich machen, die Erinnerungskultur mit ihrem Bezug auf den Holocaust aufweichen, das Verhalten Israels gegenüber den Palästinensern als „Genozid“ benennen „dürfen“, die deutsche Staatsräson als Hindernis kennzeichnen, Israel kritisieren zu können. Also auch hier die bekannten Anstrengungen, Israel und die Juden einmal ungeschönt Mores zu lehren und sie letztlich aus dem Nahen Osten zu vertreiben.

Interessant ist auch hier die schwammige, aber listige Unterstellung, man könne in Deutschland gewisse Dinge nicht sagen, weil die Staatsräson, die bedingungslose deutsche Unterstützung Israels, dagegen stünde. Tatsächlich war die Kritik an der israelischen Regierung wegen ihres Versuchs, den Rechtsstaat auszuhebeln, und auch wegen ihrer Siedlungspolitik vor dem 7. Oktober enorm. Sie war gewaltig in Israel, sie war unmissverständlich in Deutschland, in Europa und den USA. Was es aber nicht gibt in Deutschland, das ist auch nur ein Fünkchen politischen Zweifels am Existenzrecht Israels. Man wagt sich nicht weit vor, wenn man feststellt: Genau dieses Existenzrecht ist den postkolonialen Kritikern Israels ein Dorn im Auge.

EIN TRICKREICHES SPIEL

Wenn Sie sich fragen, warum ich den Namen der Autorin des Verfassungsblog-Artikels nicht genannt habe – nun, er wird verschwiegen. Begründung: „Aufgrund der im Text geschilderten Diskursverengung im Zusammenhang mit der durch das WissZeitVG bedingten akademischen Berufsunsicherheit wird dieser Text unter Pseudonym veröffentlicht.“ Also, das ist wirklich ein brillanter Plot: Die Behauptung wird einfach als performativer Akt bekräftigt. Widerspruch wieder einmal zwecklos. Ein trickreiches, perfektes Spiel, das Gessen und andere Postcolonials nicht verlieren können: Gibt die Öffentlichkeit und geben die Institutionen nach, um sich dem Vorwurf, man wollte den Diskurs verengen, nicht auszusetzen, dann setzt sich der klammheimliche linke Antisemitismus immer weiter fest, wird geradezu kaum umzukehrender Mainstream; stellen sich Öffentlichkeit und Institutionen gegen diesen Versuch der raffinierten Trickser, dann fühlen sie sich bestätigt im Vorwurf der Diskursverengung, gerieren sich als Opfer von Repressionen und mobilisieren so ihre Truppen im Kampf um die kulturelle und politische Hegemonie in Deutschland.

Was es deshalb mit aller Entschlossenheit braucht – ist breiter, sehr breiter Widerspruch. Das fürchten sie letztlich wie der Teufel das Weihwasser.