Wie realistisch ist ein deutscher Atomeinstieg?
Die CDU/CSU und Teile der FDP wollen den Wiedereinstieg in die Kernenergienutzung. Eine Mehrheit der Deutschen stellt sich laut Umfragen inzwischen pragmatisch positiv zur Atomkraft Aber ist das Anliegen auch machbar? Dieser Beitrag ist eine Bestandsaufnahme für alle, die „Atomkraft, ja bitte“ sagen und dabei glaubwürdig bleiben wollen. Fazit vorab: Nur eine lange Laufzeitverlängerung der Bestandsanlagen würde den Aufwand lohnen. AKW-Neubau braucht einen Gesellschaftsvertrag und einen Kulturwandel.
Nun sind alle deutschen KKW abgeschaltet – das einzige Projekt der Energiewende, das „erfolgreich“ vollendet wurde. 2022 ging es noch um die Laufzeitverlängerung laufender und gerade erst abgeschalteter Anlagen, was rechtlich und technisch weit einfacher gewesen wäre als heute. Die Atomdebatte des Winters 2023/24 findet jedoch in einem weit anspruchsvolleren Umfeld statt. Erstens ist es aufwendiger und daher auch langwieriger und teurer, Kernkraftwerke zurückzuholen, die sich bereits in Abwicklung befinden, und zweitens ist die Diskussion wesentlich zerklüfteter. Manche Politiker wollen nur eine Rückholung und Laufzeitverlängerung weniger Blöcke für wenige Jahre, andere träumen von bis zu acht Blöcken für viele Jahre, wieder andere sogar vom Neubau. Dieser Beitrag soll dabei helfen, etwas mehr Systematik und Fachkunde in die Debatte einzuspeisen, um vor Illusionen zu bewahren.
Energie-Deutschland 2023/24: Situationsbeschreibung
Für eine gute Handlungsanweisung braucht man zuerst einmal eine Lageanalyse. Die Situation lässt sich wie folgt zusammenfassen: Wir agieren in einem Krisendreieck, das sich aus Klimakrise, Kriegs- und Energiekrise sowie inzwischen auch einer Haushaltskrise zusammensetzt. Eine gute Klima- und Energiestrategie antwortet darauf, indem sie die technischen Instrumente der Energieversorgung solchermaßen auswählt und ihr Zusammenspiel so optimiert, dass ein Minimum an Treibhausgas-Emissionen und weiteren Umweltlasten, ein Maximum an Versorgungssicherheit und ein Minimum an Kosten erreicht wird. Zum ersten Ziel haben wir uns mit der Unterzeichnung des Pariser Klimaabkommens bekannt; zum zweiten verpflichtet uns unsere geteilte Absicht, auch in Zukunft ein Industrieland bleiben zu wollen, und das dritte Ziel hat uns das Verfassungsgericht im November 2023 ins Lastenheft geschrieben; es ist überdies aber auch ein Erfordernis für die erfolgreiche Transformation unserer Industrie, die weitgehend auf stromgetriebene Prozesse umsteuern soll.
Die sechs Ebenen des Wiedereinstiegs
Die aktuelle Energiewende deutschen Stils soll die genannten Ziele ausschließlich mit (vorwiegend wetter- und tageszeitabhängigen) Erneuerbaren Energien (EE) erreichen. Nehmen wir nun einmal an, eine Bundesregierung bricht mit dieser Strategie und will die Ziele mit einer Kombination von Kernkraftwerken und Erneuerbaren erreichen. Dann sind sehr viele Varianten möglich, von einer Rückholung und Modernisierung bereits stillgelegter Anlagen bis zum Neubau von Reaktoren. Was sollten Entscheider beachten, wenn sie diesen Wiedereinstieg in die Kernenergienutzung vorbereiten wollen? Im Mittelpunkt steht dabei der Weiterbetrieb von Bestandsanlagen, weil er der Testfall für die prinzipielle Frage eines Wiedereinstiegs ist. Realistisch betrachtet betrifft das die fünf zuletzt vom Netz gegangenen Druckwasserreaktoren, d.h. die Anlagen in Brokdorf, Emsland, Grohnde, Neckarwestheim-2 und Isar-2 mit insgesamt 7 Gigawatt installierter Leistung und einem Potenzial von rund 55 Terawattstunden Stromproduktion im Jahr, was ungefähr 40 Prozent der gesamten deutschen Windstromproduktion entspricht. Dazu müssen sechs Ebenen diskutiert werden:
- Klima und Umwelt: Welche Bedeutung hätte ein Wiedereinstieg für unsere Klima -und Umweltschutzziele?
- Ökonomie: Ist ein Wiedereinstieg wirtschaftlich wünschenswert und wie viel Geld kostet er?
- Technik und Reaktorsicherheit: Wäre der Weiterbetrieb (sicherheits-) technisch möglich, und welche Prozeduren müssen eingeleitet werden, um Bestandsanlagen wieder in Betrieb zu nehmen?
- Normen: Welche Anpassungen des Atomgesetzes und anderer Normen für den Weiterbetrieb sind notwendig?
- Akzeptanz und Diskurs: Wie entsteht politisch-gesellschaftliche Akzeptanz für einen Weiterbetrieb, gar Neubau von Kernkraftwerken?
- Neubau: wie sähe ein System mit neuen Kernkraftwerken aus und welcher Ansatz wäre realistisch?
Ebene 1: Klima und Umwelt
Die Weiter- bzw. Wiedernutzung von fünf großen Kernkraftwerken würde sich zuvorderst auf die CO2-Emissionen unseres Landes auswirken. Je nach Berechnungsgrundlage (AKW im Verhältnis zur Emission unseres Strommixes oder AKW als direkter Ersatz eines Kohlekraftwerks) könnte die Atomkraft pro Block und Jahr 5 bis 11 Millionen Tonnen CO2 einsparen, bei 5 Anlagen also eine Jahres-Einsparung von zwischen 25 und 55 Millionen Tonnen. Ebenfalls eingespart würden im letzteren Fall auch weitere Kohlekraft-typische und gesundheitsschädliche Emissionen wie Quecksilber, Feinstaub und Stickoxide. Eine Voraussetzung für die maximal mögliche CO2-Einsparung durch Kohlekraft-Substitution wäre allerdings die Einziehung von freiwerdenden Emissionszertifikaten und auch ein gezielter Leitungsausbau, um Atomstrom aus Westdeutschland in die ostdeutschen Kohlereviere zu liefern.
Doch selbst die niedrigste Schätzung ergibt, dass bereits 3 laufzeitverlängerte AKW pro Jahr mehr Klimagase einsparen würden als das Gebäudeenergiegesetz, das nach Schätzungen des Öko-Instituts kumulativ bis 2030 lediglich zwischen 10,8 und 39,2 Millionen Tonnen CO2 einspart.
Ebene 2: Ökonomie
Das Haushalts-Urteil des Verfassungsgerichts war ein heilsamer Schock, weil es unser Land zwingt, endlich auf das Preisschild der Energiewende zu schauen. Bislang hat die Bundesregierung die Dreifachkrise mit Geld aus Sonderhaushalten zugeschüttet, um niemandem wehzutun. Nun muss sie CO2-Preis und Netzentgelte erhöhen, was eine weitere Umverteilung von Energiewendekosten von unten nach oben bedeutet, denn es sind die variablen Erneuerbaren, die sowohl fossiles Backup als auch Netzausbau erforderlich machen. Will man weg vom fossilen Schattenkraftwerkspark, ist man auf noch nicht existente und absehbar teure saisonale Langzeitspeicherung und Wasserstoffwirtschaft angewiesen. Auch der Industriestrompreis wird auf diese Weise teurer. Kernkraftwerke haben mit ihren extrem niedrigen Treibhausgasemissionen den Vorteil, von einem CO2-Preis unbehelligt zu bleiben – das macht Atomstrom übrigens auch so attraktiv als Importstrom. Eine Laufzeitverlängerung von fünf Kernkraftwerken hätte eine stabilisierende Wirkung auf den Strompreis, da das Angebot an CO2-armem Strom aus gesicherter Leistung erhöht würde.
Die Betreiber könnten mit den Anlagen noch viele Jahre gutes Geld verdienen. Das ist bei den niedrigen Stromgestehungskosten der Bestandskernkraftwerke (rund 30 EUR/MWh) und den bleibend hohen Preisen im Strom-Termingeschäft, in dem Atomstrom zumeist gehandelt wird, derzeit rund 100 EUR/MWh für Jahres-Futures, erwartbar. Die Gesamt-Modernisierungskosten der fünf Anlagen schätzte der Physiker Ulrich Waas, langjähriges Mitglied der Reaktorsicherheitskommission, auf meine Anfrage auf rund eine Milliarde Euro, d.h. 140 Euro pro Kilowatt installierter Leistung. Zum Vergleich: ein neuer Offshore-Windpark kostet rund 2400 bis 5000 Euro pro Kilowatt installierter Leistung, an Land sind es etwas über 1000 EUR pro Kilowatt.
Für einen AKW-Neubau müssten ganz andere Summen investiert werden: ein fortgeschrittener Druckwasserreaktor vom Typ EPR2 würde 5700 EUR pro installiertes Kilowatt kosten, was bei einer 1600 MW-Anlage über 9 Milliarden Euro bedeutet. Der größte Kostenblock sind hier die wegen der langen Bauzeit hohen Kapitalkosten. Doch neue Kernkraftwerke wären mit Laufzeiten von 60 bis 80 Jahren eine Marathon-Investition, die sich auf lange Sicht lohnen würde. Studien besagen, dass ein System, in dem Kernkraftwerke und Erneuerbare genutzt werden, geringere CO2-Vermeidungskosten als ein zu 100 Prozent auf Erneuerbare setzendes System hat. Je mehr Atomstrom im System ist und je tiefer die Dekarbonisierung ist, desto günstiger wird das Gesamtsystem.
Ebene 3: Technik
Nach meinem Kenntnisstand ist es nicht realistisch, von acht noch zu rettenden Anlagen zu sprechen, wie es im Policy Paper der Radiant Energy Group behauptet wurde (https://www.radiantenergygroup.com/reports/restart-of-germany-reactors-can-it-be-done). Ich nehme konservativer an, dass nur die fünf letzten Druckwasserreaktor-Anlagen (Brokdorf, vom Netz 2021, Grohnde (2021), Emsland (2023), Neckarwestheim-2 (2023) und Isar-2 (2023) noch ein – allerdings mit jedem verstreichenden Monat sich verschlechterndes – Potenzial für eine Laufzeitverlängerung haben. In dem Siedewasserreaktor Gundremmingen C, der Ende 2021 vom Netz ging, sind schon viele invasive Maßnahmen erfolgt, deren Remedur wohl zu teuer wäre.
Am Anfang jeder Laufzeitverlängerungs-Initiative müsste, parallel zur rechtlichen Vorbereitung, eine technische Bestandsaufnahme durch die Bundesregierung und die für die Atomaufsicht zuständigen Länderbehörden stehen. Das oberflächliche Verfahren, das Wirtschaftsminister Robert Habeck 2022 durchführte, konnte (und wollte)das nicht leisten. Zur Vorbereitung einer Atomgesetz-Änderung wäre es ratsam, wenn die Bundesregierung einen Runden Tisch organisieren würde. An diesem Tisch sollten folgende Akteure Platz nehmen: 1) die Manager der Kernenergie-Zweige der Konzerne, die über das nötige Fach- und Lagewissen verfügen; 2) die fünf Anlagenleiter, die über den aktuellen Zustand ihrer Blöcke im Detail Auskunft geben können; 3) Vertreter der betroffenen Atomaufsichtsbehörden mit den von ihnen bestellten TÜV-Gutachtern; 4) Vertreter der Reaktorsicherheitskommission (RSK) und der bundeseigenen Forschungsorganisation Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS). Letztgenannte wurden bei der Debatte um die Laufzeitverlängerung 2022 von den grün geführten zuständigen Ministerien aus dem Entscheidungsprozess ausgeschlossen. Bei einem Neuanfang könnten sie wertvolle Gutachter- und andere Zuarbeiten im Genehmigungsverfahren übernehmen und Sicherheitsanalysen erstellen.
Inhaltlich wären beim Runden Tisch Atom-Wiedereinstieg folgende Fragen zu klären: Welche Anlagenteile sind bereits abgebaut oder gar zerstört worden und wie lange bräuchte man, um Ersatz zu beschaffen bzw. die Reparaturen durchzuführen und von der Atomaufsicht qualifizieren zu lassen? Das betrifft dem Vernehmen nach z.B. die bereits erfolgte Zerlegung von Steuerstabantrieben im KKW Emsland, dürfte aber auch andere KKW betreffen, deren 1. SAG ihnen gestattet, Einbauten des Reaktordruckbehälters und andere Komponenten der Reaktoranlage abzubauen.
In allen Anlagen, in denen bereits eine sogenannte Full System Decontamination (FSD) mit einer säure- und laugehaltigen Spülung des Primärkreislaufs stattgefunden hat, wäre zu klären, ob im Verlauf dieser Prozeduren Wanddickenschwächungen von Rohrleitungen, Beeinträchtigung von Armaturen und Pumpen oder auch weitere Eingriffe in die Installationen zu berichten sind (Materialprobe-Entnahmen, Umbauten), die einer Wiederinbetriebnahme entgegenstünden; ob diese Eingriffe durch Reparatur oder Austausch von Komponenten oder Rohrleitungsabschnitten zu beseitigen sind und ob diese Reparaturen von der Atomaufsicht rasch abgenommen werden können. Auch über diese Frage geistern viele Gerüchte durchs Land, etwa von einer durch „die Grünen“ befohlenen Unbrauchbarmachung der Anlagen durch die FSD. Fachleute betonen jedoch, dass dieses Verfahren sich nicht von der FSD-Prozedur unterscheide, die auch in KKW durchgeführt werden, die hinterher wieder ans Netz gehen sollen. Dieser Unklarheit kann nur abgeholfen werden, indem man die Anlagenleiter über Dekont-Faktor und Abtragungstiefe der Korrosionsschicht in den Rohrleitungs-Innenwänden rapportieren lässt. Handelt es sich um durch Betriebsgeheimnis geschützte Daten, kann man diese Frage vertraulich klären und der Öffentlichkeit nur ein „Ja“ oder „Nein“ berichten.
Neben der Frage, welche Eingriffe die Rückbauvorbereitung bereits in die Anlage genommen hat, steht die Frage, welche Wartungs- und Modernisierungsmaßnahmen auf die Anlagen zukämen, wenn sie laufzeitverlängert würden. Hier müssten die Betreiber auf die Modernisierungspläne und Kostenansätze von 2010 zurückgreifen, die man für die Merkelsche Laufzeitverlängerung aufgelegt hatte, nach der schon genannten Schätzung Waas‘ rund eine Milliarde Euro. Die 2021 vom Netz gegangenen Anlagen würden rund zwei Jahre zur Ertüchtigung benötigen, die 2023 abgeschalteten rund ein Jahr. In Neckarwestheim-2 wäre zu klären, ab wieviel Jahren Laufzeitverlängerung sich ein Austausch der von Heizrohrkorrosion betroffenen Dampferzeuger lohnen würde. Dieser ist technisch möglich, würde aber Jahre der Vorbereitung benötigen und dann wohl auch einen monatelangen Anlagenstillstand nach sich ziehen und natürlich auch größere finanzielle Mittel binden.
Anders als häufig behauptet ist die Beschaffung von frischem Kernbrennstofff ein minderes Problem. Sie dauert nach Aussagen von Fachleuten ungefähr ein Jahr und könnte von den Anlagenleitungen initiiert werden, sobald die Wartungsarbeiten für die Inbetriebnahme beginnen.
Eine entscheidende Frage ist, ob die Anlagen noch über das nötige Personal verfügen, um eine Wiederinbetriebnahme vorzubereiten. Hier gilt: je mehr Zeit ins Land geht, desto unwahrscheinlicher wird ein „Ja“. Zwar werden die kerntechnischen Spezialisten nicht alle nach Hause geschickt, bevor die Anlage brennstofffrei ist (d.h. alle Brennelemente aus den Lagerbecken entfernt, in Castor-Behälter umgepackt und ins Standortzwischenlager verbracht sind), was bei den 2021 vom Netz gegangenen Anlagen ab 2025 der Fall sein wird. Doch werden bereits wenige Monate nach der Abschaltung die Betriebsschichten reduziert (vom 6- zum 5-Schicht-System). In den von langer Hand vorbereiteten Sozialplänen wurden überdies Vorruhestände gewährt und die Abwanderung jüngerer Fachkräfte nicht verhindert, weil man ja seit 2011 auf Stilllegung und Rückbau zuarbeitete.
Erhalten bleiben in den Anlagen die Ingenieursstäbe, die Projektarbeiten für den Restbetrieb, den Rückbau, im Strahlenschutz und bei der Neuerrichtung von Rückbau-Infrastruktur übernehmen, von der Hilfskesselanlage bis zur Freimesshalle. Diese Ingenieure waren teilweise vorher Schichtleiter oder Arbeitsgruppenleiter im Bereich Betriebsschicht und Arbeitsvorbereitung, und müssten auf ihre früheren Posten zurückbeordert werden. Doch ohne Zweifel müsste neues Personal angeworben und neu ausgebildet werden; vereinzelt würden sich die idealistischeren Kollegen womöglich auch noch bewegen lassen, aus dem Vorruhestand zurückzukehren. In der jüngeren Generation käme den Anlagen eventuell zupass, dass sie im Bereich der Fachhandwerker (Elektriker, Anlagenschlosser, Strahlenschutzfachpersonal) noch bis zur Abschaltung, teilweise darüber hinaus, Nachwuchs ausbildeten. Strahlenschutzpersonal wurde mit Blick auf den Rückbau ohnehin nicht abgebaut, da es auch in dieser Lebensphase eines KKW reichlich benötigt wird. Kernkraftwerke können mit guten Löhnen und Sozialleistungen punkten, sodass auch die Anwerbung jüngerer Mitarbeiter, die Anstellung neuer Auszubildender oder die Rückholung von ins Ausland abgewanderten Hochqualifizierten möglich wäre.
Doch ein Spaziergang wäre das mit Sicherheit nicht. Eine atom-affine Bundesregierung könnte die Betreiber hier nur mit einer üppigen Laufzeitverlängerung von mehr als fünf Jahren zur Wiederaufstockung ihres Personals locken. Für eine 2-Jahres-Lösung, wie sie einigen CDU-Politikern vorzuschweben scheint, wird in den Anlagen und Konzernen niemand einen Finger rühren, und das angesichts des Aufwands und der Kosten für eine Heilung der bereits vorgenommenen Eingriffe auch zu vollem Recht. Der einzig wirklich limitierende anlagentechnische Faktor für die Dauer einer Betriebsgenehmigung ist der Zustand des nicht auswechselbaren Reaktordruckbehälters, dessen neutronenfluss-bedingte Versprödung regelmäßig untersucht wird. Dem Vernehmen nach sind die Reaktordruckbehälter in allen fünf in Frage kommenden Anlagen fit für eine Laufzeitverlängerung auf bis zu 60 Jahre Gesamtbetriebszeit, d.h. bis in die 2040er Jahre.
Prinzipiell gilt bei der technisch-personellen Organisation einer Laufzeitverlängerung der Primat der Politik und der Exekutive. Wie schon beim Atomausstieg 2011 und bei der Streckbetriebs-Verlängerung 2022 wird es heißen: Industrie folgt Staat. Ohne klare Ansage der Exekutive und ohne deutliche Anreize wird keine Betreiberin mehr die Hand heben, um die Anlagen zu retten – aber erhält sie Planungssicherheit, gar Weisung, wird sie an Bord sein. Es ist aber sowohl für die Betreiberorganisationen als auch für die einzelnen Anlagen eine unzumutbare Aufgabe, den Rückbau zur Unternehmensidentität zu machen und sämtliche interne und externe Kommunikation darauf auszurichten, während dauernd über die Schulter geschaut wird, ob es nicht doch noch weitergeht. Eindeutigkeit über Beginn und Länge der Laufzeitverlängerung müsste also rasch geschaffen werden.
Ebene 4: Normen
Der Anfangspunkt für einen Wiedereinstieg wäre ein Gesetz über ein AKW-Rückbau-Moratorium. Dieses hätte zunächst aufschiebende Wirkung für die schon erteilten Ersten Stilllegungs- und Abbaugenehmigungen (1. SAG), die für einige der in Frage kommenden Blöcke (Neckarwestheim 2 und jüngst Grohnde) bereits vorliegen, für Brokdorf, Isar-2 und Emsland noch nicht. Als zweiten Schritt müsste eine Änderung des Atomgesetzes erfolgen, in der das aktuell geltende Recht, demzufolge Genehmigungen zum Betrieb ortsfester kerntechnischer Anlagen zum Zwecke der kommerziellen Stromerzeugung nicht erteilt werden, geändert wird. Das ist die Voraussetzung, um die „Berechtigung zum Leistungsbetrieb“ für die bei einer Laufzeitverlängerung in Frage kommenden Anlagen wieder ins AtG aufzunehmen. Das könnte unbefristet geschehen wie in der Schweiz oder befristet, wie bei der Merkelschen Laufzeitverlängerung 2010. Das wiederum ermöglicht rechtlich alle weiteren Vorbereitungen, Wartungen, Prüfverfahren für die Rückkehr zum Leistungsbetrieb, die dann über die Betriebsgenehmigungen abgedeckt werden.
Eine klärungsbedürftige Frage ist allerdings, in welchem Verhältnis die 1. SAG zur prinzipiell weitergeltenden Betriebsgenehmigung eines KKW steht: muss ein Kernkraftwerk, das bereits im Besitz der Stilllegungs- und Abbaugenehmigung ist, für den Leistungsbetrieb eine ganz neue Betriebsgenehmigung erhalten, oder gilt die alte fort? Die Formulierungen lassen nämlich einen Interpretationspielraum.
Atomgegner führen an, dass bei einer Laufzeitverlängerung eine komplette Neugenehmigung der Anlage „nach EPR-Standard“, d.h. nach den Kriterien für Neuanlagen, notwendig wäre. Auch eine neue Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) nach EU-Recht wäre fällig. Das ist die Haltung des Bundesumweltministeriums, das diese Interpretation bereits in der 2022er Laufzeitverlängerungsdebatte anführte, allerdings durch Habecks und Scholz‘ Streckbetriebsgenehmigung selbst teil-überfahren wurde.
Weniger dramatisch erscheint die Frage des Sicherheitsnachweises gegen Flugzeugabsturz großer Verkehrsflugzeuge, denn dieser wurde noch 2021 als Abschluss einen großen Forschungsprojekts der Reaktorsicherheitskommission für die deutschen Vorkonvoi- und Konvoi-Druckwasserreaktoranlagen erbracht. Gegen die konservative Haltung der Grünen im Umweltministerium führte der Atomrechtler Christian Raetzke in seiner Stellungnahme vor dem Umweltausschuss des Bundestags an, dass die ausreichende Schadensvorsorge nach Stand von Wissenschaft und Technik und der ausreichende Notfallschutz von den Bestandsanlagen auch in der Vergangenheit durch jede Wiederanfahrgenehmigung nach Revision von der Atomaufsichtsbehörde auch ohne „EPR-Standard“ bestätigt wurde und dass ein solcher Akt auch in Zukunft ausreiche. Dieses Vorgehen würde dem Schweizer Modell ähneln, in dem Anlagen, die einer ähnlichen Generation zugehören wie unsere, so lange ihre Betriebsgenehmigung erhalten, wie sie diesen Sicherheitsnachweis führen können.
Am Ende würde sicherlich, wie überhaupt in diesem Feld, die Exekutive den Ausschlag geben. Klemmt sich eine künftige Bundesregierung mit dem erklärten Willen einer Laufzeitverlängerung dahinter, würde diese auch rechtsfest gemacht – ein Risiko wären dann allenfalls die erwartbaren Klagen aus dem Anti-Atom-Lager, die in letzter Instanz vor dem Bundesverwaltungsgericht entschieden werden müssten.
Wären diese rechtlichen Fragen des großen Genehmigungsrahmens geklärt, ginge es an die normative Feinarbeit, die für eine Wiederaufnahme des Leistungsbetriebes zwingend nötig wäre. Das betrifft vor allem die bereits durch die Betreiber abgemeldeten Prüfverfahren (Wiederkehrenden Prüfungen) von Systemen, die man nur für den Leistungs- und Nachbetrieb, aber nicht für den Restbetrieb der Anlagen benötigt. Diese Verfahren müssten wieder angemeldet und die Prüfhandbücher gegebenenfalls auf aktuellen Stand gebracht werden. Die Systeme müssten dann im Rahmen der für die Wiederinbetriebnahme notwendigen Wartungsarbeiten im Beisein der behördlich bestallten Sachverständigen des TÜV neu geprüft werden.
Dasselbe gilt auch für die in einigen Anlagen aufgrund des nahenden Auslaufens ihrer Berechtigung zum Leistungsbetrieb „erlassenen“ Periodischen Sicherheitsüberprüfung (PSÜ) nach § 19a AtG und Euratom-Recht (Art. 8c lit. b der Richtlinie 2009/71/Euratom), die normalerweise alle 10 Jahre stattzufinden hat. Diese müsste zB in Isar-2 rasch nachgeholt werden, da sie im normalen Turnus 2019 hätte stattfinden müssen.
Allerdings handelt es sich hier nicht um einen technisch invasiven Prüfeingriff in die Anlage, sondern um eine die anderen Prüfverfahren überwölbende Prüfung, in der die Betriebserfahrungen der vergangenen Prüfperiode ausgewertet und probabilistische wie deterministische Sicherheitsanalysen durchgeführt werden. Nach Einreichung des PSÜ-Berichts bei der Atomaufsicht wird dieser dort und von TÜV-Sachverständigen ausgewertet. Legen die Resultate einen Änderungsbedarf an der Anlage oder ihren Betriebsabläufen nahe, muss die Betreiberin diese Änderungen in der gesetzten Frist durchführen. Die PSÜn wurden in der Vergangenheit stets parallel zum Leistungsbetrieb durchgeführt; Ulrich Waas, der das Konzept selbst mit erarbeitete, hält sie für innerhalb eines Jahres durchführbar. Der Bewertungsbericht kann auch wesentlich länger auf sich warten lassen, wie die Praxis zeigt. Die PSÜ müsste bei den Anlagen, denen sie wegen des Atomausstiegs erlassen wurde, parallel zu den Wiederinbetriebnahme-Maßnahmen durchgeführt werden. Das bedeutet zusätzlich zu der ohnehin anstehenden Mehrarbeit auf der Anlage und bei der Genehmigungsbehörde eine Zusatzbelastung, die bei der Personalplanung zu berücksichtigen wäre.
Ebene 5: Institutionelle Bereitschaft und Social license to operate
Ein weniger häufig beachteter, aber sehr wichtiger Punkt ist die kulturelle und institutionelle Bereitschaft der Bundesrepublik, wieder in die Kernenergie einzusteigen. Es genügt also nicht, die Betriebs- und Anfahrgenehmigungen der Atomaufsichtsbehörden zu erhalten, sondern die Anlagen brauchen auch eine social license to operate, d.h. soziale Akzeptanz. Das ist vor allem für die Betreiberfirmen und die Belegschaften von zentraler Bedeutung, die in den letzten eineinhalb Jahren von wechselnden Stimmungen hin- und hergeworfen wurden und bei einem eventuellen Wiedereinstieg nicht nur Planungssicherheit, sondern auch Respekt für ihre Arbeit brauchen. Nur so könnten sie die Anstrengungen einer Rückkehr zur Kernenergienutzung schultern.
Die Akzeptanz und der Identifikationsgrad mit den Anlagen ist in ihrer unmittelbaren Umgebung hoch, doch auch landesweit müsste ein gesellschaftlicher Grundkonsens über Legitimität, Ziel und Nachhaltigkeit der Laufzeitverlängerung erreicht werden. Denn hier handelt es sich um ein Langfrist-Projekt, das Regierungs- und Stimmungswechseln standhalten muss. Wer also heute für einen Atomeinstieg plädiert, muss anders als Angela Merkel 2011 auch den Mut haben, bei einem Atomunfall im Ausland darauf zu bestehen, dass die Übertragbarkeit des Unfalls auf deutsche Anlagen vor, nicht nach der politischen Entscheidung untersucht werden muss. Im Falle Fukushima war diese, genauso wie bei Tschernobyl, nämlich nicht gegeben.
Doch nicht nur die soziale Akzeptanz der Anlagen in ihrer nahen und weiten Umgebung ist entscheidend – wir bräuchten auch einen Institutionenwandel. Derzeit sitzen in allen unseren mit Energie, Umweltschutz, kerntechnischer Sicherheit und Entsorgung befassten Institutionen, Begleitgremien und Ministerien Akteure, für die der Atomausstieg – und zwar auch weit über Deutschland hinaus – eine heilige Mission ist; viele von ihnen sind Grünen-Mitglieder oder stehen dieser Partei nahe.
Das Bundesamt für Sicherheit der kerntechnischen Entsorgung BASE und das Umweltministerium (BMUV) finanzierten und präsentierten 2023 den „World Nuclear Industry Status Report“ des Anti-Atom-Campaigners Mycle Schneider, als handele es sich um eine neutrale Forschungsgruppe; das BMUV verfasste 2021 ein 12-Punkte-Papier für die „Vollendung des Atomausstiegs“ , das den deutschen Anspruch, auch den europäischen Nachbarn die Kernenergie auszutreiben und solche Bestrebungen im Ausland zu unterstützen, klar formulierte. Das Umweltbundesamt (UBA) verfasste zum Klimagipfel COP28 im November 2023 ein „Factsheet“, in dem es die Rolle der Kernenergie als Klimaschutztechnologie negiert, de facto also versucht, den deutschen Atomausstieg zu exportieren.
All diese Aktivitäten gehen weit über die Implementierung des deutschen Atomgesetzes hinaus, auf die die Behörden als geltendes Recht verpflichtet sind. Die Fachbehörden sollten also auf strenge Fachlichkeit und Neutralität achten und die Leitungsebene frei von parteipolitischen Einflüssen gehalten werden.
Ebene 6: Die Neubau-Frage
Gelingt eine Laufzeitverlängerung der Bestandsanlagen und mit ihr ein Kulturwandel in unseren Institutionen, kann auch über den Neubau von Kernkraftwerken nachgedacht werden – der Vorteil wäre eine nachhaltig tiefe und relativ kostengünstige Dekarbonisierung.
Ein solches System lohnt sich aber erst dann, wenn Kernkraftwerke in ihm eine signifikante Rolle spielen – insbesondere in Deutschland, das anders als die Skandinavier, Franzosen oder Schweizer kaum über klimafreundliche gesicherte Leistung aus Wasserkraft verfügt. Zwar können Kernkraftwerke gut Lastfolge fahren und so gesehen den volatilen Erneuerbaren folgen, aber Investitionen in Neuanlagen lohnen sich nur, wenn Atomkraft einen relativ großen Anteil der Stromversorgung stellt und neue Aufgaben zugewiesen bekommt. AKW könnten im 24/7-Vollast-Betrieb nicht nur Strom für den Direktverbrauch produzieren, sondern auch Elektrolyseure für den Wasserstoffbedarf der Stahl-, Chemie- und anderer energieintensiver Industrien versorgen. Letztere produzieren Wasserstoff nämlich im Dauerbetrieb wesentlich günstiger als wenn sie von den wechselnden Konjunkturen der Wind- und Solarenergie gesteuert werden.
Auch braucht man in einem Stromsystem, in dem Kernenergie einen hohen Anteil (40% und mehr) hat, in wesentlich geringerem Maße Kurzzeit (Batterie-)- und Langzeitspeicher sowie Netzausbau. Man erspart sich also so einen Teil jener Systemkosten, die eine 100%ig auf EE basierende Energiewende so teuer machen. Auf der anderen Seite müssten aber auch in einem solchen System die EE gegenüber heute deutlich ausgebaut werden – pro-nukleare Botschaften mit Windkraft-Hass zu verbinden, wie es die AfD tut, wäre also kontraproduktiv. Man sollte den Deutschen auch reinen Wein einschenken, was eine solche Energiestrategie bedeutet: den sukzessiven Neubau von vielen großen Reaktorblöcken an alten und neu zu wählenden Atomstandorten, letztere wohl vor allem im Osten Deutschlands. Dort ist allerdings auch die Akzeptanz der Kernenergie höher ist als in den alten Bundesländern.
In den Bekenntnissen deutscher Politiker zur Rolle der Kernenergie in einer künftigen Energiestrategie finden wir häufig Aussagen über Small Modular Reactors (SMR) und Kernfusion als Lösung unserer Energie- und Klimanot. Da es sich in beiden Fällen nicht um hierzulande aktuell baubare und in der EU zertifizierte Anlagen handelt, erfüllen solche Bekenntnisse eher eine symbolische Funktion. Man will den Energiewende-kritischen Wählern kommunizieren, dass man für die Kernenergienutzung sei, ohne Gefahr zu laufen, sich in den Niederungen von Genehmigung und Bau neuer Reaktoranlagen (und auch den Protesten dagegen) schmutzig und unbeliebt zu machen.
Mit Fusionsreaktoren rechnen die damit befassten Fachleute frühestens 2050, wenn die NetZero-Industriegesellschaft schon stehen sollte – die Kernfusion eignet sich also allenfalls zur Ablösung der jetzt bestehenden und kommenden Generationen von Spaltreaktoren nach Beendigung ihrer Laufzeit. Das Potenzial der SMR wiederum wird in Debatten gerne überhöht, doch auch sie stehen nicht zur Verfügung – aus konkreten Gründen. Gerade hat ein besonders weit fortgeschrittenes SMR-Projekt in den USA einen herben Rückschlag erlitten, weil die Kostenschätzungen es nicht mehr attraktiv erscheinen ließen. Grund ist nicht nur die Kostenexplosion bei Rohstoffen und Uranversorgung nach dem Beginn der russischen Ukraine-Invasion, sondern auch ein regulatives Setting, das den SMRs unzuträglich ist.
Diese punkten mit Kostenreduzierung durch inhärente passive Sicherheitsfeatures, was bedeutet, dass sie im Unterschied zu großen Leistungsreaktoren Naturprozesse und -gesetze wie z.B. Konvektion und Gravitation nutzen, um die drei Schutzziele einer Reaktoranlage (Wärmetransport aus dem Reaktorkern, Unterkritikalität im Störfall und Aktivitätsrückhaltung) zu erreichen. Da sie nicht so viele engineered safeguards, also zusätzliche gebaute Sicherheitssysteme benötigen, können sie kostengünstig Strom produzieren, so die Theorie. In der Praxis jedoch sind die Aufsichtsverfahren in den USA noch gar nicht an die SMR angepasst – sie werden denselben Anforderungen und aufwendigen Prüfnachweisen unterworfen wie große Druckwasserreaktoren, können also ihren Kostenvorteil letztlich nicht ausspielen.
In der EU sieht das nicht anders aus – es gibt noch keinen in der EU lizenzierten SMR. Der häufig durch die Medien geisternde Dual Fluid Reactor (DFR), der neben Strom nicht nur Hochtemperaturwärme erzeugen soll, sondern auch die Hinterlassenschaften von konventionellen Spaltreaktoren als Kernbrennstoff nutzen und so Atommüll vermeiden soll, hat zwar eine bestechende Reaktortheorie für sich, existiert aber nach wie vor nur in Form von Hochglanzprospekten. Seine in den Reaktorkreislauf integrierte Wiederaufbereitungsanlage dürfte das gesamte Projekt vor unkalkulierbare Herausforderungen bei der Verfahrenstechnik, im Genehmigungsverfahren, beim Strahlenschutz und also auch bei den Kosten stellen. Das DFR-Team strebt erstaunlicherweise erste Lizenzierungsschritte nicht in der EU, den USA oder Kanada, sondern im kerntechnisch unerfahrenen Rwanda an, was den Verdacht nährt, hier sollten um der unternehmerischen Freiheit willen die nicht ganz so strengen Auflagen eines Newcomer-Atomlandes genutzt werden. Das alles macht keine großen Hoffnungen auf eine in Deutschland baubare Anlage.
Überdies stellt sich angesichts des Strombedarfes für die Transformation unseres Landes die berechtigte Frage, ob wir überhaupt kleine modulare Einheiten benötigen, die sich perfekt an EE-dominierte Stromsysteme anpassen müssen. Der eigentliche Idealstandort für SMR sind Länder mit kleinen, weniger leistungsfähigen elektrischen Übertragungsnetzen, die ein zuverlässiges Backup für eine ansonsten EE-dominierte Stromwirtschaft brauchen. Ersetzt man den 1600 MW-EPR durch zehn SMR-Einheiten à 160 MW, benötigt man am Ende womöglich sogar mehr Struktur- und Baumaterial und Kernbrennstoff als für die Großanlage – und hätten am Ende auch mehr kontaminiertes und aktiviertes Rückbaumaterial zu entsorgen. Die Effizienzsteigerung der Erzeuger in potenten Verbundnetzen war ja seit dem Zweiten Weltkrieg das Hauptmotiv der konventionellen wie nuklearen Kraftwerksbauer, auf große Blockgrößen zu setzen.
Große, für das deutsche Netz und die deutschen Strombedarfe gut geeignete, in der EU lizenzierte bzw. lizenzierbare Druckwasserreaktoren werden in Frankreich (Framatome, EPR), den USA (Westinghouse, AP-1000), Südkorea (KHPR, APR-1400) und Russland (VVER-1200, VVER-TOI) gebaut. Russland fällt als Partner Deutschlands aber auf absehbare Zeit weg. Bleiben drei Anbieter. Das Atomeinstiegsland Polen hat sich jüngst für Westinghouse und die Südkoreaner entschieden, die jeweils zwei Blöcke errichten sollen; vor dem EPR schreckten die Polen angesichts der Kostenexplosionen bei den EPR-Baustellen Flamanville-3 und Olkiluoto-3 zurück, die vor allem auf Managementfehler und verfrühten Baubeginn vor Vollendung der Detailplanung zurückzuführen sind. Die Forschung gibt aber Handlungsanweisungen zur Vermeidung von Kostenexplosionen.
Fazit: Schnelligkeit, Mut und Realismus
Zusammenfassend ist festzustellen:
Erstens müssen politische Entscheider, die sich mit der Forderung nach KKW-Laufzeitverlängerung oder sogar Neubau tragen, für eine Rettung der noch rettbaren Bestandsanlagen rasch Kontakt mit den Betreiberfirmen suchen und mutig überparteiliche Bündnisse schmieden, um ein Rückbaumoratorium und die von mir skizzierten weiteren Schritte einzuleiten. Pressetermine vor Werkstoren und vollmundige Versprechungen reichen nicht. Jede weitere Verzögerung macht eine Laufzeitverlängerung teurer und damit unwahrscheinlicher.
Zweitens sollten pro-nukleare Politiker Realisten sein, d.h. sich und ihre Wähler mit dem Umfang der Aufgabe konfrontieren und sich mit Fachleuten konsultieren, die ihnen gesicherte Informationen über die Laufzeitverlängerung, aber auch über an deutsche Bedarfe angepasste und vor allem über aktuell baubare neue Anlagen geben können.
Drittens sollten sich Entscheider vor Augen führen, dass unter deutschen Bedingungen nur eine ausreichend lange Laufzeitverlängerung eine Rettung der Bestandsanlagen rechtfertigen würde.
Viertens müssten sie auf einen langfristigen Kulturwandel in unserem Land hinwirken – in Medien, Kirchen, Schulen und eben auch unseren Behörden. Wir brauchen eine evidenzbasierte, selbstkritische, aber vorurteilslose Haltung zur Atomkraft. Und wir brauchen nuclear literacy in unserer Gesellschaft, Breitenbildung über Kerntechnik und ionisierende Strahlung, um Angstbotschaften entgegenzuwirken.
Fünftens benötigen wir einen Wiederaufbau unserer kerntechnischen Wissenschaftsinstitutionen. Das ist eine Grundvoraussetzung für die Ausbildung des wissenschaftlich-technischen Nachwuchses.
Es mehren sich die Zeichen, dass der Wandel vor der Tür steht. Die Diskurshegemonie der Atomgegner ist bereits mit dem Beginn der russischen Großinvasion in der Ukraine in Frage gestellt worden. Sie erodiert mit jedem Tag: nicht nur nimmt die Aufgeschlossenheit und Neugierde gegenüber der Kernenergie in der Bevölkerung zu, sondern es nimmt auch die Vorstellung ab, sie sei verzichtbar. Die Tragik ist, dass auch unsere noch zu rettenden Kernkraftwerke mit jedem Tag ein wenig mehr zurückgebaut werden.
Die Verfasserin dankt Rainer Moormann (Aachen) und Ulrich Waas (Erlangen) für die kritische Durchsicht dieses Aufsatzes und für wertvolle Anregungen.