Die Intervention gegen Saddam bleibt richtig
Kaum ein Thema erzeugt in Deutschland eine solche politische Einigkeit wie die Feststellung, dass der Irakkrieg ein Fehler war. Doch einmütig bedeutet noch lange nicht korrekt, wie unser Gastautor klarstellt.
Im Herbst vergangenen Jahres fuhr ich mit einem kurdischen Freund durch Sulaimaniyya, die kulturelle Metropole im Osten Irakisch-Kurdistans. In den Straßen, wo einst das Gesicht des „Großen Bruders“ Saddam Hussein auf gewaltigen Plakaten prangte, verkaufen heute Händler in kleinen Buchläden arabische und kurdische Ausgaben von Orwells 1984. Der ehemalige Folterknast für politische Gefangene Amna Sukra, das „rote Gefängnis“, ist heute ein Museum für die Verbrechen des Regimes der Baathpartei, in dem auch die weltweit erste Ausstellung zum Kampf gegen den IS zu besichtigen ist. Wie mein kurdischer Freund bezeichnen viele seiner Landsleute den Sturz Saddams durch Intervention 2003 immer noch als „Befreiung“.
Nicht so die Deutschen. Wenn man ein Thema nennen müsste, das in der hiesigen Politik harmonische Eintracht in der Bewertung hervorruft, dann wäre es wohl die Annahme, dass der gewaltsame Sturz des Diktators vor etwas über siebzehn Jahren ein Fehler war. Von der Linken über die ehemaligen Volksparteien bis zum braunen Schlick ist man sich grundlegend einig: Die Intervention der US-geführten Koalition habe das Land in einen Bürgerkrieg gestürzt und die gesamte Region destabilisiert.
Ende eines latenten Kriegszustands
Doch wo mit solcher Wonne unisono gesprochen wird, lohnt es sich, genauer hinzuschauen. Denn trotz der offenbaren Mängel in der Begründung des Einsatzes und in der Kriegsführung war die Entscheidung, der blutigen Herrschaft Saddams ein Ende zu setzen, vollkommen richtig. Wenn uns die neuere Geschichte Mesopotamiens Eines lehren kann, dann dass eine erneute Konfrontation mit dem manischen, genozidalen Herrscher nur eine Frage der Zeit gewesen wäre. Der Giftgasangriff auf die Kurden im Nordirak, der Überfall auf Kuwait und die anschließende brutale Niederwerfung von Aufständen drängten die USA und Großbritannien im Jahre 1991 dazu, die Bevölkerung im Norden und im schiitischen Süden mit Flugverbotszonen vor der gefürchteten Luftwaffe des Diktators zu schützen. NATO-Truppen befanden sich seit 1990 de facto bereits in einem Krieg mit geringer Brennkraft auf irakischem Territorium. Diesem latenten Kriegszustand wurde durch die Offensive 2003 ein lang überfälliges Ende bereitet.
Kommen wir zur Begründung des Einsatzes durch die amerikanische und britische Regierung. Sicherlich ist es unmöglich, eine Intervention gutzuheißen, die auf Fehlinformationen und Lügen über das irakische Programm für Massenvernichtungswaffen aufbaute und die ferner legitimiert wurde, indem man die unmittelbare Gefahr des irakischen Regimes bedrohlich aufbauschte?
Ich meine, ein Krieg kann gerecht sein, selbst wenn die Begründungen der Befehlshaber fragwürdig sind, solange das angestrebte Ziel – die Befreiung und Demokratisierung des Iraks – gleich bleibt. Einzig der moralische Imperativ, dass der irakischen Geheimpolizei und dem Massengrabregime ein Ende bereitet werden mussten, hätten stärker betont werden sollen. Ferner hatte Saddam Hussein in der Vergangenheit auch versucht, an Atomwaffen zu gelangen und mehrfach über sein klandestines Programm gelogen. Diese Gefahr war auch 2003 keineswegs dauerhaft gebannt: Als der Staub nach dem Sturz des ancien régime sich in Bagdad allmählich legte, führte Mahdi Obeidi, ein renommierter irakischer Wissenschaftler, die Koalitionstruppen zu einer Grube in seinem eigenen Garten, in der er auf Geheiß Komponenten und Pläne eines uranfähigen Zentrifugenprogramms vergraben hatte (nachzulesen in seinem wertvollen Buch „The Bomb in my Garden“).
Angriff auf den neuen demokratischen Irak
Aber ist der Krieg nicht trotzdem gescheitert? In der Tat führten mangelnde Erfahrung und auch Inkompetenz der Koalitionstruppen mancherorts zu Fehlern, deren krimineller Tiefpunkt wohl die Folter von Gefangenen in Abu Ghraib war. Man muss die Koalition dort kritisieren, wo sie ihre eigenen Ziele nicht erfüllen konnte: Sie vermochte es nicht, die im Aufbau befindliche irakische Selbstverwaltung vor dem enthemmten Angriff von Abu al-Zarqawis Al-Qaida im Irak zu schützen. Dieses Frankenstein‘sche Flickwerk aus abgesetzten Kadern der Baathpartei, ehemaligen Kräften der irakischen Armee sowie heimischen und ausländischen Islamisten bekämpfte nicht nur die amerikanisch geführten Truppen, sondern auch die irakische Zivilgesellschaft und mit besonderer Hingabe die schiitischen „Ungläubigen“. Zwar kleidete die faschistisch-theokratische Gruppe ihren Versuch, den Irak erneut zu unterwerfen und die sunnitische Herrschaft wiederherzustellen, in nationalistische Widerstandrhetorik gegen die westlichen „Besatzer“, tatsächlich aber hatte ihr Angriff auf die demokratischen Bestrebungen des Iraks kaum damit zu tun, dass der Großteil der ausländischen Truppen aus Amerika und Großbritannien kam. An der Abwehr derart totalitärer Herrschaftsfantasien müssten auch stärkere Gesellschaften scheitern. Den westlichen Einheiten vor Ort war und ist daher vielmehr zu danken, dass sie gemeinsam mit Kurden und Irakern Al-Qaida bekämpft haben und mancherorts heute noch den IS bekämpfen.
Zwillingsregime in Damaskus
Die Beseitigung des Baath-Regimes war zweifellos eine notwendige Bedingung für die Demokratisierung des Landes. Vor der Lahmlegung des öffentlichen Lebens durch die Coronavirus-Pandemie ging Anfang dieses Jahr von Bagdad bis Basra die irakische Jugend auf die Straße, um gegen die jetzige korrupte Herrschaftselite zu demonstrieren. Diese herrschende Kaste, die dem iranischen Regime die Türen geöffnet hat, ist gleichsam der Beweis, dass die Intervention von 2003 nicht die hinreichende Bedingung für einen föderal-demokratischen Irak war. Viele Iraker und (besonders) Irakerinnen sind das sektiererische, patriarchale Patronagesystem leid, das sich seitdem entwickelt hat. Und obwohl iranische und irakische Milizen die Proteste vielerorts brutal niederschlugen, kann man sich leicht ausmalen, was für ein Blutbad Saddamerst unter den tapferen Demonstranten angerichtet hätte. Einen Eindruck seiner früheren Skrupellosigkeit vermittelt bis heute ein Blick auf Saddams Zwillingsregime in Damaskus, das nach Beginn der Proteste 2011 die Parole „Assad oder wir brennen das Land nieder“ ausrief und Syrien zu einem Trümmerhaufen zusammenbombte.
Da Saddam jedoch Geschichte ist, hat der Irak mit dem angesehenen Mustafa al-Khadimi seit Kurzem einen neuen Premierminister, der nicht nur 2003 die Iraq Memory Foundation zur Aufarbeitung der totalitären Baath-Herrschaft gegründet, sondern in seinem neuen Amt auch erste Schritte unternommen hat, um die von Teheran unterstützten schiitischen Milizen an die Kandare zu nehmen.
Ohne Eingreifen von außen geht es nicht
Aus vielen Bewertungen des Irakkrieges in Deutschland spricht hingegen vor allem eine Ignoranz den internen Dynamiken des Landes gegenüber. Wer sich mit dem Irak beschäftigt hat, der weiß, dass die „Stabilität“ im Stile Saddam Husseins die Stabilität des Stiefels und die vermeintliche Ruhe von vor 2003 eine Friedhofsruhe war. Gerade Deutschland stehen simple Urteile und naseweise Belehrungen an die Amerikaner dabei besonders schlecht an: Schließlich waren es deutsche Unternehmen, die einst Saddams Giftgasfabriken bauten und die Chemikalien lieferten, mit denen der Diktator tausende kurdische Zivilisten in Halabdscha vergaste. Die jüngste Geschichte des Iraks verdeutlicht dennoch, dass eine Demokratisierung nicht durch das schlichte Umlegen eines Schalters zu erreichen ist – besonders in einem Land, das sich staatliche und erst recht demokratische Stabilität erst noch erkämpfen muss. Solche Transformationen gehen häufig mit einem hohen Blutzoll einher, und nicht selten ist Eingreifen von außen notwendig, um die Kräfteverhältnisse entscheidend zu beeinflussen, wie uns in Deutschland nur allzu klar sein sollte. Wir können dabei den Blick abwenden, die Verantwortung abstreifen und die peinigende Frage nach einer militärischen Intervention erst gar nicht stellen. Wir können uns wünschen, dass alles einfacher vonstattengehen möge. Aber es würde beim Wunsche bleiben.
Leon Holly, Jahrgang 1996, studiert an der Freien Universität Berlin Nordamerikastudien und schreibt über Politik und Kultur.