Dieser Tage wurden wieder mal alte sozialistische Rezepte hervorgeholt und als Visionen verkauft. Aber sie taugen nichts und werden auch von den wirklich neuen Zukunftsentwürfen links liegen gelassen. Eine Klarstellung.

Ich will Ihnen gleich zu Beginn meiner Kolumne ein Geheimnis verraten: Es existiert in unserer bunten und vielfältigen Öffentlichkeit ein selbstbewusstes und eigenständiges Genre namens „Kapitalismuskritik“. Ich weiß, das ist Ihnen wahrscheinlich auch schon aufgefallen, aber in den letzten Tagen wurde in der besagten Öffentlichkeit erstaunlicherweise so getan, als wäre die Kritik an unserem Wirtschaftssystem etwas völlig Neues, als wäre in den Medien, von denen über Zweidrittel der Journalisten sich auf der Werteskala links einordnen, nie ein Murren über kapitalistisches Profitstreben und Privateigentum zu vernehmen und als wären die Sozialwissenschaften an den Universitäten nicht Bootcamps für Gesellschafts- und Systemveränderung, die immer wieder mit zweifelhaften Studien Politik machen wollen.

Das neuerliche Hoch der Kapitalismuskritik entstand durch ein Interview, das der Vorsitzende der Jungsozialisten in der SPD, Kevin Kühnert, der Wochenzeitung der „Zeit“ gegeben hat. Die beiden Interviewer wollten es mal genau wissen, was Kühnert unter Sozialismus heute so versteht. Das Ergebnis: dasselbe, was in den Jahrhunderten seit dem Beginn der Industrialisierung unter Sozialismus als Gegenspieler des Kapitalismus zu verstehen ist – also Vergesellschaftung oder Verstaatlichung, Abschaffung des Privateigentums, Vergemeinschaftung aller Lebensbereiche. Die Prämisse dieses Umsturzbegehrens: eine Welt zu schaffen, „die kollektive Bedürfnisse in den Vordergrund stellt und nicht Profitstreben“, so Kühnert. Dies ist natürlich an sich eine gute Idee, die wahrscheinlich die Mehrheit so unterschreiben würde; aber man könnte ob der Tatsache, dass der Kapitalismus nun schon so lange sein Werk verrichtet und den Sozialismus aus dem Ring geboxt hat, auch einmal feststellen, dass er diese „kollektiven Bedürfnisse“ mittlerweile sehr gut befriedigt – man nennt das allgemeinen Wohlstand – und dass Profitstreben ohnehin nicht der alleinige Motor für freies Wirtschaften ist, ja, dass der Profit immer weniger eine Rolle spielt, sondern immer mehr die Selbstverwirklichung, die Zufriedenheit, der Wunsch, kreativ zu sein und die Welt mit Ideen und neuen Produkten zu verbessern. Wer heute ein Startup gründet oder eine Macarons-Manufaktur, der macht es gewiss sehr oft einfach deshalb, weil man unabhängig sein, seine Träume verwirklichen und sinnvoll seinen Lebensunterhalt verdienen will. Das sind alles Antriebe, die in der sozialistischen Musterwelt nicht vorkommen können bzw. dürfen, denn es könne ja kein richtiges Leben im falschen geben, wie sich Kühnert auf Adorno berief.

BÖSES EIGENTUM?

Besonders auf dem Kieker haben die neuen Altsozialisten àla Kühnert das Privateigentum; das identifizieren sie als Haupthindernis für die allgemeine Wohlfahrt. Tatsächlich strebt jeder, der es kann, nach Eigentum, weil es finanzielle Sicherheit gibt, Unabhängigkeit und einen gewissen Schutz vor Willkür und Zumutungen aller Art. Dadurch privilegiert Eigentum natürlich diejenigen, die es haben, gegenüber denen, die es nicht haben. Aber gerade in Deutschland haben es immer mehr. Es ist Ergebnis der Wohlstandsvermehrung der vergangenen 60 Jahre, das auch per Erbe vergeben wird und so in diesem Land eine Mittelstandsgesellschaft geschaffen hat, die die Republik bislang einigermaßen krisenfest halten konnte. Und nun wollen Linke wie Kühnert genau diese Säule für die Verwirklichung ihrer verstaubten Projekte aus dem 19. Jahrhundert untergraben. Ich wage mal die Prognose: Das wird im Land trotz des Marketings durch einige Medien auch weiterhin nicht wirklich gut ankommen. Und auch die Idee, einen Auto-Giganten wie BWW als Beispiel für seine Vergesellschaftungsthesen zu nehmen, entbehrt nicht eines gewissen Hangs zur Selbstentlarvung. Die Arbeiter und Angestellten in den großen Autobetrieben – ungeachtet der Gaunereien und Fehler im Management – gehören immer noch zum Adel der Arbeiter und Angestellten: Sie verdienen prächtig, haben starke Betriebsräte und Mitbestimmungsrechte. Nebenbei sind die Produktionsstätten Anziehungspunkte für Generationen von Migranten gewesen und sind es immer noch – das sind übrigens Menschen, die Auskommen suchen und Sicherheit, nicht Sozialismus.

DAS DILEMMA DER SPD

Aber egal. Kühnert wird trotzdem gefeiert, zum Beispiel vom „Spiegel“: Der Essayist Nils Minkmar feiert ihn gar als Tabubrecher. Das ist ja ein beliebtes Mittel, um für eine Sache oder eine Person zu werben, aber doch als Trick auch leicht zu durchschauen: Denn wo es kein Tabu gibt, da kann es auch keiner brechen. Hier ist allerdings ein Einschränkung zu machen: In der SPD ist über sozialistische und grundstürzende Ideen tatsächlich schon länger nicht mehr laut und deutlich gesprochen worden. Das ist nicht ungewöhnlich, denn die SPD war nie eine sozialistische, sondern eine sozialdemokratische Partei. Sie besaß zwar immer auch ein paar kleinere ideelle wie kulturelle Traditionsbestände aus den Zeiten ihrer Gründung vor bald 156 Jahren, aber spätestens seit den sechziger Jahren waren die zur Nische verkommen. Das hatte zwei Gründe: Die Sozialdemokraten wollten endlich mehrheitsfähig werden, und das konnten sie nur, wenn sie sozialistische Ideen wie die „Verstaatlichung der Großwirtschaft“ weitgehend dispensierten und sich ohne Wenn und Aber zu sozialer Demokratie, Fortschritt (!), Reformen und Freiheit bekannten. Ihr Vorsitzender Willy Brandt hat das in den sechziger Jahren immer wieder betont. Dies befleißigend, hat es die SPD geschafft, dass vom 20. Jahrhundert als einem „sozialdemokratischen Jahrhundert“ (in Europa) gesprochen wurde, weil es die Triebkräfte des Kapitalismus halbwegs bändigte, ohne sie abzuwürgen, und gleichzeitig für ein einträgliches Maß an sozialstaatlicher Umverteilung der Profite sorgte. Aber dann hat sie, geschwächt von einer Mischung aus Prinzipien- und Ideenlosigkeit, dem Rausch des Erfolgs sowie durch den Umstand, dass sie selbst von Konservativen mit Erfolg kopiert wurde und die ökologischen Fragen der postmateriellen Milieus ignoriert hatte, dann vor rund zwanzig Jahren entscheidende Fehler gemacht: Sie hat sich vom Neoliberalismus als scheinbar unabänderlichen Trend verführen lassen und das Tafelsilber der Städte und Gemeinden wie Wasserwerke und Wohnungsgesellschaften verscherbelt und den Bau von Wohnungen schließlich allein dem Markt überlassen. Das haben die Konservativen und Liberalen natürlich auch gemacht, aber das hat deren Klientel weniger tangiert. Die SPD hat sich davon jedenfalls bis heute nicht erholt. Hinzu kommt ein eklatanter Mangel an charismatischen oder zumindest strategisch versierten Führungskräften. Und nun kommt auch noch der Juso-Vorsitzende mit halbgaren Ideen aus der Mottenkiste.

Trotzdem wird er gefeiert nach dem Motto: „Endlich sagt es mal einer!“ Minkmar will uns Kevin Kühnert sogar als Visionär verkaufen, der mit der Vergesellschaftung eine ganz neue, flotte Idee vorlegt. Um zu beweisen, dass so etwas notwendig ist und funktionieren kann, preist er ein entsprechendes Lebensmittelprojekt in Paris, das den Franzosen endlich wieder preiswerte Lebensmittel bietet. Minkmar ist ein profunder Kenner Frankreichs, aber ich würde ihm doch einmal empfehlen, seine Wochenendeinkäufe beispielsweise in Berlin zu machen. Deutschland ist nicht nur durch die Konkurrenz von Discountern das Land der superpreiswerten Lebensmittel (allerdings zum Teil auf Kosten der Bauern), sondern auch der Biosupermärkte, die oft erschwinglich sind; und Genossenschaften findet man darunter auch wie bei Druckereien, Bäckereien, Wohngruppen usw.

Dies ist ein freies Land. Jeder kann hier Genossenschaften gründen – und viele tun es einfach, nehmen Kredite und Risiken in Kauf, während linke Politiker und Journalisten von Enteignungen als Lösung aller Probleme schwärmen.

VISIONEN? GIBT ES DOCH SCHON!

Dabei gibt es keinen Zweifel: Der Kapitalismus schafft nicht nur Wohlstand, er schafft auch Probleme. Er betreibt Raubbau an natürlichen wie kulturellen Ressourcen; er verdrängt Kosten in die Zukunft und auf andere Kontinente; er finanzialisiert alles, was Geld bringen könnte. Vor allem aber hat die Politik durch die Schaffung einer fast unregulierten Finanzwirtschaft eine Bestie geschaffen, die wie ein Rumpelstilzchen aus Stroh Gold spinnen will und nur durch eine gemeinsame Anstrengung der Staatenwelt eingefangen werden kann. Und dann gibt es noch den Wandel unserer Arbeits- und Lebenswelt durch die Digitalisierung, die mit Rezepten aus dem 19. Jahrhundert überhaupt nicht zu gestalten ist. Und von der ökologischen Krise, die bekanntlich in den sozialistischen Staaten des vorigen Jahrhunderts noch größer war als im neoliberalen Heute, haben wir jetzt noch gar nicht gesprochen.

Alle diese Herausforderungen machen die Notwendigkeit neuer Ideen deutlich. Dass der Staat wieder eine größere Rolle spielen wird, ist unübersehbar. Denn die neoliberalen Zeiten der Deregulierung gehen dem Ende zu. Regulierungen sind das neue heiße Ding. Mit ihnen verbunden sind nicht nur die Beschränkung der Allmacht digitaler Großkonzerne, sondern auch staatliche Vorgaben für Klimaschutz. Die Linken beklagen sich immer gerne über einen Mangel an Visionen, und weil ihnen nichts einfällt, greifen sie gern auf Marx und Lenin zurück. Aber die neue Vision ist schon da und weitgehend ausformuliert. Sie klingt nur nicht so sexy. Sie heißt „ökologische Transformation“. Das heißt: intelligentes Wachstum, Effizienzrevolution, Entkopplung des Wachstums vom Naturverbrauch, gesellschaftliche Teilhabe am wirtschaftlichen Mehrwert durch Kapitalbeteiligung, Teilen und Tauschen, Förderung und Schutz öffentlicher Räume, Umbau von einer Kohlenstoffwirtschaft zu einer Kreislauf- und Solarwirtschaft usw. Das alles ist durch Unternehmergeist, Kreativität, Innovationskraft, Freiheit, Fleiß und neue Finanzierungen erreichbar. Es ist eigentlich sogar schon auf dem Weg. Der Staat kann dies, nein, muss dies – weil es notwendig ist – durch geeignete Rahmenbedingungen, steuerpolitische Maßnahmen, Förderungen und Regulierungen ermöglichen. Es wird auch so kommen.

Den Sozialismus können Sie vergessen.