Die Dresdenisierung der Flüchtlingspolitik
Mittlerweile sind es nicht mehr nur Ewiggestrige, die die Naziverbrechen verharmlosen, um ihre politische Agenda durchzusetzen. In der Flüchtlingspolitik bedienen sich auch Vertreter der großen Parteien solcher Verweise und merken nicht, wie sehr sie damit denen in die Karten spielen, die etwa im Luftangriff auf Dresden einen „Bombenholocaust“ sehen.
Es ist noch nicht lange her, da galt es unter Demokraten als Tabu, mit Verweis auf die Naziverbrechen eigene parteipolitische Ziele durchzusetzen. Nur Rechtsradikale und Revisionisten versuchten gezielt durch die Leugnung der Kriegsschuld oder des Holocaust, Wähler zu mobilisieren. Im Rest der Republik hatten das „nie wieder“ und das „Wehret den Anfängen“ beinahe die Bedeutung weltlicher Gebetsformeln. Jeder Versuch der Relativierung wurde entschieden abgewehrt.
Doch diese Zeiten scheinen vorbei zu sein. Mittlerweile sind es nicht mehr nur die Ewiggestrigen, die versuchen, die zwölf NS-Jahre zu ihren Gunsten umzudeuten. Auch das „bunte“ Deutschland verweist zunehmend auf sie, um konkrete heutige Politik zu rechtfertigen. Spätestens seit der Flüchtlingskrise, die im Herbst 2015 einsetzte, ziehen auch Vertreter etablierter Parteien Vergleiche zu den Opfern der Nazis. Mal subtiler und mal weniger subtil, doch mit jedem dieser Verweise wird das Vernichtungswerk der Nazis ein Stück mehr relativiert – also genau das, was lange aus gutem Grund vermieden wurde.
Die Verbrechen an den Juden sollten nicht zur Verhandlungsmasse tagespolitischer Entscheidungen werden, um damit das Gedenken und die Erinnerung an diese Taten nicht zu entwerten. Aktuell besteht die Gefahr, dass dieser Konsens aufgegeben wird, um im Streit um die richtige Flüchtlingspolitik mit Emotionen statt Argumenten zu punkten. Sollte sich das so fortsetzen, braucht es eigentlich keine AfD mehr, um die nachkriegsdeutsche Erinnerungskultur zu ramponieren, das erledigen die etablierten Parteien womöglich mit den besten Absichten von ganz alleine.
Mit einer irritierenden Unbekümmertheit findet etwa der SPD-Veteran Karl Lauterbach auf Twitter folgende Worte, um einen kritischen Artikel zur Flüchtlingspolitik zu kommentieren: „Jeden Tag eine gute Portion Hass und Hetze gegen Flüchtlinge, es erinnert an Nazi Juden Propaganda“, womit er die Nazi-Propaganda gegen Juden meinte. Im besagten Artikel wird über zwei syrische Familienväter berichtet, die jeweils mehrere Frauen haben und von Sozialhilfe leben. Dass Lauterbach sich durch diesen Text sogleich an die antisemitische Propaganda der Nazis erinnert fühlte, zeigt, dass längst nicht nur bei vielen Gegnern der Flüchtlingspolitik alle Maßstäbe verrutscht sind.
Flucht und Deportation
Diese Verbindung zwischen den Flüchtlingen von heute und den entrechteten Juden von damals herzustellen, ist aus mehreren Gründen falsch. Es fantasiert eine irgendwie vorhandene Parallelität zwischen Menschen, die zu Hunderttausenden Schutz in Deutschland gesucht und gefunden haben und Menschen, die zu Hunderttausenden von Deutschland deportiert und umgebracht wurden herbei. Wer hier eine strukturelle Ähnlichkeit erkennen will, versteht weder die aktuelle Flüchtlingsproblematik noch hat er sich offenbar jemals mit dem Holocaust und seiner Vorgeschichte beschäftigt.
Doch ist diese Geschichtsblindheit nicht das größte Problem. Noch problematischer ist, dass solche Äußerungen ungemein hilflos wirken. Wer meint, die Naziverbrechen thematisieren zu müssen, um Werbung für eine flüchtlingsfreundliche Politik zu betreiben, vertraut offenbar nicht der Stärke der eigenen Argumente. Die Verweise auf die Judenvernichtung sind jedenfalls kein Argument, sie sind stattdessen von einer atemberaubenden Unkenntnis oder Ignoranz getrieben.
Solche Vergleiche spielen im Übrigen denen in die Hände, die die Naziverbrechen aus ganz anderen Motiven relativieren. Etwa die Aktivisten in Dresden, die die alliierten Luftangriffe einen Bombenholocaust nennen. Lauterbach trägt mit seinen Äußerungen zu einer stärkeren Legitimierung solcher Sichtweisen bei, weil die Naziverbrechen zu einem legitimen Bezugspunkt werden. Lauterbach mag dabei an die Flüchtlinge von 2015 denken, andere eben an die Toten der Luftangriffe auf Dresden. Geschichtsklitterung wird jedenfalls nicht besser, nur weil sie einem vermeintlich guten Ziel dient.
„Dieser Text ist zuerst bei SPIEGEL DAILY erschienen, der smarten Abendzeitung – News, Meinung, Stories. Hier finden Sie die aktuelle Ausgabe.“