Der Harvard-Politologe Yascha Mounk hat mit seinem Buch „Der Zerfall der Demokratie“ nicht nur eine Analyse über die Gründe des Aufstiegs populistischer Bewegungen vorgelegt, sondern Lösungsansätze entwickelt, die auf einen Bruch mit dem Postmaterialismus hinauslaufen. Ein Interview.

Stefan Laurin: Sie sind am Ende Ihres Buches sehr pessimistisch und sagen, die Demokratien könnten in wenigen Jahrzehnten unter dem Ansturm der Populisten wie einst die Römische Republik zusammenbrechen. Warum glauben Sie, dass die Zukunftsaussichten für die liberalen Demokratien so schlecht sind?

Yascha Mounk: Die Demokratie ist jetzt in Gefahr, das sieht man an Ländern wie Polen und den USA und auch am Erfolg der AfD in Deutschland. Die Annahme, die wir jahrzehntelang hatten, nämlich, dass die Demokratie so sehr gefestigt ist, dass wir uns um sie nicht mehr sorgen müssen, gilt so nicht mehr. Aber ich bin insofern optimistisch, als ich glaube, es gibt noch viel, was wir tun können, um die Demokratie zu retten. Wir sind nicht machtlos.

Laurin: Sie haben drei Bereiche aufgezählt, die für eine stabile Demokratie notwendig sind: Einer ist die Überzeugung der Menschen davon, dass es ihnen gut geht, das Wissen, dass sie in sicheren sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen leben und der Glaube, ihren Kindern wird es besser gehen.  Haben wir uns das selbst in Deutschland kaputt gemacht, indem hier propagiert wurde, es gäbe kein Wirtschaftswachstum mehr und Wachstum sei auch nichts Gutes?

Mounk: Wir haben uns zu wenige Gedanken gemacht, was die wirtschaftlichen Grundbedingungen sind, die es braucht, damit unsere Demokratie stabil bleibt, und sind etwas ins Utopische abgerutscht. Gerade wenn es um so etwas wie das wirtschaftliche Wachstum geht, ist es natürlich verlockend zu sagen: „Naja, vielen Menschen geht es doch gut und die Umwelt ist natürlich auch etwas, das zu schützen ist. Warum geben wir nicht auf, mehr wirtschaftliches Wachstum haben zu wollen und setzen andere Prioritäten?“ Und dabei ist uns nicht mehr die Idee gekommen, dass wirtschaftliches Wachstum unglaubliche politische Stabilität mit sich bringt. Zum einen, weil es den Menschen die Sicherheit gibt, dass das politische System für sie funktioniert, dass die Politiker für sie liefern. Zum anderen, weil eine Gesellschaft ohne wirtschaftliche Dynamik jungen Leuten weniger Chancen bietet. Es ist dann schwer, dafür zu sorgen, dass es genug Wohnraum oder Berufschancen gibt.

Laurin: Eine Gesellschaft mit einem geringen Wachstum wird doch auch mehr Probleme haben, Flüchtlinge zu integrieren als eine Gesellschaft mit einer hohen wirtschaftlichen Dynamik?

Mounk: Das hat die amerikanische Soziologin Arlie Hochschild sehr schön ausgedrückt. Sie sagt, viele der Menschen, die sie in Louisiana besucht hat, wo Trump haushoch gewann, sagen: „Ich habe mein ganzes Leben hart gearbeitet und warum geht es dem Einwanderer plötzlich besser als mir?“ Das kann viele Gründe haben: Der Einwanderer hat vielleicht eine höhere Bildung, lebt in funktionierenden Familienstrukturen, besitzt vielleicht auch eine höhere Arbeitsmoral. Aber aus Sicht der Menschen, die das Gefühl haben, bei ihnen stagniert alles, ist es verlockend zu sagen, und das ist das Bild, das ihr immer wieder mitgeteilt wird: „Dass ich hier in der Schlange stehe und jetzt kommt jemand und drängelt sich vor, das ist unfair.“

Laurin: Sie schreiben, wie ja auch Hochschild, dass es ist wichtig ist, mit den sogenannten „kleinen Leuten“ zu reden und ihnen nicht arrogant entgegenzutreten, dass es wichtig ist, ihre Sorgen ernst zu nehmen.

Mounk: Selbst das hat ja wieder mit Konsum zu tun. Die Menschen, die am ehesten sagen, „Wir brauchen eigentlich kein wirtschaftliches Wachstum mehr in unserer Gesellschaft, Konsum ist überbewertet“, das sind oft Menschen, die in schönen großen Wohnungen in den angenehmeren deutschen Städten leben, die in teuren Biomärkten einkaufen gehen, die ihren Kindern teure Auslandsreisen finanzieren, um ihren Horizont zu erweitern. Die sind natürlich darüber erhaben, mit einem fetten Auto oder einer großen Goldkette anzugeben, und deshalb ist ihnen nicht einmal mehr bewusst, wie sehr das, was dazugehört zu diesem Milieu, dem dort üblichen literarischen Geschmack, auch vom Geld abhängt. Und wenn Menschen, die davon weit entfernt sind, von dieser Heuchelei etwas spüren, dann sind sie nachvollziehbarerweise verärgert.

Laurin: Sie schreiben, die demokratischen Parteien müssten enger zusammenrücken. Als mahnendes Beispiel führen sie die USA an, wo Republikaner und Demokraten kaum noch miteinander reden können und sich blockieren, wo immer es geht.

Mounk: Es gibt zwei wichtige Normen in einer Demokratie: Erstens muss man sich gegenseitig tolerieren können. Ein überzeugter Sozialdemokrat ist natürlich der Ansicht, das Land wäre besser dran, wenn die CDU nicht regiert, aber gleichzeitig kann er zugeben, dass das Land nicht untergeht, wenn die CDU regiert. Und zweitens: Man schöpft die eigene Macht nicht bis zum Limit aus. Das bedeutet im deutschen Kontext, man macht im Bundesrat nicht Totalopposition und sorgt dafür, dass das Land unregierbar wird. Das kann sich auch in Deutschland relativ schnell ändern. Zwischen CDU und SPD, sogar zwischen Grünen und CSU gibt es diese Normen. Aber ob sie erhalten bleiben, wenn die AfD oder auch die Linke mehr Macht erhält, ist eine offene Frage. Wir werden bald Landtagswahlen haben, bei denen AfD und Linke zusammen wahrscheinlich auf über 50 Prozent kommen werden.

Laurin: War die Debatte im Bundestag über Deniz Yücel ein Vorgeschmack auf das, was noch kommt?

Mounk: Dass man auch über die Arbeit und die Person von Yücel kontroverse Diskussionen führen kann, ist das eine. Dass man, wie es die AfD macht, einem Mitbürger abspricht, ein Deutscher zu sein, und zum Zweiten sagt „Wir freuen uns nicht über die Freilassung dieses Mitbürgers aus der Haft eines diktatorischen Regimes“, das ist genau diese Art von Aufkündigung dieser Grundnorm, dass man sich gegenseitig als legitime Mitbürger betrachtet, selbst wenn es große politische Unterschiede gibt.

Laurin: Unkontrollierte Einwanderung, zurzeit das wohl wichtigste Thema in Deutschland, ist für Sie ein weiterer Faktor, der eine Demokratie destabilisiert.

Mounk: Bei der Einwanderung müssen wir verschiedene Aspekte betrachten: In einer liberalen Demokratie müssen wir alle Bürger gleichbehandeln. Wir können nicht sagen, nur Menschen einer bestimmten Ethnie oder solche, die einer bestimmten Religion huldigen, haben hier volle Rechte. Wir müssen uns ganz klar dagegen wenden, zum Beispiel Muslime auszugrenzen. Man mag verschiedene Meinungen zu einer sinnvollen Einwanderungspolitik haben. Ich persönlich habe das Gefühl, dass eine multiethnische Gesellschaft zum Beispiel in Kanada gut funktioniert, weil zwar viele Menschen einwandern, aber Kanada darauf pocht, dass sie gut qualifiziert sind. In Deutschland haben wir leider immer noch aus historischen Gründen die Vorstellung, dass Einwanderer generell minderqualifiziert sind. Ich glaube, das gesellschaftliche Miteinander würde sich verbessern, wenn das Gros der Einwanderer, die in den nächsten Jahren zu uns kommen, hochqualifiziert wäre. Aber das Dritte und Wichtigste ist, dass wir über diese Frage eine offene politischen Diskussion führen sollten, die legitim ist, auch wenn ich in diesem Punkt eine andere Meinung habe als viele andere Menschen und ich mir eine offenere Einwanderungspolitik wünschen würde als der Großteil der Deutschen. Wenn das nicht geht, ist es schwieriger, die wirklichen Gefahren zu sehen, wenn zum Beispiel unsere Mitbürger als illegal abgestempelt werden oder wenn behauptet wird, Menschen einer bestimmten Hautfarbe oder Religion könnten per se keine Deutschen sein.

Wenn wir so etwas wie eine Diskussion über Einwanderung für demokratisch illegitim halten, wird es schwer, die echten Grenzen der liberalen Demokratie im Auge zu behalten.

Laurin: Das Problem fängt ja damit an, die Menschen auf eine Eigenschaft zu reduzieren. Jeder Syrer, der kommt, wird nur als Muslim wahrgenommen. Vielleicht sieht er sich selbst ja vor allem als Familienvater, Linken oder Schreiner.

Mounk: Alle Menschen haben das Recht, selbstbestimmt zu leben und das bedeutet, dass sie nicht vom Staat auf eine Eigenschaft reduziert werden, das gilt aber auch gegenüber den eigenen Gruppen. Der Deutsche hat das Recht, an jeden Gott zu glauben, an den er glauben möchte, und zu jedem Menschen eine Beziehung einzugehen, zu dem er eine Beziehung eingehen möchte. Diese Freiheit müssen wir verteidigen: gegen den Staat, gegen den Nachbarn und gegen Extremisten, aber natürlich auch gegen die eigene kulturelle Gruppe. Wir leben in einer freiheitlichen Grundordnung und jeder kann seine eigenen Entscheidungen treffen. Wenn eine Familie unter Drohungen verhindern möchte, dass jemand aus einer Religion austritt oder jemanden heiratet, der der Familie nicht passt oder jemanden gegen seinen Willen heiraten soll, dann muss der Staat natürlich auch dafür eintreten, die Freiheiten des einzelnen Menschen zu verteidigen. Das ist kein Kompromiss, der Menschen, die Angst vor einer multiethnischen Gesellschaft haben, auf halbem Weg begegnet, das ist den Grundprinzipien geschuldet, die nötig sind, damit ich eine multiethnische Demokratie für richtig halte. Wir müssen allen Menschen dieselben Rechte zugestehen. Wer aus einem muslimischen oder jüdisch-orthodoxen Haushalt kommt, hat dieselben Rechte wie alle anderen, über sich selbst zu bestimmen. Er muss aus der Gemeinschaft austreten oder beschließen können, sich nicht mehr an ihre Normen zu halten wie alle anderen auch.

Laurin: Nun werden aber gerade diese grundlegenden Rechte immer häufiger in akademischen Kreisen als Ideen „alter weißer Männer“ denunziert, die es zu kritisieren gilt. Sie schreiben, dass diese Werte immer häufiger relativiert werden.

Mounk: Für mich geht es da letztlich um eine Entscheidung zwischen zwei verschiedenen Sichtweisen der Welt, die  Teile der Linken und Teile der Rechten gemeinsam haben, und die lautet: Es gibt keine Werte, die anderen gegenüber objektiv vorzuziehen sind. Menschen, die sich für die liberale Demokratie begeistern, haben ein Wertesystem, Menschen, die religiöse Fundamentalisten sind, haben ein anderes Wertesystem, und dazwischen darf kein qualitativer Unterschied gemacht werden. In der rechten Variante heißt das dann „Mia san mia“, und wir hier machen, was wir wollen – zum Beispiel das Kopftuch verbieten. Die linke Variante lautet „Es sind alle Kulturen gleich und wir müssen religiösen Fundamentalisten, die in unserer Gesellschaft leben, zubilligen, gegenüber ihren Mitgliedern Zwang auszuüben.“ Da darf dann ein tiefreligiöser Vater seiner Tochter vorschreiben, wie sie zu leben hat, denn auch das gilt es zu respektieren. Ich dagegen würde sagen, dass es einen Grundwert gibt und zwar, einem Menschen ein möglichst freiheitliches Leben zu ermöglichen und selbst zu entscheiden.

Laurin: Vieles in ihrem Buch liest sich wie ein Abgesang auf den Postmaterialismus und die Postmoderne.

Mounk: Gibt es denn so etwas wie „die Postmoderne“? Das ist ein sehr breit gefächerter Begriff. Was ich tatsächlich glaube, ist, dass wir zu viel Angst haben, für unsere Werte einzutreten. Dass wir im Schulunterricht und an der Uni mittlerweile oft nur das kritische Denken fördern wollen. Ich finde kritisches Denken wunderbar, weil wir viel weniger Faktenpaukerei machen sollten, gerade in deutschen Schulen, und es ist auch wichtig, auf die Missstände in der Gesellschaft hinzuweisen, aber wir sind an einem Punkt angelangt, an dem sehr viele Menschen, besonders junge Menschen, sich nicht mehr klar zur Demokratie bekennen. Die Gefahren autoritärer Regierungssysteme sind ihnen oft nicht mehr bewusst. Ich möchte für die nicht sehr postmoderne Haltung plädieren, Teile unseres politischen Systems stolz zu verteidigen und seine Werte von Generation zu Generation zu vermitteln. Wenn man sich autoritäre Staaten anschaut, ob sie jetzt Iran oder China, Venezuela oder Russland heißen, dann ist es glaube ich nur dem verbrämtesten Ideologen nicht bewusst, dass wir es in unserem Land besser haben. Das klar auszusprechen und die Gründe zu erklären und die Werte, die unserem System zu Grunde liegen weiter zu vermitteln, ist jetzt eine brennende Aufgabe. Ja, es gibt Strömungen in den geisteswissenschaftlichen Fächern, in den sozialwissenschaftlichen Fächern, die das für falsch halten. Das ist durchaus schädlich.

Laurin: Viele versuchen, die Populisten ins Lächerliche zu ziehen, sich über sie lustig zu machen und am Ende so nicht ernst zu nehmen. Sie warnen davor, am Beispiel Venezuelas, wo viele das mit dem späteren Präsidenten Hugo Chavez machten. Erdogan, die AfD, Putin, der mit nacktem Oberkörper auf einem Pferd reitet – über all diese Leute kann man herrliche Witze machen, aber Sie sagen, man darf sie nicht einfach verlachen.

Mounk: Man kann ja einmal einen Blick auf die Diktatoren vergangener Zeiten werfen. Wenn ich mir Filmaufnahmen von Benito Mussolini anschaue, wirkt er auch lächerlich auf mich, aber er hat Italien auf grauenvolle Weise zwei Jahrzehnte regiert. Die Verteidiger der Demokratie machen immer wieder den Fehler, wenn sie einen Populisten sehen, der absurde Sachen sagt, der aus ihrer Sicht nicht besonders intelligent zu sein scheint, der wild herumschreit, zu sagen: „Der doch nicht!“ Das hat sich oft als falsch herausgestellt. Gerade die absurdesten Äußerungen spielen für die Populisten eine wichtige Rolle, denn wenn die Menschen einmal so sauer auf das politische System sind, dass eines der wichtigsten  Wahlkriterien ist, dass jemand der politischen Klasse nicht angehört, dann werden schockierende Aussagen eines Politikers, die das gesamte politische System dazu bringen, ihn zu verurteilen, als ein Zeichen dafür gewertet, dass er nicht zur etablierten politischen Klasse gehört. Einer Partei wie der AfD können Aussagen, die die Mehrheit der Deutschen ablehnen, so Sympathien einbringen.

Laurin: Solche Aussagen werden dann von den Anhängern in den sozialen Medien gefeiert und weitergetragen.

Mounk: In der Vergangenheit hatten Medienmacher viel mehr Macht zu bestimmen, was Teil des politischen Diskurses war und was nicht. Das war zum Teil einschränkend, wenn wir uns die MeToo-Bewegung anschauen, sieht man, dass sehr viel an Informationen über sexuellen Missbrauch auch nicht weitergeleitet worden ist. Die alten Medienstrukturen haben auch berechtigten Ärger herausgefiltert, aber gleichzeitig wurden auch extreme Meinungen in Schach gehalten und es war schwieriger, mit Falschmeldungen hausieren zu gehen. Das hat sich durch das Internet und die sozialen Medien verändert. Mittlerweile haben die Medien nicht mehr die Kontrolle darüber, welche Meinungen verbreitet werden können und das bedeutet natürlich, dass in bestimmten politischen Kreisen keine Meldung mehr zu wild ist, um nicht geglaubt zu werden. Dazu kommen dann noch Bots, die bestimmte Meinungen auf Facebook und Twitter verbreiten und bedeutender erscheinen lassen, als sie in Wirklichkeit sind. Ich habe die Angst, dass wir der Versuchung erliegen könnten, die Meinungsfreiheit im Internet zu sehr zu beschränken. Aber diese Meinungsfreiheit sollte für Menschen gelten, nicht für programmierte Maschinen. Dass Twitter tausende dieser Bots vor Kurzem abgeschaltet hat, war richtig. Twitter und Facebook sollten noch viel stärker gegen Bots vorgehen, als sie es zurzeit tun.

 

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Eine gekürzte Version des Interviews mit Yascha Mounk wurde bereits in der Jüdischen Allgemeinen unter der Überschrift „Wir können alle etwas tun“ veröffentlicht.

Das Buch von Yascha Mounk ist am 1. Februar 2018 auf Deutsch mit dem Titel „Der Zerfall der Demokratie: Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht“und am 5. Februar auf Englisch mit dem Titel „The People vs. Democracy: Why Our Freedom Is in Danger and How to Save It“ erschienen.