Hongkong ist nicht erst in diesen Tagen Stadt und lebendige Erinnerung zugleich. Marko Martin blickt zurück auf eine verlorene Gegenwart.

Den ersten Teil dieses Berichtes lesen Sie hier.

Sie verließen die Rolltreppe in Höhe Cochrane Street, stiegen ein paar Stufen abwärts, bis sie wieder Asphalt unter den Füßen hatten und ein unscheinbares Eckhaus vor sich sahen, in dessen Parterre sich ein Seven-Eleven-Lebensmittel-Shop befand. Daneben ein schmaler Eingang; zumindest das also hatte sich seither nicht verändert. „Tu n’as rien oublié“, sagte H., doch galt es noch eine weitere Geschichte zu erinnern – kursorisch, in Stichworten – ehe sie beide eintreten und sich in den Miniatur-Aufzug drängen würden, um danach in der zweiten Etage an der Club-Tür zu läuten und im zentimeterbreiten Freiraum zwischen Holztheke und Glasscheibe zwei Spindschlüssel herübergeschoben bekämen, im Tausch gegen ein paar Scheine HKK-Dollars. (Wie banal und gleichzeitig beruhigend, dass es zumindest an solchen Orten noch vorhersehbar zuging, während sie vorhin die Demonstration auch deshalb verlassen hatten, weil mit Einbruch der Dämmerung die schwarzgekleideten Maskierten plötzlich zahlreicher geworden waren und sich nicht nur die zwei Besucher fragten, ob deren Masken in Wohnungen wie jener von Fermi Wong als Atemschutz ausgehändigt worden waren oder nicht womöglich auf Pekinger Geheiß verteilt wurden, um den bewaffneten Polizeieinheiten Vorwand zum Eingreifen zu liefern. Und noch am Fuß der Rolltreppe hatten sie breitbeinig postierte Uniformierte gesehen, in Nachbarschaft eines parkenden Wasserwerfers.)

„Neben Ginsberg und Prévert hatte ich auch die frühen Sachen Robbe-Grillets übersetzt, leider war Die blaue Villa in Hongkong nicht darunter, wobei das französische Original ja auch La maison de rendez-vous heißt und genau hier in Lan Kwai Fong spielt, in der Welt der Antiquitätenhändler, kleinen Gemüsegeschäfte und Bars, voll mit zwielichtigen Melancholikern.“

Langgedichte in der Zeitmaschine

Der Dichter Leung Ping-kwan hatte gelacht, dann gehustet, den Husten mit Lungenkrebs erklärt und erneut gelacht, ein Melancholiker im Zwielicht des Foreign Correspondents‘ Club an der Lower Albert Road, freundlicher kleiner Mann auf einer Lederbank, unterhalb der gerahmten Wandbilder, die historische Zeitungsseiten zeigten: Japans Eroberung Hongkongs im Dezember 1941 und die Befreiung im August vier Jahre später, der Handover vom Juli 1997 mit dem Herabsinken des Union Jack und einer am Fahnenmast aufgezogenen China-Flagge, dazu eine Karikatur, die eine heuchlerische Britannia beim Geldwechseln mit einem chinesischen Löwen zeigt, beide herumtretend auf den Bewohnern der Stadt. Herr Ping-kwan aber hatte gelacht (nun freilich in eher besorgtem Tonfall; auch diese Abstufung war ihm möglich gewesen) und über die bedrohten Freiheiten Hongkongs gesprochen. Dann las der 1949 in der Provinz Guangdong Geborene, dessen Eltern mit ihm als Kleinkind in die einstige Kronkolonie geflüchtet waren, dem europäischen Besucher eines seiner auf Englisch übersetzten Langgedichte vor.

Binnen Sekunden hatte sich der traditionsreiche Journalistenclub, an diesem frühen Abend nur mäßig besucht, in eine Drehbühne und Zeitmaschine verwandelt, so dass ein unscheinbarer, fast ein wenig unansehnlicher Poet mit Nickelbrille und Dreitageschnurbärtchen augenblicklich wieder zu einem jungen Mann aus den Sechzigern und frühen Siebzigern geworden war, begeistert inmitten angeschwärmter Frauen in schweißnassen Polyester-Shirts und bunten Woodstock-Gewändern, angefixt von Motown und den Stones, in Schlaghosen und Kenntnis nächtlicher Drogen-Partys. Der zwei Jahrzehnte jüngere Besucher war den im doppelten, dreifachen Sinne freien Rhythmen hingerissen gefolgt und hatte gleichzeitig einen, nein: zwei Blicke aufgefangen. Am Nebentisch saß ein posh gekleidetes Paar, das er auf Mitte zwanzig schätzte, ein schlanker Hongkong-Chinese in seidig glänzendem, pomadisiertem Haar und ein vermutlich Indischstämmiger mit einem massiven silbernen Reifen am rechten Handgelenk. Lebendig gewordene Gestalten aus einem Sepia-Rahmen, beobachteten sie ihn ununterbrochen, während er dem Dichter lauschte, der – hier im FCC an der kurvenreichen, sich bergan schlängelnden Lower Albert Road – Erinnerungen an Abbey Road und Penny Lane wachrief, an Leonhard Cohen und Cat Stevens‘ Peace Train, an Miss Robinson und an die frühe Marianne Faithfull – bis er wieder husten musste und einen weiteren Schluck bitter schmeckenden, doch belebenden Pu-Erh-Tees nimmt.

Auf Wiedersehen im Escalator Club

Das Paar war inzwischen aufgestanden und verließ den Raum, während einer von ihnen eine Handbewegung machte, die dem Besucher zu gelten schien (der sich nun erneut in einer Art Balance wähnte, im Inneren eines weiteren Hongkong-Moments aus Gegenwart und Vergangenheit, Erinnerung und Kontemplation und Eleganz und Mutwillen und – auch das: aus weggehusteter Zukunftspanik). Wahrscheinlich würde er die beiden bald im Escalator Club wiedersehen und, wer weiß, in kommenden Jahren dann ebenfalls über diesen Abend schreiben, wenn vielleicht auch nicht im fluiden Zeilenbruch eines Langgedichts, das die Geschehnisse derart hatte ineinander gleiten lassen, dass sie sogar den offenbar todkranken Dichter verjüngt und geheilt hatten, für eine gewisse Zeit, die sich ebenfalls zu dehnen schien.

Sie waren an einem der Vortage im Foreign Correspondent’s Club gewesen, denn H., der zuvor – eine seiner Lektüre-Erinnerungen – über Paul Claudels erhaben unlesbares Hongkong-Drama Partage de Midi gespöttelt hatte, sollte ruhig einmal staunen angesichts der verbliebenen Reste von le monde anglo-saxon. Noch immer steckten langstielige Regenschirme in einem Teakholzständer, ungeöffnete Briefchen in Postfächern hinter dem verwaisten Portierstisch, doch gab es inzwischen auch einen Flachbildschirm: Tonloser CNN-Bericht von den Polizeiübergriffen während der vorangegangen Demonstrationen. Die gerahmten Zeitungsseiten hatten keinen Staub angesetzt, der Teppich nicht fusselig, das Messing des filigranen Treppengeländers nur in Maßen verfärbt. Es war lediglich so, dass außer ihnen im Basement niemand an denen Tischen saß und an der Bar ein weißbefrackter Kellner seinen Kopf auf die angewinkelten Unterarme gelegt hatte, als posiere er für die hiesige Version eines Hopper-Gemäldes. Und Herr Leung Ping-kwan war fast auf den Tag genau seit sieben Jahren tot, verstorben am 5. Januar 2013 in einem der städtischen Krankenhäuser.

Kabinen ohne Muße

„Plutôt un appartement…“ Verblüffter H., der jetzt die gemütliche Winzigkeit des Escalator Clubs entdeckte, wo ihn die Einheimischen, die sich vor den Spinden um-, nein: auszogen, für einen Afroamerikaner hielten und sofort Fragen zu stellen begannen, da sich aufgrund der Massenproteste und Unruhen doch zu diesem Jahreswechsel kaum noch Ausländer in die Stadt gewagt hatten. H., der (wie einst Abbas) im Duschtrakt immer wieder an die Deckengestänge der Wasserleitungen stieß und danach den winzigen Salon inspizierte, sich dort auf der buntfarbigen und knarrenden Chaiselongue ausstreckte und fernsah: Der in einer Wandnische steckende Kleinbildfernseher zeigte die BBC-Aufnahmen der Demonstration, die sie vor einer knappen Stunde verlassen hatten: Nacht war hereingebrochen, Steine flogen, Polizeieinheiten jagten die Schwarzgekleideten, während sich Hunderte der verbliebenen Demonstranten an die Häuserwände und vergitterten Ladenfester drückten, mit und ohne Masken, ihre Free Hongkong„-Schilder als dürftiger Schutz gegen Tränengasschwaden und die vertikal und horizontal ausschlagenden Polizeiknüppel.

Undenkbar angesichts solcher Bilder, dem nachzugehen, wofür der Club doch geschaffen war und weshalb es zwischen Salon und Duschtrakt kleine zellenartige Abtrennungen gab, mittels Falttüren zu öffnen und zu schließen, der Boden mit einer Matratze belegt, an der Decke ein Spiegel und auf der Wandkonsole ein Gleitgelspender, ein Kästchen mit Kondomen, dazu ein Stapel frischer Papiertücher. Praktisches Asien! und die von den zwei Besuchern zögernd (und vielleicht ja ebenfalls ein wenig britannisch-heuchlerisch) vorgebrachten Einwände, eben jene Kabinen-Aktivitäten betreffend, von den anwesenden Club-Gästen weggelacht, da sie, so sagten sie in sanft entschiedenem Hongkong-Englisch, bis just vorhin ja ebenfalls an der Demonstration teilgenommen hätten – übrigens mit dem bösen Gefühl, diese wäre womöglich die letzte ihres Lebens gewesen, obwohl doch rechnerisch noch so viel Jahrzehnte vor ihnen lägen, haha. Lächelnde Münder, ausgestreckte Arme und die einladenden Handbewegungen exakt wie die jenes Paars vor einem Jahrzehnt, dem einer der Besucher damals hier tatsächlich wiederbegegnet war.

„Be observer!“

Irritierend jedoch nicht das Insistieren der Jetzigen, Studenten und frisch Diplomierten, die vor und nach den Körperspielen in den Gevierten überraschend gelassen von IT-Jobs und Auswanderung sprachen; überraschend, ja beängstigend die Natur ihres Gelächters: So nämlich hatte doch auch der Poet gelacht, wenn er nicht von der Abbey Road und den schönen Frauen vorgelesen, sondern über den wuchernden Krebs in der Lunge gesprochen hatte, powerful and mean like the Communist Party, haha. Haha!

Später dann ihre anderen Aufforderungen. Auf den Matratzen lagernd vorgebracht, die Leinentücher dabei längst wieder um die Hüften geschlungen, oder vor den Duschen, auf dem federknirschenden Sofa, vor den Spinden als Verpflichtung für die kommenden Tage und Abende hier in der Stadt: „Be observer!“

Mit nun geradezu grimmiger Eindringlichkeit wurde verlangt, fürderhin noch genauer auf die Spuren immer weiter ausgreifender festlandchinesischer Dominanz zu achten – und das nicht nur in den Medien und in den verdrucksten Verlautbarungen der pekinghörigen Stadtadministration von Chief Executive Carrie Lam. Natürlich, haha, würde für sie, die beiden auswärtigen gweilos, noch ungleich stärker als für uns, die in Hongkong nach 1997 relativ frei Geborenen, im Nebel bleiben, in exakt welcher Weise einheimische Tycoone mit den Festlandkommunisten dealten, welche Immobilien aufgrund welcher Zahlungen und/oder schmutziger Erpressungen die Besitzer wechselten, um die Demokratie zu opfern auf dem Altar eines autoritären bis totalitären Kapitalismus.

Noble House

Sollte einer der beiden Besucher kurz die Augenbrauen gehoben haben, da doch inzwischen bei ihnen daheim immer öfter zu hören war, derartige Rede wäre lediglich westliche Dominanz-Begrifflichkeit und anachronistischer universalistischer Budenzauber, während doch die Asiaten…? Nun, die Asiaten an jenem Abend sprachen genau so, und einer von ihnen wusste sogar Rat, wie es anzustellen wäre, die verborgenen Machtstrukturen zu beschreiben: In einer packenden, recherche-satten Semi-Fiktionalisierung, wie sie allerdings zuletzt vor vier Jahrzehnten einem Romancier namens James Clavell in seinem ziegelsteindicken Hongkong-Bestseller „Noble House“ gelungen war. (Ha!) Doch – nur kein kleinmütiges Zögern innerhalb der großen Furcht – erweise sich auch eine bestimmte Phänomenologie des Alltags als erhellend genug, um zu begreifen, was sei: Ein Betrachten etwa der differierenden Verhaltensweisen im städtischen U-Bahn-System MTR, wenn Hongkonger auf dem Bahnsteig auf jenen schräg markierten Pfeilen warten, die den Weg zu den millimetergenau haltenden Wagentüren markieren, Festlandchinesen voller Einkaufsbeutel dagegen jedoch sofort losstürmen, ohne auf aussteigende Passagiere zu warten. Survival of he fittest schlägt rule of law, wieder einmal, im Grunde eine uralte Geschichte, doch würde das neueste Kapitel nun eben jetzt hier geschrieben, jetzt und hier.

„Auch vergesst nicht die Teppiche und Buddha-Statuen, sogar die sind längst mehr als ein Symbol!“ Befänden sich die meisten Antikläden in der auf halber Berghöhe gelegenen Hollywood Road und Wyndham Street, einst die Beletage der Stadt, doch längst nicht mehr in Hongkonger Hand, sondern waren direkt oder über Mittelsmänner von Festlandchinesen, Parteifunktionären oder Geschäftsleuten aufgekauft worden – wahrscheinlich zur Geldwäsche, ganz sicher aber um Herrschaftspräsenz zu zeigen, gerade hier.

Mit derlei neuem Wissen dann ihre Verabschiedungen vor den lineal-breiten Spinden, heraus aus dem Club, dem Lift, dem Hauskorridor, von der Cochrane Street über die Wyndham Street zurück in jene Hollywood Road, die ihnen doch an all den Abenden zuvor, aus welch nostalgisch-irrationalen Gründen auch immer, als eine Art Noch-Refugium erschienen war.

Kaltes, triumphierendes Lächeln

Was sie also erst jetzt wirklich wahrnahmen: Die zu später Stunde noch immer geöffneten Läden, deren gefälschte (oder auch echte) Perserteppiche mit solch verächtlicher Gleichgültigkeit über das staubige Trottoir-Geländer geworfen waren, Abgasen und Feuchtigkeit preisgegeben, dass hier gewiss nicht potentielle Kunden angelockt, sondern eingesessene Geschäftsleute eingeschüchtert werden sollten: Wer kann, der kann. Und sollten – sie beide blieben jetzt erstmals stehen auf ihrem Weg hinunter zur Petticoat Lane, die ein Gässchen war und gleichzeitig eine Bar – die hinter taghellen Vitrinenfenstern aufgestellten riesigen, auf alt getrimmten Buddha-Statuen tatsächlich naive Touristen übertölpeln, wenn doch ohnehin kaum noch Reisende in die Stadt kamen? Und nein, sie alpträumten doch keineswegs, interpretierten nicht über, sahen nur dies: Das kalte, triumphierende Lächeln der drahtigen Galeristen-Darsteller im Inneren der Geschäfte, das so gar nichts hatte von der einladenden Mimik in den freundlich faltigen Gesichtern der Goldrandbrillen-Greise, die in anderen, älteren und vermutlich bald verschwindenden Antik-Läden ihre Schätze in sanftem Singsang bewarben. ( Und was, wenn solch ostentative Verachtung sogar mehr zeigen würde als die Bilder prügelnder Polizisten?)

Dann gingen sie die Treppenstufen zur Bar hinunter und blieben einen Moment am Eingang stehen, da hinter der geöffneten Tür ein Bild sichtbar geworden war, nicht gemalt, folglich auch nicht zu verkaufen und wohl auch nicht zur Einschüchterung gemacht, da es doch fröhlich Tanzende und Trinkende zeigte, jene über Jahreswechsel in der Stadt verbliebene Europäer und Amerikaner und Australier, nun bereits vor Mitternacht schon blau, Shakira-Songs grölend, während im Hintergrund…Sie sahen, wie einer der Einheimischen, der ihnen noch kurz zuvor, halbnackt vor der Spindwand, vom offenen Geheimnis der Teppiche erzählt hatte, mit unbeteiligter Eleganz in die Tasche seines perfekt geschnittenen schwarzen Jacketts griff, ein silbernes Zigaretten-Etui entnahm und sich durch die lärmende crowd nach draußen schlängelte. Sie bewunderten die Ruhe und Zielstrebigkeit seiner Bewegungen, sahen – ihre Verständigung auch ohne Worte, über die Jahrzehnte hinweg – jedoch davon ab, das als ein hoffnungsvolles Symbol zu interpretieren für was-auch-immer.

Zumindest das

Und dann lasen sie an einem der folgenden Vormittage in der South China Morning Post von jener merkwürdigen Häufung von Lungenkrankheiten in der Stadt Wuhan, durchforschten die offizielle China Daily jedoch erfolglos nach weiteren Nachrichten, da dort das Tadeln der Hongkonger Bevölkerung noch immer nahezu alle Seiten einnahm. (Wobei, denn auch auf solches zu achten hatte man ihnen empfohlen, von Hongkong dort schon gar nicht mehr die Rede war, sondern von einer Special Administrative Region, in den Überschriften und Texten der Zeitung abgekürzt als SAR. SAR should not SAR must not SAR will SAR have to understand. „Klingt wie SARS“, sagte sie und noch lachten sie – traurig aus bislang nur einem Grund, in Vorahnung des Schicksals der Stadt. Überdies hatten sie am Silvestervormitttag in einem Park Statuen entdeckt, in Menschengröße und menschlich-unheroisch, die an jene Ärzte und Krankenschwestern erinnerten, die ihren Einsatz gegen das SARS-Virus mit dem Leben bezahlt hatten, damals 2003. Und hatten dabei gedacht, naiv trotz allem: Abgeschlossene Vergangenheit, zumindest das.)

In der Nacht zum 8. Januar verließen sie die Stadt, die für sie immer Hongkong bleiben würde. Während des Flugs wurde die Route geändert, da über Teheran gerade ein ukrainisches Zivilflugzeug abgeschossen worden war. Davon – vom Leugnen des Mullah-Regimes und dem nachfolgenden Eingeständnis – erfuhren sie aber erst später. (Auch dies eine jener Nachrichten, die rasant untergehen würden im Strom des Kommenden.) Als sie Ende April hörten, dass die 73jährige Marianne Faithfull im Unterschied zu ihrem lebenslangen Freund die Corona-Infektion lebend überstanden hatten, dachten sie an das Langgedicht des Poeten Leung Ping-kwan, erinnert vor dem Escalator Club an einem Januartag, der nun bereits ebenfalls aus einer anderen Zeit schien. Oder war das nur ihre Ausländer-Optik? Kurz nachdem H. in der Post den kleinen Artikel über Wuhan entdeckt hatte, sahen sie auf den Straßen noch mehr Menschen als sonst, die Masken trugen. Ganz offensichtlich waren es andere als jene, die bei den Demonstrationen gegen das Tränengas der Polizei schützen sollten. (Und doch gab es gerade da einen Zusammenhang, der zu erspüren und zu erzählen war – hilfloses Unterfangen und vielleicht gerade deshalb notwendig.)

Zaungäste des Ogers

Am 30. Juni 2020 verabschiedete der sogenannte Volkskongress in Peking ein sogenanntes Sicherheitsgesetz für die sogenannte SAR. Es trat bereits am folgenden Tag in Kraft, worauf Joshua Wong die sofortige Auflösung seiner prodemokratischen Partei Demosisto bekannt gab: Das bedrohliche Partei-Kauderwelsch war verstanden worden, dessen Konsequenzen einem jeden klar. (Und sie, die beiden Besucher? Hatten die letzten Tage eines freieren Hongkong miterlebt, die vermutlich allerletzte große freie Demonstration und dazu die erste Nachricht von dem empfangen, was, von Peking noch eine Weile geleugnet, in den darauffolgenden Wochen den gesamten Globus erreichen würde. Und hätten eine Menge darum gegeben, nicht zu Zaungästen geworden zu sein von so etwas.)

Inzwischen trägt nahezu die ganze Welt Masken. Zu anderer Zeit, kurz nach dem sowjetischen Einmarsch in Prag, hatte W.H. Auden sein Gedicht August 1968 geschrieben. The Ogre does what ogres can,/ Deeds quite impossible for Man, But one prize is beyond his reach,/ The Ogre cannot master Speech:/ About a subjugated plain,/ The Ogre stalks with hands on hips,/ While drivel gushes from his lips.

Nach den Lockerungen der Reisebeschränkungen waren sie Anfang Juli nach Prag aufgebrochen, vier Stunden Zugfahrt ab Berlin. Sie sparten sich die allzu optimistischen Brecht-Zeilen eines Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine/ Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag, aber was sie dann sahen, als Graffitis an Wänden, auf Flyern und Aufklebern, war doch dies: Jene Worte, die am Neujahrstag die Demonstranten skandiert hatten, um Freiheit für ihre Stadt zu fordern, quasi am anderen Ende der Welt. #StandwithHongKong in der Hennessy Road und (seit 1989 mit keiner Angst, keinem Risiko mehr verbunden und trotzdem verblüffend) nun auch in Prag: Und nichts davon war virtuell, jeder Buchstabe ein herausgestreckter Mittelfinger gegen die Oger dieser Welt.

Berlin, Juli 2020

Marko Martin, Jahrgang 1970, beschäftigte sich bereits 2008 in seinem Buch „Sonderzone“ mit Hongkongs Demokratiebewegung; zuletzt erschien in der Anderen Bibliothek sein Essayband „Dissidentisches Denken. Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters“.