Ein letztes Mal Merkel. Aber dieses eine Mal muss noch sein, weil nach ihrer Verantwortung für die jetzige Situation kaum jemand fragt. Das kann man ändern, und es wird Zeit.

Jeder helle Intellekt hat mindestens einen blinden Fleck. Obwohl sein Denken so vieles durchdringt, er Theorien entwirft, Erfahrungen reflektiert, bleibt etwas, was er nicht zu erkennen vermag. Vielleicht ist das, ähnlich wie das Vergessen, eine Finte unseres Geistes, um unser Leben zu erleichtern und das dauernde Austarieren von Widersprüchen und das Leiden an schmerzhaften Denkfehlern zu vermeiden. Das kann lange gutgehen. Und es kann plötzlich zu Ende sein.

Vielleicht ist das gerade jetzt so ein Moment, in dem unsere ehemalige Bundeskanzlerin, Angela Merkel, erkennt, dass ihre Politik in den vergangenen zwei Jahrzehnten in wichtigen Punkten falsch war, ja, fahrlässig blind. Vielleicht ist es aber auch der Moment, in dem die Öffentlichkeit erkennt, dass ihre sehr oft positive Einschätzung der Merkel’schen Politik über viele Jahre ebenso falsch war. Noch scheint es nicht so zu sein. Noch macht man bei fast allen Rückblicken auf die Fehler der deutschen Politik der letzten Jahre einen Riesenbogen um ihren Namen. Da wird immer von der „alten Bundesregierung“, von der „Großen Koalition“, von „CDU/CSU und SPD“ geredet – aber der Name der Person, die das alles letztlich zu verantworten hat, wird nicht genannt. 

GUTE LAUNE AN DEN KAVIAR-BUFFETS

Es ist nur wenige Monate her, da wurde der Satz „Wir werden sie noch alle vermissen“ wie eine apodiktische Gedenkstele in den Diskursräumen errichtet, und viele, sehr viele, ja, zu viele versammelten sich darum und nickten zustimmend und voller Rührung. Sie erinnerten sich auch da nicht, wie sie sich heute nicht daran erinnern wollen, dass die Aussagen „Merkel kann Krise“ (konnte sie nicht, man kann es hier noch einmal nachlesen) und „Merkel ist die Führerin der freien Welt“ (war sie nur gegenüber Donald Trump) ziemlich übertrieben, wenn nicht grundfalsch waren. Merkel hat Putins Vertragsbrüche jederzeit durchgehen lassen. Das Schlüsseljahr war sicher 2014: Nachdem die Ukrainer auf dem „Euromaidan“ Freiheit, Unabhängigkeit und Westorientierung erkämpft hatten, annektierte Putin wenige Wochen später die Krim. Die Reaktionen in Berlin waren lauwarm. Merkel hatte kein Problem damit, von heute auf morgen aus der Atomkraft auszusteigen, aber während Nordstream 2 weiter vorangetrieben wurde, behauptete sie immer wieder, es gäbe keine russische Gasabhängigkeit, und Nordstream 2 sei unbedingt notwendig – dabei hätte sie das Projekt spätestens 2014 beerdigen müssen. Nur zur Erinnerung: Die Gasabhängigkeit liegt heute schon bei 55 Prozent und wäre mit Nordstream 2 noch weiter gestiegen. Es wäre ein entscheidender Schritt zur totalen Abhängigkeit von Putins Gnaden gewesen.

Wenn schon die ständige, fast blinde Eskalationsvermeidung gegenüber Putin trotz dessen Aggressionen gegen Georgien, Moldawien, Ukraine, Syrien usw. ein erkennbarer Fehler war, dann war der Weg in die Abhängigkeit eine Torheit. 

Doch es ist falsch, dies alles allein einer Person zuzuschreiben. Natürlich trägt die SPD durch ihre Liebedienerei Richtung Russland und ihre dubiosen Netzwerke ebenfalls eine gewaltige Verantwortung für die Situation. Das Trio aus Bundesregierung, Sozialdemokraten und Wirtschaftsunternehmen hat ihre blinden Flecke geradezu gepflegt und sich beim Kaviar-Buffet der zahlreichen deutsch-russischen Tagungen gegenseitig für ihre Politik gratuliert.

Doch machen wir uns nichts vor: Die Nutznießer waren wir fast alle. Die Trophäe des bösen Spiels heißt: billiger Wohlstand. Diese Trophäe glitzert zwar blendend wie Swarovski-Tinnef und der Edellack einer Zwei-Tonnen-Kutsche, aber sie ist mit Lügen und Blindheit, Abhängigkeit und Verschwendung erkauft. Wir haben den Blick auf die Nebenkosten vermieden, und wir tun es immer noch. Wir haben gehofft, jemand anderes übernimmt diese Kosten: die Zukunft, andere Kontinente, der Lieferant, unsere Gegner. Das ist nicht der Fall. Wir werden jetzt auch diesen Teil der Rechnung zahlen. Das ist nicht schlimm. Das ist gut. Es wurde Zeit. Es kann zu einem besseren Wohlstand führen. Doch wir müssen uns ehrlich machen. Die Illusionen, die uns von Medien als vorausschauende Politik verkauft wurden, müssen von diesen selbst als solche erkannt werden. Sie müssen ihre eigenen blinden Flecke erkennen, um in Zukunft besser sehen zu können. 

PUTINS HUND

Das ist das letzte Mal, dass ich mich diesem Thema zuwende. Ich habe es in den letzten Jahren ja öfters gemacht. Ich will nicht, dass daraus noch eine Obsession wird. Das ist also mein Abschied von Angela Merkel. Aber eine Sache würde ich sie schon noch gerne fragen: Nachdem Putin sie bei einem Staatsbesuch im Jahre 2007 mit einem großen schwarzen Hund konfrontierte, eben weil er wusste, dass sie Angst vor Hunden hat – wie konnte sie solch einem Menschen danach vertrauen, und wie konnte sie auf diesem Vertrauen eine ganze Politik gründen? Das wüsste ich wirklich gerne, ja, wirklich, das wüsste ich gerne – und werde es doch nie erfahren.