Politik, die nicht an morgen denkt
Klima, Flüchtlinge, Corona – Deutschland hat scheinbar alles im Griff und Angela Merkel gilt als Inbegriff der taffen Krisenmanagerin. Zu Unrecht.
Es gibt so etwas wie eine Dialektik des Protests. Man kann es gerade anhand der sogenannten Querdenker-Demonstrationen beobachten. Eigentlich wollen sie die Bundesregierung und die Kanzlerin kritisieren, vorführen, am liebsten in einem übersteigerten revolutionären Eifer aus dem Amt jagen – allein, sie bewirken das Gegenteil. Der Rückhalt in der Bevölkerung für die von der Bundesregierung in Allianz mit den Länderchefs erdachten Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie ist immer noch groß. Die Demonstrationen zeigen Menschen, die entweder den Kontakt zur Realität verloren haben und das Virus für eine Erfindung dunkler Mächte halten, die an die coronabesiegende Kraft von getanzten Liebesbotschaften glauben, grundsätzlich alles staatliche Wirken ablehnen oder die Demokratie zugunsten einer Führerdiktatur abschaffen wollen. Bei soviel Irrsinn und Extremismus erscheint einem die Bundesregierung wie ein Bollwerk der Rationalität und Kompetenz. Und wenn manche doch einmal Zweifel an Richtigkeit und Sinn der bundesdeutschen Pandemie-Maßnahmen entwickeln, dann schaut man in die USA oder das Vereinigte Königreich, und schon fühlt man sich wieder gut behütet und regiert. Allerdings zu Unrecht.
Nur langsam wird immer mehr Menschen klar, dass die deutsche Politik nicht mehr als Mittelmaß ist. Taiwan ergriff die ersten Maßnahmen gegen Corona bereits am 31. Dezember 2019, auch Südkorea folgte bald darauf. Man könnte jetzt behaupten, dies sei zu einem Zeitpunkt gewesen, als man hier, etliche Tausend Kilometer entfernt, noch nicht viel über das Virus und seine Gefährlichkeit wissen konnte. Aber an dieser Stelle – man möge mir das nachsehen – rufe ich mich einmal selbst in den Zeugenstand. Mir wurde schon spätestens Mitte Januar deutlich, dass sich da eine weltweite Pandemie anbahnte. Woher ich das wusste? Nun, ich hatte Zeitung gelesen. Deshalb deckte ich mich früh mit Masken und Desinfektionsmitteln für meine Familie und mich ein. Zu dem Zeitpunkt und auch in den folgenden Wochen beschwichtigte die Bundesregierung hingegen fortlaufend und sah kein großes Risiko für Deutschland. Ich werde nie meine Verwunderung vergessen, als es, durch die Bundesregierung nicht widersprochen, vom Robert-Koch-Institut hieß, das Tragen einer Mund-Nasen-Maske hätte so gut wie keine Schutzfunktion. Die Regierungen und Virologen Asiens werden sich ungläubig die Augen gerieben haben, wenn sie das wiederum in ihren Zeitungen gelesen haben.
EIN SOMMER ZUM VERGESSEN
Verfolgt man nun die aktuellen Diskussionen und prominenten Meinungsäußerungen, so fühlt man sich gleich wieder in die Anfangsphase der Pandemie versetzt. Immer noch gibt es kein tragfähiges Konzept für die Schulen, obwohl schon länger Gewissheit besteht, dass Kinder und Jugendliche, wenn sie in großen Gruppen in kleinen Klassenzimmern Stunden verbringen, der Pandemie Vorschub leisten; die Corona-App besitzt nur limitierte Fähigkeiten und ist, weil sie weitgehend passiv genutzt wird und der Datenschutz einen Mehrwert verhindert, kaum hilfreich; immer noch gibt es nicht FFP2-Masken kostenlos für jeden, dabei wären das die geringsten Kosten im Vergleich zu den gewaltigen Einbußen in Wirtschaft und Gewerbe. Urlaubsrückkehrer hätten spätestens seit September alle getestet werden müssen, aber versuchen sie mal am BER am Wochenende nach 17 Uhr einen Test zu machen; es fehlen regelmäßige Tests in Risiko-Einrichtungen und allgemein Antigen-Schnelltests; stattdessen erdachte sich die Politik einen Lockdown light mit Appellen an Stillhalten, Winterschlaf, ein Heldentum des Nichtstuns, zu dem jetzt noch ein maternalistisches bedingungsloses Grundeinkommen passen würde. Aber ein Lockdown light ist ein Lockdown long.
Die deutsche Politik – hier ist nicht nur, aber vor allem die schwarz-rote Bundesregierung gemeint – hatte im Sommer genug Zeit, nachdem die erste Welle abgeflaut war, den allgemeinen Gebrauch der Ordinalzahlen ernst zu nehmen und sich Gedanken für die zweite (und dritte) Welle zu machen. Stattdessen, während die Kontaktverfolgung kollabierte, rechnete uns die Kanzlerin vor, wie exponentielles Wachstum geht – und wird dafür gefeiert: „Wow, die Frau ist Naturwissenschaftlerin! Das hat der Trump aber nicht zu bieten!“ Vor allem ist die Frau im Moment und schon seit einigen Jährchen unsere Regierungschefin. Genau da fängt das Problem an.
EIN MUSTER DES VERSAGENS
Denn das Versagen der Bundesregierung folgt einem Muster. Wir lassen jetzt mal die lange Schlafmützigkeit bei der inneren und äußeren Sicherheit und die ebenso lange und systematische Vernachlässigung bei Pflege und Ausbau der Infrastruktur – Straßen, Brücken, Gleise, Kabelnetze, Schulen, um nur einige wenige und nicht nur die Bundesregierung betreffende zu nennen – außen vor, sondern schauen auf das Krisen-Quartett der vergangenen zwei Jahrzehnte: Klimawandel, Finanz- und Eurokrise, Flüchtlinge, Corona.
Krise 1: Klimawandel. Deutschland allein kann diese bedrohliche Jahrhundertkrise nicht aufhalten. Wenn wir jetzt alle das Atmen einstellen würden, wäre der Klimawandel immer noch da. Er reagiert wie ein gigantischer Öltanker und fährt die einmal eingeschlagene Richtung selbst nach dem Befehl „Alle Motoren stopp!“ noch sehr lange weiter. Und doch muss Deutschland wie alle anderen Länder seinen Beitrag leisten, um das Tempo zu reduzieren. Es ist der Klimawandel auch nicht der einzige Grund, warum es notwendig ist, das System von fossiler zu regenerativer Energiegewinnung umzubauen – Kohle, Öl, Gas sind viel zu schmutzig, natur- und kulturvernichtend, sie sind endlich und machen abhängig. Aber die Bundesregierung brachte den Ausbau der Regenerativen nur halb-, nein, viertelherzig voran, verschlief den Umbau des Verkehrssystems und ignorierte die eigenen Verträge zum Klimaschutz. Zwischendurch fuhr die Kanzlerin mal zu den Eisbären, gab sich bekümmert und ließ sich als Klima-Kanzlerin feiern: Show-Effekte, die Medien gerne aufgriffen. Es brauchte Greta & Friends, um die Defizite der Klimapolitik ins Bewusstsein zu tragen. Aber da waren schon wieder viele Jahre der Versäumnisse ins Land gegangen – auf Kosten der kommenden Generationen.
Krise 2: Finanz- und Eurokrise. Die Bundesregierung tat damals zwei Dinge, die sich als richtig erwiesen. Durch zwei Konjunkturpakete 2008/9 kurbelte sie die Wirtschaft an (schließlich gehört man nicht zu den armen Schluckern) und sie unterstützte 2015 Wolfgang Schäuble in seinem Beharren, dem damaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis, Liebling der Linken in Europa, nicht nachzugeben in seiner Idee, die Schulden seines Landes Steuerzahlern außerhalb seines Landes aufzubürden. Denn das hätte in vielen Ländern die Fliehkräfte raus aus der EU gestärkt. Seien wir ehrlich: Punkt für die Bundesregierung.
Krise 3: Flüchtlingskrise. Rund zwei Jahre vor dem Spätsommer 2015 stiegen vor allem durch den dauernden Bürgerkrieg in Syrien und die Offensive des IS im Irak die Zahlen von Flüchtlingen, die versuchten, nach Europa zu gelangen. Die Mittelmeer-Länder der EU waren zusehends mit der Situation überfordert. Die anderen Länder – Deutschland inbegriffen – interessierte das nicht sonderlich, man berief sich auf das Dublin-Abkommen, das die Verantwortung zunächst bei den Erstaufnahmeländern belässt. Gleichzeitig halbierte die deutsche Regierung ihre Mittel für den UNHCR-Flüchtlingshilfeplan, der die Flüchtlingslager rund um Syrien unterhielt. Richtig wäre gewesen, die Mittel zu verdoppeln oder zu verdreifachen. So kam es dann anders, und rund eine Million Menschen setzte sich nach Europa in Bewegung, um der Gewalt und den schlechten Lebensbedingungen in den Lagern zu entkommen. Als sich der größte Teil davon schnurstracks auf den Weg nach Deutschland machte, kam die Kanzlerin auf die Idee, ihre Verantwortung outzusourcen, das Versagen ihrer Regierung einfach zu vergesellschaften, und sprach: „Wir schaffen das!“ Der Rest ist Geschichte: Die Gesellschaft hat es geschafft, aber es hat sie auch verändert.
Krise 4: Corona. Eine Pandemie ist eine besondere Situation. Kaum jemand macht in seinem Leben bislang eine solche Herausforderung zweimal mit. Doch nach Vogelgrippe (seit 1997), SARS (seit 2002) und MERS (seit 2012) ist von Wissenschaftlern vor einem derartigen Szenario immer wieder gewarnt worden. Viele asiatische Staaten haben dafür Notfallpläne, die sich jetzt bewähren. Von ähnlichen Plänen hier ist nichts bekannt (BREAKING NEWS: Jetzt doch und ganz konkret, wie ich gerade feststellen muss, wird es eine Nationale Gesundheitsreserve geben). Dabei hatten es die Spanische (1918 bis 1920) und die Hongkong-Grippe (1968 bis 1970) ohne einen vergleichbaren Stand der Globalisierung locker über den Globus geschafft. Dass die Kritik am Corona-Management der Bundesregierung erst jetzt Fahrt aufnimmt, liegt nicht nur an den langsam blank liegenden Nerven, nicht nur dialektisch an der Schrägdenker-Fraktion, sondern auch am Nimbus der Kanzlerin als einer Politikerin, die die Dinge von ihrem Ende her denke und die eine herausragende Krisenmanagerin sei. Doch das ist sie nie gewesen.
Es ist eine vorgezogene Legendenbildung, ins Leben gerufen oder leichtfertig übernommen von großen Teilen der Medien, die einer kritischen Betrachtung nicht standhält. Tatsächlich folgt ihr Versagen bei drei der vier genannten Krisen dem Muster der Zukunftsvergessenheit, wenn nicht gar Zukunftsblindheit. Allerdings ist das in der politischen Elite weit verbreitet.
ZUKUNFTSPOLITIK
Dabei möchte man doch meinen, ja, hoffen, dass auf den ganzen langen Gängen der zuständigen Bundesministerien wenigstens ein Büro als winzig kleines Frühwarnsystem fungiert – ein, zwei Menschen mit funktionierenden Instinkten, Neugierde und ohne Twitter-Account, die Zeitung lesen, wissenschaftliche Periodika, Fachaufsätze. Wahrscheinlich gibt es dieses gedruckte Wissen in den Bibliotheken der Ministerien, wird sorgfältig von erstklassigen Bibliothekaren erfasst und für den Abruf bereitgestellt. Doch der Abruf kommt nicht. Man ist in den Büros, Fluren und Etagen anscheinend mit der Kommunikation untereinander beschäftigt, mit dem politischen Gegner oder einem Fall möglicher Diskriminierung bei Markus Lanz.
Was nützen all die Kommissionen, Ausschüsse und Referate, wenn die Zukunft als etwas verstanden wird, das einen nichts angeht, weil es unbekannt, unberechen- und unvorhersehbar ist. Eine Politik, die keine Zukunftspolitik ist, taugt nichts. Desinteresse, Versäumnisse, Gleichgültigkeit schlagen als schlimme Folgen zurück. Man kann auf die Zukunft warten oder sich auf sie vorbereiten. Denn gewiss ist, dass sie kommt.
Am Ende müssen wir auch im jetzigen Fall, in unserer Corona-Gegenwart, die Hoffnung teilen, die Matt Damon als zurückgelassener Astronaut Mark Watney auf dem Mars ungefähr so formulierte: „Letztlich können wir uns nur mit Wissenschaft aus der Scheiße ziehen.“ Doch auf die Dauer ist es notwendig und zudem kostengünstiger, neben dem Gemein- auch einen Zukunftssinn zu entwickeln. Er sollte unser politisches Bewusstsein prägen.