Tagebuch aus Deutschland (2): Richard David Precht und die Ukraine
Der Angriff Russlands auf die Ukraine stellt vieles auf den Kopf. Von der Friedensdividende wird man sich genauso verabschieden müssen wie von der liebgewonnen Idee des Friedenschaffens mit immer weniger Waffen. Das braucht Zeit, wenn aber als Antwort auf die Brutalität des Krieges das Selbstverteidigungsrecht in Frage gestellt wird, hört der Spaß auf.
Teil 2 im Tagebuch von Gastautor Markus Welsch.
Dass man im deutschen Fernsehen Philosophen zu Wort kommen lässt ist grundsätzlich eine feine Sache. Allerdings kocht das Formatfernsehen jeden guten Austausch auf Entertainment-Häppchen herunter. Wer nahe der Österreichischen Grenze aufgewachsen ist, konnte in den 80er Jahren das Gegenteil erleben. Im ORF2 erlaubte man sich den fundamentalen Spass, die Diskussionsrunde „Club2“ ohne Limit zwei mal pro Woche live auszustrahlen. Eine Sendeschluss gab es nicht. Die Sache wurde bis zum Ende ausdiskutiert. Heute sind die Aufmerksamkeitsspannen so gering, dass ein solches Format keine Chance hat. Gefährlich wird es allerdings, wenn Populismus und kenntnisfreies Gerede zusammen mit Beton-Pazifismus ein besserwisserisches Amalgam eingehen. Seit 2014 stellen die Beiträge des Bestsellerautors Richard David Precht zur Ukraine regelmäßig deren berechtigten Sicherheitsinteressen im ZDF auf den Kopf. Die jüngsten Äußerungen von Precht in dem Podcast von „Lanz&Precht“ setzen seine Thesen zu Themen fort, bei denen er sich nicht auskennt – wie schon zur Covid-Pandemie. Zwischen freier Assoziation und Halbwissen („Ich bin kein Militärexperte, aber…“) kommt er zur Einsicht, dass die Ukraine den Krieg gegen Russland bereits verloren habe. Gönnerhaft wird darüber spekuliert, dass Selenskyj nicht zurücktreten müsse, wenn er den Verzicht auf einen Nato-Beitritt erkläre. Man fragt sich, ob Precht sich jemals mit der Logik dieses Krieges auseinander gesetzt hat. Und welche Tageszeitungen er überhaupt zur Kenntnis nimmt. Seine Geschichtsvergleiche sind freie Assoziationen und die Gleichsetzung der deutsch-französischen Geschichte mit dem Verhältnis zu Russland zeugt von einer ganzen Reihe von Wunsch-Phantasien, mit denen man ganz sich nicht eine Abitursprüfung bestehen würde. Warum auch, man plaudert einfach drauf los. Es geht ja nicht um die eigene Haut.
Unerträglich wird es, wenn er die Konsequenzen einer russischen Besatzung für ukrainische Intellektuelle und Vertreter der Zivilgesellschaft in seinen Überlegungen komplett ignoriert. Er ist so auf die NATO und den Vietnamkrieg zwangsfixiert, dass er die Realität dieses Krieges nicht einmal in Ansätzen verstehen will. Stattdessen beschwört er die Erfahrung der Angst vor dem Atomkrieg, in der er sozialisiert wurde, und die er womöglich nie verarbeitet hat. Vielleicht hat er sich auch von den Weltbildern seiner DKP-verwurzelten Eltern nie richtig emanzipiert. Da waren die DDR und die Sowjetunion der utopische Sehnsuchtsort. Von den einhergehenden imperialen Phantasmen haben sich viele bis heute nicht befreit. Das hat Konsequenzen auf die Sicht des Nachfolgerstaates.
Schon 2014 stellte Precht die Hauptverantwortung Russlands für den Krieg, den es in der Ukraine entfachte, systematisch in Frage; sei es durch Suggestivfragen (man wüsste nicht wer hinter dem Flugzeugabschuss MH17 stünde), Relativierungen („Wir können unsere Maßstäbe nicht überall in der Welt genau gleich anlegen.“), Beschwichtigung („Echte Sorgen müssen wir uns also nicht machen“) oder durch eine Positionierung gegen die Politik der EU und NATO.
Die Attitüde, die er jetzt kultiviert – wenn wir die Ukraine aufgeben, haben wir Frieden – ist nicht neu. 2017 lud Precht Harald Kujat in seine ZDF-Show ein – obwohl oder gerade weil Kujat für den Thinktank eines Putin-Vertrauten tätig war. Die beiden verstanden sich prächtig. Ihre These: Man solle die Ukraine als Pufferstaat sich selbst überlassen. Allein stehen sie damit nicht. So denkt es schon lange in Deutschland. Im Baltikum und Polen wäre so eine Anmaßung undenkbar. Prechts Denken begünstigt Putins Krieg. Bewusst oder nicht ebnete Precht hier einer Grundprämisse der aggressiven Außenpolitik des Kremls den Weg. Er übersieht dabei ein fatales Signal: Der Verzicht auf Gegenwehr gegen das Unrecht wird vom Aggressor als Einladung begriffen, weitere Übertretungen zu begehen. Viele Experten waren sich in den letzten Wochen einig: Es gibt keine Garantie, dass Putin es nur auf die Ukraine abgesehen hat. Doch Precht tut so, als ginge es Putin immer noch nur um eine bessere Verhandlungsgrundlage mit der NATO. Die Vernichtungsabsichten Putins werden komplett beiseite geschoben.
Dass er den Ukrainern wörtlich jetzt entgegenhält, es sei eine Idiotie, den Krieg mit Waffen zu gewinnen und sie müssten sich nur auf Verhandlung mit Putin einlassen, lässt sich nur als Affront gegen diejenigen Menschen verstehen, die sich mit allem was sie haben, diesem Vernichtungskriegs entgegen stellen. Es ist eine Unverschämtheit dies aus dem Mund eines Deutschen zu hören, der in der Sicherheit dieses Landes ein sicheres Leben führen kann, während ukrainische oder belarussische Intellektuelle für ihre Äußerungen in Gefängnissen verschwinden werden, wenn sie diese überhaupt überleben. Das ist kein Debattenbeitrag, das ist die Verhöhnung derjenigen, die für ihre Lebensgrundlage eintreten. Es ist unverständlich, dass hier sein Arbeitgeber diese hanebüchenen Äußerungen weiter toleriert.
Noch ein Nachtrag zum ersten Teil: All denjenigen, die immer noch den Ukrainern raten, aufzugeben oder mit welcher Argumenation auch immer die Freiheit des Landes relativierend aufs Spiel setzen, sei das Buch von Stanislav Aseyev „Heller Weg: Geschichte eines Konzentrationslagers im Donbass 2017–2019“ zur Lektüre empfohlen. Der heute 32-jährige Schriftsteller Aseyev beschreibt wie er in dem berüchtigten illegalen Gefängnis „Isolazija“ in der „Donezker Volksrepublik“ 28 Monate lang überlebte. Herausgegeben von Andreas Umland. Aus dem Russischen von Martina Steis und Charis Haska. Ibidem Verlag, Hannover. 206 Seiten, 16,80 Euro
Unser Gastkolumnist Marcus Welsch war die letzten zehn Jahre Dutzende Male in Polen, der Ukraine und anderen Staaten Mittel- und Osteuropa unterwegs. Er ist als Dokumentarfilmregisseur oft mit dem ukrainischen Schriftsteller Serhij Zhadan durch den Osten seines Landes gefahren. Warum ihn jetzt das Reden in Deutschland über Krieg und Frieden um den Schlaf bringt, beschreibt er hier in einem mehrteiligen Tagebuch.
Hier geht es zu Teil 1, Teil 3, Teil 4, Teil 5 und Teil 6 des Tagesbuches.