Grenzkontrollen sind nicht das eigentliche Thema des Unionsstreits. Hoffentlich ist das auch allen bewusst.

Wer im Juli 2015 erbittert über das damals neue, bislang größte Rettungspaket für Griechenland stritt, konnte nicht ahnen, dass dieses in jenen Tagen alles dominierende Thema schon kurz darauf niemanden mehr interessieren würde. Niemand bemerkte, dass man sich vor einer politisch-historischen Wasserscheide der Berliner Republik befand und die Ereignisse des Septembers danach „2015“ zu einem festen Begriff des deutschen politischen Betriebes machen sollten. Wie fest etabliert der Begriff bereits ist, erkennt der geneigte Leser schon daran, dass er auch ohne Hinweis des Autors längst weiß, was gemeint ist.

Seit damals, seit „2015“ ist die Bundeskanzlerin zu einer Person geworden, die nicht nur politisch, sondern auch gesellschaftlich polarisiert. Über der Frage „Merkel ja/nein?“ mag früher die eine oder andere Stammtischrunde im Streit auseinandergegangen sein, seit 2015 sprengt sie Ehen, Familien und langjährige Freundschaften. Politische Kommentatoren, die felsenfest im Sattel zu sitzen schienen, präsentieren sich heute journalistisch komplett vom Pferd gefallen.

Selbstverständlich ist auch die Kanzlerin keine Heilige. Merkel hat in ihrer langen Regierungszeit unzählige Fehler gemacht, und viele davon wird das Land noch lange spüren: Die Energiewende hat den deutschen Strommarkt zerstört und die nukleare Forschung im Hochtechnologieland Deutschland praktisch liquidiert. Mindestlohn und Frauenquote haben das Wirtschaftsprogramm der Union praktisch entkernt. Führungskräfte aus beiden Schwesterparteien verschliss sie reihenweise. Und unabhängig davon, wie man grundsätzlich zu „2015“ steht, herrscht inzwischen Konsens darüber, dass die Integration von Flüchtlingen viel zu lange nach dem Prinzip „Glaube, Liebe, Hoffnung“ organisiert wurde und es an Geld, Infrastruktur und politischer Planung fehlte.

Pathologischer Hass enthemmter Nationalkonservativer

Das alles hat auch Beobachter, die Merkel nicht mit dem pathologischen Hass eines völlig enthemmten nationalkonservativen Milieus begegnen, zu der Ansicht verleitet, ein personeller Neuanfang im Kanzleramt könnte die Lage entspannen und ein unverbrauchter Nachfolger parteiinternen Querschlägern glaubwürdiger die Grenzen aufzeigen.

Dieser Gedanke, der zuletzt immer wieder formuliert wurde, mag naheliegend erscheinen, hier sei er aber vor allem deshalb aufgeführt, weil er so perfekt den Fehler der deutschen Debatte versinnbildlicht: Alle Probleme, ob echt oder eingebildet, werden verabsolutiert, mögliche positive Aspekte konsequent ausgeblendet oder negiert. Und bei all dem schafft es der deutsche Blätterwald noch, den Blick soweit zu senken, dass schon die Existenz eines Tellerrandes zunehmend in Vergessenheit gerät. 

Während aber hierzulande ein wachsender Chor der Unbedarften täglich neu das Lied von der schwächelnden Kanzlerin anstimmt, der ein würdevoller Abgang ebenso guttun würde wie dem Land, stehen sowohl die EU als auch die NATO vor existenziellen Herausforderungen. Deutschland, dessen Bürger und Politiker sich das Denken in strategischen Kategorien schon lange abgewöhnt haben, erlebt dabei die zumindest rhetorische Wiedergeburt der Bündnispolitik – leider aber fast nur in Form der ständigen blaubraunen Beschwörung einer Verbundenheit mit „unserem Nachbarn Russland“. Der Dauerbeschuss der überstaatlichen Systeme durch Donald Trump gilt hingegen immer noch hauptsächlich als Nebenschauplatz der Politik eines unfähigen US-Präsidenten. Dass die Bundesrepublik diesen Systemen sowohl ihren Wohlstand als auch ihre nationale Sicherheit verdankt, gehört zu den Wahrheiten, über die die Vox Populi in Deutschland schon seit Langem souverän hinwegsieht.

Kollektiver Selbstmord

Denn diese Bündnisse sind nicht, wie von Trump und seinen charakterlosen Fußtruppen gerne behauptet, die Front einer böswilligen westlichen Verschwörung mit dem Ziel, die Vereinigten Staaten zu übervorteilen und Russland von seinem gottgegebenen Platz an der Sonne fernzuhalten. Sie sind auch nicht die Speerspitze eines neoliberalen Militarismus, wie dies selbst bürgerliche Stimmen von „attac“ bis zur „Süddeutschen Zeitung“ in Deutschland immer wieder gerne im Gestus des Tabubrechers formulieren. Sie sind im Gegenteil, bei allen ihren Fehlern, die sichtbaren Manifestationen einer Welt, die Zusammenarbeit, wirtschaftliche und gesellschaftliche Freiheit und nicht zuletzt die Idee einer universellen Menschenwürde als zentrale Triebfedern ihres Handelns versteht und diese Werte in die Form supranationaler Bündnisse gegossen hat. Trump macht mehr als deutlich, dass er diese Strukturen zerschlagen will und eine Art „Finnlandisierung“ der westlichen Welt anstrebt, wie der amerikanische Kolumnist Max Boot zutreffend analysiert. Für die USA wäre das eine unnötige, aber irgendwie zu korrigierende Selbstverzwergung, für uns Europäer dagegen bedeutete die Unterstützung oder auch nur Tolerierung einer solchen Politik im Schatten eines offen revanchistischen, militaristischen und nationalistischen Russland eine Dummheit an der Grenze zum kollektiven Selbstmord.

Es täte der deutschen Debatte gut, sich zu vergegenwärtigen, dass die politischen Schlachten für die Geschichtsbücher an dieser Front geschlagen werden und nicht am Grenzübergang zwischen Kufstein und Kiefersfelden. Der Tag wird kommen, da Angela Merkel von der politischen Bühne abtritt. Im ureigensten Interesse unseres Landes muss man hoffen, dass dieser Tag nicht vor 2021 kommt.