In seinem neuen Buch „Light Perpetual“ entwirft Francis Spufford eine kontrafaktische Geschichte, die sich nur minimal von der Realität unterscheidet – und doch ganz anders ausfällt. Hannes Stein hat den Roman gelesen.

„Wie es auch sei, das Leben, es ist gut“ (Goethe)

Die Grundidee von Francis Spuffords Roman „Light Perpetual“ ist genial in ihrer Einfachheit, einfach in ihrer Genialität: 1944 schlägt eine V-2-Rakete in einem Woolworth-Kaufhaus in London ein. Zu dieser Zeit hat sich dort gerade eine große Menschenmenge dort versammelt, denn Woolworth stellt Töpfe und Pfannen aus, die aus einem ganz neuen Material gefertigt sind: Aluminium. Der Gefechtskopf der deutschen Rakete explodiert: alle, alle, alle sind tot. Unter den Toten fünf Kinder: Ben und Vern, Jo und Val, Alec. Und nun stellt sich der Romancier die Frage: Was wäre gewesen, wenn? Also: Wenn die Rakete ihr Ziel verfehlt hätte? Was, wenn diese fünf Kinder hätten leben dürfen? Und so folgt Francis Spufford Ben, Vern, Jo, Val and Alec durch die Zeiten. Die Fünfziger- und Sechzigerjahre, die Thatcher-Zeit, die Neunzigerjahre; vorläufige Endstation ist das Jahr 2009.

Wunderbar normal

Beinahe gar nichts Besonderes passiert in diesem Roman. Ehen, Scheidungen, Kinder, Enkel. Geschäftsgründungen. Pleiten. Allerdings: England ändert sich rabiat. Von links nach rechts nach links nach rechts. Multikulturalität wird normal. Schwulsein wird normal. 

Weil Spufford keinen Kitsch schreibt, ist das Leben der fünf Menschenkinder, denen er durch die wechselnden Zeiten folgt, keineswegs immer nur schön. Ben – die reinste Seele in diesem Roman, eine Romanfigur, die auch von Dostojewski stammen könnte – verplempert Jahrzehnte für Angst und Wahnvorstellungen. Erst als Mann in seinen Fünfzigern trifft er die Liebe seines Lebens, eine Jamaikanerin. Vern erweist sich als ziemliches Arschloch: ein Immobilienhändler, der Leute betrügt – das Einzige, was ihn sympathisch erscheinen lässt, ist eine Schwäche für Opern. Jo ist ein musikalisches Genie, eine begnadete Sängerin, die es aber nie schafft, berühmt zu werden, und am Ende als Musiklehrerin an einer Schule landet. Ihre Schwester Val lässt sich mit einem Skinhead ein und lädt schwere Schuld auf sich. Alec wird Drucker, verliert dann natürlich seine Arbeit, wird zu einem Linken alter Schule – bleibt seinem Lebensstil nach aber erzkonservativ: ein Großvater, der seine Enkeltochter auf den Schultern trägt.

Eine Ode an das Leben

Nichts Aufregendes, nichts Tolles. Aber weil Francis Spufford diese fünf Leben vor dem schwarzen Hintergrund erzählt, dass die Protagonistinnen und Protagonisten ja eigentlich tot sind, fängt jedes dieser Leben an zu leuchten. Wird kostbar. Wird erkennbar in seiner Kostbarkeit. Mich hat lange kein Buch mehr zum Weinen gebracht; dieser Roman schon. Vor allem die letzte Szene mit Ben. Eine Sterbeszene. Da schreibt Spufford einen modernen Psalm. „Praise him at Pride: praise him at Carnival: praise him at Millwall and West Ham, Arsenal and Chelsea and Spurs. Praise him at Eid: praise him at High Mass: praise him on Shabbat: praise him in the Gospel choir. Praise him, all who hope: praise him, all who fear: praise him, all who dream: praise him, all who remember.“ Wer dabei nicht in Tränen ausbricht, dem kann ich nur für seine Nervenstärke gratulieren. 

Dann schickt Francis Spufford seiner fünffachen Geschichte noch ein Postskriptum hinterher, das dem Leser endgültig den Teppich unter den Füßen wegzieht. Zwei Worte nur. Aber in diesen zwei Worten steckt eine ganze Philosophie, Quatsch: eine Theologie. Wegen dieser zwei Worte kann man sehr fromm werden. Oder Atheist. Oder beides.

Reich und reif

Ich spüre viele Einflüsse in diesem Buch. Da ist natürlich Dickens, der große Autor verpfuschter Kindheiten und verpfuschter Leben, die sich dennoch wie Märchen lesen. (Ich denke dabei weniger an seinen überschätzten Roman „Oliver Twist“, mehr an seine reifen Meisterwerke „Bleak House“ und „Great Expectations“.) Da ist John Milton, auf den der Titel des Romans und das erwähnte Postskriptum anspielt. Da ist George Eliot, da ist Virgina Woolf. Vor allem aber ist da Francis Spufford.

Ich habe auf diesen Schriftsteller ein Auge, seit ich sein Buch „Red Plenty“ las, ein Mittelding von Sachbuch und Roman über die Chruschtschow-Zeit. „Golden Hill“, ein historisches Buch, das in New York spielt, ist eine wunderbare Hommage an den britischen Schelmenroman des 18. Jahrhunderts – gleichzeitig eine tiefe Reflexion über die Sklaverei und ihre Folgen. 

„Light Perpetual“ ist Spuffords Meisterwerk. Kein anderer Roman, den ich in den vergangenen zehn Jahren gelesen habe, hat mich so tief berührt und beeindruckt. Das Buch hätte wahrscheinlich nicht geschrieben werden können, wenn Spufford kein gläubiger Christ (anglikanische Variante) wäre. Das ist aber völlig egal. In diesem Roman wird nicht gepredigt, sondern erzählt. Und wer diese 317 Seiten gelesen hat, fühlt sich beglückt und bereichert, beides. 

Francis Spufford: Light Perpetual
Scribner, New York. 317 S., ca. $27