Ein Staat legitimiert sich durch die Erfüllung seiner Aufgaben, zum Beispiel ein bestimmtes Quantum an Sicherheit zu geben. Was aber, wenn er dem nicht mehr gerecht wird? Und was hat das mit dem Verschwinden der Volksparteien zu tun? Wir erleben es gerade.

Jeder Mensch neigt zu Vergesslichkeit. Tagtäglich gehen uns Worte und Namen verloren, die Regeln eines Kartenspiels, die Verse eines geliebten Gedichts, Kochrezepte, eine PIN, ganz sicher die Vorkommnisse eines beliebigen Dienstags vor zwölf Jahren, irgendwann vielleicht auch die Fähigkeit, einen Text zu schreiben, Reifen zu wechseln oder eine Krawatte zu binden. Wir sind letztlich, auch ohne spezifische Krankheit, ein ewiges Vergessen.

Da hilft es, wenn wenigstens der Staat einige Sicherheiten bietet, auf die man sich verlassen kann, weil sie nicht vergessen werden… 

Ein schöner Satz. Nur stimmt er leider nicht mehr.

Der deutsche Staat vergisst schon seit längerem – seit etwa drei Jahrzehnten – Teile seiner Pflichten, seiner Grundausstattung. Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich rede hier nicht von solchen Erinnerungslücken, an denen etwa Bundesfinanzminister Olaf Scholz leidet, wenn er auf Treffen mit Warburg-Bankern im Zusammenhang mit der Steuerhinterziehung im Cum-ex-Skandal angesprochen wird. Und ich bin nicht der Ansicht, dass unser Staat ein Vollkasko-Staat sein soll, der gegen jede Unbekömmlichkeit, jedes Restrisiko, jede Panikattacke ein finanzielles, rechtliches und institutionelles Pflästerchen bereithalten muss. Es geht mir um die Aufgaben, weswegen Staaten hauptsächlich begründet wurden – nämlich ein bestimmtes Maß an Sicherheit für die eigene Bevölkerung zu garantieren, damit sie in Freiheit, Selbstbestimmung und ohne ernste existentielle Ängste leben kann. Doch der deutsche Staat hat teilweise die Fähigkeit zur Vorsorge, zum Schutz, zu einer gebührenden Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger verloren. 

KATASTROPHE MIT ANSAGE

Eine Auswahl an Defiziten aus den letzten Jahrzehnten zeigt das: Die Bundeswehr ist kaum noch verteidigungstauglich, auch für Friedenseinsätze im Rahmen der UN fehlt ihr weitgehend die notwendige Ausrüstung. Länder- und Bundespolizei: Seit Mitte der 1990er-Jahre sank die Zahl der Polizeibeamten kontinuierlich, obwohl wegen Globalisierung, Digitalisierung und durchlässiger Grenzen nicht mit einer geringeren, sondern einer veränderten, wenn nicht sogar steigenden Kriminalitätsrate gerechnet werden durfte. Erst seit dem Jahr 2015 steigt die Zahl der Beamten wieder. Für die neue Einsicht in die Fehler sorgten nicht zuletzt die Kölner Silvesternacht 2015/16, das selbstbewusste Auftreten sogenannter „Reichsbürger“ und Rechtsradikaler sowie das Aufkommen der Clan-Kriminalität. Aber in diesen Zusammenhang gehört auch unbedingt der Schutz vor Hass und Menschenfeindlichkeit, die sich in Antisemitismus, Rassismus usw. äußert: Um auch diesen Fällen genug Aufmerksamkeit schenken zu können, braucht es mehr und besser ausgebildete Beamte sowie mehr Stellen in der Justiz. Wenn sich der deutsche Staat hier mittlerweile auch um eine Verbesserung bemüht – die Versäumnisse konnten bislang nicht aufgeholt werden. Was für die Infrastruktur, die mancherorts in einem gefährlich maroden Zustand ist, ebenso gilt. Und weitere Defizite sind zu gewahren bei der anfangs verschlafenen Pandemiebekämpfung und den quasi übersehenen Klimakrisenfolgen. 

Es hätte allen eine Warnung sein sollen, als vor nicht mal einem Jahr beim Nationalen Warntag vielen Sirenen die Stimmen versagten. So kam die Katastrophe ohne angemessene Vorwarnung über das Ahrtal und angrenzende Regionen. Nun gibt man sich überrascht und glaubt einem Landrat die Schuld geben zu können. Aber fehlt nicht schon lange das der Klimakrise entsprechende Bewusstsein auf den höheren politischen Ebenen? Tatsächlich konnte und wollte man sich keine Vorstellung machen von plötzlichen, tödlichen Starkregenfällen, von zunehmenden Extremwetterereignissen. Obwohl nur wenige Wochen vorher ein Tornado einen tschechischen Ort in Schutt und Asche legte.

Damit wir uns auch hier richtig verstehen: Keine Regierung kann mit einem Gesetz, einer Verordnung oder technischen Hilfsmitteln alle Naturkatastrophen verhindern. Aber der Staat kann Vorsorge treffen angesichts veränderter Rahmenbedingungen. Man muss nur die Realität zur Kenntnis nehmen. 

NICHT STAATSTRAGENDE VOLKSPARTEIEN

Sicherheit ist eine zentrale Voraussetzung für das Vertrauen in den Staat. Deswegen ist es unverständlich, warum gerade darauf nicht besonderes Augenmerk gelegt wird. Womit wir bei den ehemaligen Volksparteien sind. Meinungsforscher zermartern sich seit Jahren den Kopf, warum es immer weniger wird mit den beiden ehemaligen staatstragenden Säulen CDU/CSU und SPD. Einige gute Gründe wurden auch schon gefunden: demographischer Wandel, schwache Kandidaten, der Mangel an Visionen, die wachsende Distanz zu ehemaligen Stammwählern, die Zunahme an ernstzunehmender Konkurrenz usw. Aber dass sie immer mehr das Merkmal, „staatstragend“ zu sein, vernachlässigt haben, indem sie grundsätzlichen Aufgaben, die dem Gemeinwesen Sicherheit geben, nicht mehr genügend Aufmerksamkeit schenkten – das wurde so noch nicht thematisiert. Dabei dürfte klar sein, dass diese Versäumnisse von großen Teilen der Wählerschaft nicht gerade honoriert werden, ja, Verunsicherung hervorrufen. Also entziehen sie den verantwortlichen Parteien das Vertrauen. 

Es ist den ehemaligen Volksparteien die im besten Sinne republikanische Gesinnung abhanden gekommen. Ein republikanischer Staat ist ein gut organisierter, effizienter, stabiler, vorausschauender – und ganz gewiss kein Schlafmützenstaat. 

LASCHETS LACHEN

In der aktuellen Pandemie plädierten einige Stimmen dafür, es mit der Kritik an den funktionellen Miseren in Deutschland nicht zu übertreiben; schließlich liefe es in anderen Staaten nicht besser, meist schlechter. Aber wer mag sich schon mit Abstiegstendenzen ernsthaft arrangieren wollen? Denn das bedeutete, auf eine adäquate Handlungs- und Leistungsfähigkeit des eigenen Landes zu verzichten. Ich bin sicher, dass weite Teile der Bevölkerung kein Interesse daran haben. Deshalb sollten wir uns fragen, wie es zu dieser Entwicklung kommen konnte.  

Man könnte es auf eine an manchen Stellen zu starke neoliberale Verschlankung des Staates schieben. Aber verschlankt wurde der Staat ja nicht. Es wurde allerdings in den Ressorts jenseits der sozialen Sicherungssysteme gespart. Er ist also sozialer geworden (und liberaler), aber gleichzeitig in anderen Sicherheitssystemen dysfunktionaler. Vielleicht liegt es ja daran, dass man glaubte, die Komplexitätszunahme der liberalen Gesellschaft an viel zu vielen staatlichen Stellen abbilden, begleiten und befördern zu müssen – und gleichzeitig die „klassischen“ Aufgaben vernachlässigen zu können. Dem entsprechend hat der Soziologe Niklas Luhmann, einer der einflussreichsten Intellektuellen in den 1980er- und 1990er-Jahren die Ansicht vertreten, dass Vergessen ein notwendiges Verfahren sozialer Systeme sei, um Fortschritt zu generieren: „Die Hauptfunktion des Gedächtnisses liegt (…) im Vergessen, im Verhindern der Selbstblockierung des Systems durch ein Gerinnen der Resultate früherer Beobachtungen.“ Aber das ist natürlich falsch. Jedes soziale System, also auch jedes Gemeinwesen, braucht eine Organisation mit Institutionen und Rechtsinstituten, in denen Erfahrungen zum Vorteil aller gerinnen können, um zukunftsfähig zu bleiben. Eine strukturelle Amnesie würde sich verheerend auswirken. Das Vergessen von Fähigkeiten, die wir für die Zukunft und unsere Sicherheit brauchen, muss staatlicherseits gestoppt, neue Fähigkeiten müssen erworben werden. Liberalisierung und starker Staat lassen sich verbinden. Aber dafür braucht man eine Vorstellung von den zukünftigen Herausforderungen. 

Die beiden Parteien an den Rändern, Linke und AfD, kann man in diesem Zusammenhang vergessen. Die FDP hat zwar prinzipiell ein gespanntes Verhältnis zu jedem klitzekleinen Mehr an staatlichen Leistungen, aber den Sinn innerer wie äußerer Sicherheit erfasst sie auch. Eine besonderes, waches Bewusstsein ist allerdings diesbezüglich nicht von der Partei zu erwarten. Bleiben die C-Parteien, die SPD und die Grünen. Die alten Volksparteien haben sich – wie wir in den letzten dreißig Jahren erleben durften – vom republikanischen Staat entfremdet. Der Schaden für diese Parteien könnte irreparabel sein. Dass der neue Volksparteiaspirant, die Grünen, diese Chance bislang nicht genutzt hat, kommt von ihrem Fremdeln mit dem republikanischen Staat. Im Südwesten sind sie da schon weiter, aber in Berlin wiederum spielen sie gerne mal Opposition innerhalb der Regierung, wenn es um polizeiliche Durchsetzung des Rechtsstaats geht. Und der Name dieses Landes verursacht an der Basis manchmal noch starke allergische Reaktionen. 

Angesichts des Klimawandels braucht es aber von Sylt bis Garmisch-Partenkirchen eine neue Sicherheitsarchitektur, die rechtzeitig vor Extremwetterereignissen warnt und den Zivilschutz adäquat ausstattet. Auf die angekündigte Warn-App darf man nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre gespannt sein. 

Es wundert jedenfalls nicht, dass in einer aktuellen Umfrage 58 Prozent der Befragten den Parteien nicht zutrauen, mit den Problemen in Deutschland fertig zu werden. Es ist der Kanzlerkandidat der CDU/CSU, Armin Laschet, der mit seinem explodierenden Lachen vor laufenden Kameras im Hochwasserkatastrophengebiet das Problem der Politik unübersehbar machte: Unernst, mangelndes Krisenbewusstsein, Realitätsverweigerung.

Er gehört zu jenem alten Typus Politiker, der noch überrascht ist, wenn ihm das Wasser in die photogenen Gummistiefel fließt. Wir aber sollten nicht länger davon überrascht sein.