Der Kampf um die Macht zwischen dem Regime und der demokratischen Opposition in Belarus dauert an. Mehr noch: Während das Interesse im Westen abflaut, versuchen beide Seiten einen Ausweg aus dem derzeitigen Patt zu finden. Dies wird wohl nur durch eine weitere Eskalation gelingen. Selbst ein direktes Eingreifen aus dem Kreml scheint möglich.

Die Proteste in Belarus gehen in die zwölfte Woche. Das Durchhaltevermögen und die Entschlossenheit sind sowohl bei den Demonstranten als auch beim Regime von Aljaksandr Lukaschenka hoch. Während die demokratische Opposition weiter jedes Wochenende Zehntausende im gesamten Land auf die Straße bringt, setzt der Diktator auf die Loyalität von Polizei und Armee. So hat sich in den vergangenen Wochen eine Pattsituation entwickelt, die auf die Dauer für beide Seiten nicht nur unbefriedigend, sondern auch gefährlich ist.

Die Proteste drohen im Winter zu versanden und die Unterstützung aus dem Westen ist bereits weitgehend eingeschlafen. Belarus ist bei uns kein großes Thema mehr – eine Solidarisierung der europäischen Öffentlichkeit mit dem Protest blieb aus. Der Machthaber in Minsk wird sich bemühen, nach dem Verlust der Legitimität wenigstens seine Autorität wiederherzustellen. Sein Ziel ist es, die Herrschaft über den öffentlichen Raum zurückzuerobern und die Opposition zu zerschlagen. Um in dieser Lage wieder Bewegung in den Konflikt zu bekommen, ist es wahrscheinlich, dass beide Seiten ihre Strategie wechseln werden. Hin zu einer weiteren Eskalation.

Lukaschenko hat keinen Ruf zu verlieren

Einen Teil der neuen Dynamik konnte man bereits am Wochenende beobachten. Oppositionsführerin Swjatlana Zichanouskaja hat ab Montag zum Generalstreik aufgerufen. Damit will sie den Konflikt von der Straße auch in die Betriebe tragen und die ökonomische Macht des Staates angreifen. Denn in Belarus kontrolliert der Staat große Teile der Wirtschaft; ein Generalstreik ist daher eine direkte Herausforderung der staatlichen Machtstrukturen. Zugleich verlangt Zichanouskaja mit diesem Schritt jedoch auch größere Risikobereitschaft von ihren Unterstützern, denn Streikenden droht der Verlust des Arbeitsplatzes. Die nächsten Tage müssen zeigen, ob es ihr gelingt, durch eine breite Streikbewegung den Druck entscheidend zu erhöhen und Konzessionen zu erzwingen. Es steht viel auf dem Spiel, denn eine Niederlage der Demokratiebewegung wäre ein symbolischer Rückschlag für alle, die auf ein Ende der post-kommunistischen Autokratien hoffen.

Von Beginn der Proteste an hat Lukaschenka auf Repressionen gesetzt. Er weiß, dass er an einem Runden Tisch nichts gewinnen könnte. Dort wäre seine Absetzung der Verhandlungsgegenstand. Bisher hat Lukaschenka zwar physische Gewalt gegen Demonstranten immer wieder eingesetzt, aber er hat sich gegen eine „chinesische Lösung“ entschieden. Sollte der Generalstreik befolgt werden, dann könnte die belarussische Führung diese Entscheidung überdenken und die Armee mobilisieren. Lukaschenka und seine Führungsriege haben keinen Ruf mehr zu verlieren, sondern nur noch die Macht.

Lukaschenkas politische Trümpfe sind die Loyalität seiner Polizei und die Unterstützung durch den Kreml. In Moskau hält man zwar wenig von dem Diktator persönlich, doch die russische Führung fürchtet das Signal, das von einer demokratischen Revolution im Nachbarland ausginge. Der Kreml verabscheut erfolgreiche Protestbewegungen. Nach fast drei Jahrzehnten an der Macht ist Lukaschenka in Russland ein household name – wenn er gestürzt würde, dann wäre das ein Menetekel für Wladimir Putins Herrschaft. Aus diesen innenpolitischen und auch aus strategischen Gründen – Belarus grenzt an das Baltikum – wird Moskau versuchen, einen Umsturz in Minsk zu verhindern. Die Frage ist, ob Putin bereit ist, offen in seinem Nachbarland zu intervenieren oder ob er elegantere Formen der Einflussnahme findet.

Putin könnte die Lähmung des Westens nutzen

Mit der Ausnahme Litauens und Polens hat der Westen sich bisher in Belarus zurückgehalten. Wenn nichts Dramatisches passiert, dann wird sich daran in den kommenden Wochen kaum etwas ändern. Die Pandemie, der Brexit und die Wahlen in den USA bestimmen in diesem Herbst die Agenda. Wer Wladimir Putin kennt, der weiß, dass der russische Machthaber bereit ist, Fakten zu schaffen, wenn er unter Druck steht. Das hat die Annexion der Krim gezeigt. Es wäre deshalb vorschnell, eine russische Intervention in Belarus auszuschließen. Die halbherzige Reaktion auf den Mordversuch an Alexei Nawalny dürfte den Kreml zudem in dem Eindruck bestärkt haben, dass aus Berlin und Brüssel keine harschen Reaktionen drohen. Wenn es in den USA im November ein Machtvakuum geben sollte, dann könnte die Lähmung des Westens schnell genutzt werden.  

Zur Zeit fliegt die Krise in Belarus zwar unterhalb unseres Radars. Das könnte sich jedoch in den kommenden Wochen schnell ändern. Die Frage ist, wer dann bereit wäre, ein beherztes Krisenmanagement zu leiten. Schließlich grenzt das Land an unsere Verbündeten im Baltikum und an Polen. Eine russische Besatzung würde die strategische Lage in Osteuropa drastisch zu Ungunsten der NATO verändern.

Belarus ist zudem nur ein Krisenherd unter mehreren. Zum Jahresende 2020 zeigt sich der eurasische Raum im Umbruch. Neben den Protesten in Belarus gibt es noch den Krieg im Donbas, den aufgeflammten Konflikt im Süd-Kaukasus, in den auch die Türkei verwickelt ist, sowie politische Unruhen in Zentralasien. Der Winter im post-sowjetischen Raum könnte sehr turbulent werden. Und dabei geht nicht nur um Macht und Demokratie in der Region. Es geht auch um unsere Sicherheit.