In unserer reichen Gesellschaft werden die Menschen immer gefühlsärmer. Ein tragischer Vorfall hilft einem vor Augen zu führen, worauf es im Leben ankommt.

Es war einer dieser Berliner Sommertage, die einem vorkommen wie Urlaub. Die Sonne verwandelt die Luft über dem heißen Asphalt in ein Hitzeflimmern, der Himmel ist klar, der Sand unter den Füßen am Wannsee brennt, Menschen essen Currywurst mit Pommes rot-weiß, die Frauen tragen mittlerweile wieder hochgeschnittene Bikinihosen und die Männer knappe Höschen, das Bild wirkt wie aus einer anderen Zeit gefallen, es ist ein Sonntag im Hochsommer. Bevor die Realität in wenigen Stunden Entfernung wieder losgeht und das Hamsterrad sich weiterdreht, gönnen wir uns eine kleine Auszeit vom Leben.

Am S-Bahnhof Nikolassee beobachtete ich auf meinem Rückweg vom Tag am See sonnenmüde einen Mann mit einem Rollator. Er trug eine blaue Jeanshose, weiße Turnschuhe, einen grauen Pullover, darunter ein beigefarbenes Polohemd. Der Kragen hing an einer Seite heraus, an der anderen nicht. Das ärgerte mich. Gerne hätte ich ihm den Hemdkragen gerichtet. Dabei fragte ich mich, ob es ihm nicht heiß sei. Schließlich beschert uns der neue deutsche Klimaschaden-Sommer Temperaturen, bei denen wir bald Orangen- und Olivenbäume pflanzen werden in Brandenburg. Kartoffeln müssen dann wohl aus Skandinavien importiert werden. Die S-Bahn ließ neun Minuten auf sich warten, sodass ich genug Zeit hatte, mir ausführlich Gedanken über den Mann zu machen.

Von der Ungerechtigkeit der Welt

Er war vielleicht 50 Jahre alt, sprach mit sich selbst, irrte ein wenig am Gleis umher, mal saß er auf seinem Rollator, mal stand er auf. Ich beobachtete ihn die gesamte Zeit. Es gibt Momente, in denen ich mich wie ein emotionales Wrack fühle. Über Gefühle sprechen fällt mir schwer. Doch es gibt auch bei mir Dinge, die mir die Tränen in die Augen treiben. Allen voran Ungerechtigkeit. Ich habe keine Erklärung dafür, aber sobald ich selbst Ungerechtigkeiten erfahre oder sie irgendwo wahrnehme, macht mich das wütend, teilweise aggressiv, und traurig zugleich. So auch als ich den Mann anschaute. Ich fragte mich, wie unsere Gesellschaft so ungerecht sein konnte. Während ich mir am Wannsee den mit Pommes gefüllten Bauch streichelte und über mein Dasein philosophierte, irrte er allein umher, ganz offensichtlich nicht mehr ganz Herr seiner Sinne. Ich fragte mich – während  ich seine zwei Plastiktüten, die am Rollator befestigt waren, anschaute – an welcher Stelle sein Leben eine Wendung genommen hatte. Oder war es schon immer schwierig? Hatte er Freunde? Familie? Ist er obdachlos oder lebt er in einer Anstalt? Noch während ich all diese Gedanken hatte, seufzte ich laut und sagte zu meiner Schwester: „Die Welt ist einfach unfair!“

Ich hörte die S-Bahn einfahren und war froh, aus meinem Weltschmerz gerissen zu werden. Ich schaute erneut zu dem Mann hinüber, der nur zwei, drei Meter von mir weg stand, als er – vor die einfahrende S-Bahn sprang.

Ich schrie. Ich rannte in seine Richtung. Schaute hin, schaute weg. Meine Schwester hielt mich fest. Mein Herz pochte, ich bekam Atemschwierigkeiten. Dann legte sich plötzlich eine Stille über den Bahnhof. Was dann geschah, weiß ich nicht mehr genau. Ich sah Menschen wegrennen, ich suchte den Blick zu meiner Schwester, wir waren komplett hilflos, ich sagte Nein, ich lief nach links, nach rechts, rief um Hilfe, bis mir eine junge Frau ihr Handy in die Hand drückte. Denn es war auch einer dieser Sommertage, an denen die Unerreichbarkeit etwas Wohliges in einem auslöst und deshalb das Telefon zu Hause lag. Während ich die Feuerwehr alarmierte, beobachtete ich mich selbst aus der Vogelperspektive. Alles wirkte surreal. In Zeitlupe. Wie fragil so ein Menschenleben doch ist. Plötzlich ist man einfach weg. Plötzlich ist nichts mehr wie es war.

Nur sein Rollator stand noch am Gleis. Seine zwei Plastiktüten waren noch immer daran befestigt. Ein junger Mann tröstete ein noch jüngeres Mädchen, die unter Schock stand und ich fragte mich, warum. Hätte ich die neun Minuten, die ich Zeit hatte, ihn zu beobachten, darin investiert, mich mit ihm zu unterhalten, wäre er dann gesprungen? Obwohl ich weiß, dass ich nichts dafür kann, dass er sich für diesen Schritt entschieden hat, frage ich mich, ob ich es hätte besser machen können. Wann hat der Mensch einen Lebenswillen und wovon macht er diesen abhängig und wann wird er lebensmüde?

Von der Achtsamkeit

Grundsätzlich – wenngleich diese Aussage krass klingen mag – habe ich nichts dagegen, wenn Menschen den Freitod wählen. Wer sterbenskrank ist, sollte selbst entscheiden dürfen, wann es genug ist. Anders sieht es natürlich bei psychischen Erkrankungen aus. Doch wenn auch hier über Jahre, vielleicht Jahrzehnte hinweg keine Besserung eintritt und das Leben als einzige Last empfunden wird, darf dann die Gesellschaft sagen: Du musst leben? Warum Menschen sich gegen das Leben entscheiden, hat viele Gründe. Einsamkeit ist wohl der derzeitige Endgegner unserer westlichen Gesellschaft. Nicht umsonst hat Großbritannien ein Ministerium für Einsamkeit gegründet. Jobverlust, Trauerfall, Krankheiten – die Gründe für Vereinsamung können vielfältig sein.

Seit Jahren frage ich mich deshalb, ob es dem Straßenfeger-Verkäufer, dem Obdachlosen unter der S-Bahnbrücke am Zoo oder manch einem Gestrandeten am Kottbusser Tor nicht eher geholfen wäre, wenn ich mir fünf Minuten meiner Lebenszeit nähme, um mich mit ihnen zu unterhalten. Denn das ist mehr wert als jeder Euro. Wir alle sehnen uns nach Wahrnehmung. Wir wollen wahrgenommen werden. Nur, wenn uns andere sehen, sind wir. Danach folgt die Achtsamkeit. Ich weiß nicht, ob ich dem Mann hätte helfen können, hätte ich ihn gefragt, wie es ihm geht. Doch ich bin mir ziemlich sicher, es hätte ihm etwas bedeutet, wenn ich achtsamer gewesen wäre.

Von der Menschlichkeit

In unserem täglichen Umgang miteinander sollten wir daher wieder lernen, dass wir alle unser Päckchen zu tragen haben. Wir dürfen nie von uns auf andere schließen und glauben, manch einer hätte eben viel falsch gemacht und seine Situation deshalb verdient. Denn in Wahrheit können wir es nicht wissen. In einer Gesellschaft, die derzeit durch Migration, dermaßen auseinandergerissen wird wie seit 80 Jahren nicht mehr, ist es umso wichtiger, die Menschlichkeit hochzuhalten. Lasst uns achtsamer miteinander umgehen, aufmerksamer sein, einander mehr wahrnehmen. Niemand sollte allein sein. Denn am Ende des Tages sitzen wir nämlich alle in demselben Boot. Die Ärzte sagen vor vielen Jahren bereits: „Es ist nicht deine Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist. Es wäre nur deine Schuld, wenn sie so bleibt.“ Deshalb lasst es uns besser machen als es ist! Auch in Bezug auf unsere neuen Gesellschaftsmitglieder.

Ein paar Stunden nach dem Vorfall am Bahnhof Nikolassee rief mich die Polizistin an, die meine Daten aufgenommen hatte und vor Ort versuchte, mich zu beruhigen. Denn ich war ziemlich durch den Wind, stand unter Schock und begriff nicht wirklich, was meine Augen gesehen hatten. Sie fragte, wie es mir ginge, was mich sehr berührte. Denn sie zeigte Achtsamkeit. Dann fügte sie noch hinzu: „Ich wollte Ihnen noch sagen, dass der Mann überlebt hat und mit nur kleineren Verletzungen ins Krankenhaus gebracht wurde.“ Ich konnte vor Freude nicht mehr aufhören zu weinen. Morgen fahre ich zu ihm und bringe ihm Blumen. Als Geste der Menschlichkeit.

 

Haben Sie dunkle Gedanken? Hier finden Sie Hilfe:

Wenn Sie sich in einer verzweifelten Lage befinden, versuchen Sie bitte, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Das können Freunde oder Verwandte sein. Es gibt aber auch eine Vielzahl von Hilfsangeboten, bei denen Sie sich melden können. 

Eines davon ist die Telefonseelsorge ( www.telefonseelsorge.de). Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die schon in vielen Fällen Auswege aus schwierigen Situationen aufgezeigt haben. Die Seelsorge ist rund um die Uhr erreichbar, jeder Anruf ist anonym, kostenlos und wird weder von der Telefonrechnung noch vom Einzelverbindungsnachweis erfasst. 

Weitere Anlaufstellen sind zudem Hausärzte sowie auf Suizidalität spezialisierte Ambulanzen in psychiatrischen Kliniken. Eine Übersicht der Hilfsangebote finden Sie auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention.