Die Karnevalsrede von CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer war missglückt und unangebracht, doch der doktrinäre Rigorismus ihrer Kritiker gefährdet die Streitkultur einer offenen Gesellschaft. Ein Stück über den Shitstorm in der Bütt.

Ich, eine Angehörige der deutschen pro-nuklearen Minderheit, wurde diffamiert. Und zwar durch den Tihange-Mottowagen des Kölner Rosenmontagszugs. Dieser Wagen stellt in unzulässig verfälschender und verspottender Weise dar, wie meine belgischen Atom-Minderheits-Leidensgenossen im „maroden AKW Tihange“ Pommes frittieren.  Die Kölner haben aber überhaupt nicht kapiert, wie wir im AKW Fritten machen. Nie würden wir die im Kühlturm kochen, wie auf dem Wagen dargestellt. Die frittieren wir bei jeder Revision über dem offenen Reaktor. Im Kühlturm ist viel zu viel Wasser. Da würden die Pommes laff. Außerdem strahlen Nuklear-Fritten nicht grün, sondern blau – wie oft sollen wir das noch richtigstellen?

Ich fordere eine Entschuldigung!

Ich fordere also eine Entschuldigung vom Festkomitee Kölner Karneval: erstens wegen dürftiger Witzchen auf Kosten von Minderheiten, und zweitens wegen nationalistischer Hetze gegen Belgien. Ich darf außerdem daran erinnern, dass dieser Mottowagen beim Zoch auf der Kölner Severinstraße an einer gewissen Baulücke vorüberfuhr, an der einst das Kölner Stadtarchiv und zwei Wohnhäuser standen. Sie alle fielen vor genau zehn Jahren dem typisch deutschem Pfusch in Gestalt einer maroden Baustellenabsicherung zum Opfer. Zwei Menschen starben, eine gerettete Bewohnerin beging später Suizid. Das historische Gedächtnis der Stadt Köln fuhr mit in die Grube. Wenn wir also schon von irgendwelcher Technik mit Rissen anfangen: Tihanges Bilanz ist besser.

Shitstorm in der Bütt!

Im Ernst? Quatsch. Aber das, liebe Leute, hätte ich gerne als spontane Büttenrede gehalten, nachdem sich ein veritabler Shitstorm über der CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer entlud, weil sie als Büttenrednerin einen missglückten Kalauer über sexuelle Minderheiten geliefert hatte. Neben den üblichen hundert Leitartiklern meldete sich auch ein Politiker aus der Berliner Provinz zu Wort, der von Humor „Haltung“ verlangte, was der sichere Tod jeder Satire wäre; der gegenwärtige Zustand der deutschen progressiven Comedy mag als Beleg für diesen Befund gelten.

Ein Politikpsychologe aus Magdeburg machte für den Möchtegern-Kanzlerinnen-GAU wiederum verborgene kollektive Triebe der CDU-Basis verantwortlich, die AKKs maroden Büttenreaktor explosionsartig auseinanderfliegen ließen. Die Mehrheit der Kommentare war sich darüber einig, dass man über Schwache nicht scherzen solle; eine für Kabarett und Karneval denkbar ungeeignete Handlungsanweisung. Eine Minderheit ließ sich zu dem Aufruf hinreißen, AKKs Kritiker sollten sich doch mal „locker machen“. Letzteres wird jedoch gerne ins Feld geführt, wenn Diskriminierte ihre Lage öffentlich thematisieren; dieser Aufruf greift zu kurz, weil er häufig etablierte Machtverhältnisse zementiert und die Beschwerdeführer zu Zicken und verbiesterten Nörglern erklärt, um sich mit ihrem Anliegen nicht weiter auseinandersetzen zu müssen. 

Viel interessanter war jedoch ein häufig wiederkehrendes Motiv in vielen der Kritiken. In der Tabu-Überschreitung des Karnevals, so die Lesart, würden traditionell die etablierten Machtverhältnisse umgekehrt. Unten wird Oben, die Narren übernehmen das Stadtregiment, Kirche und Staat werden lächerlich gemacht. Gegen diese Narren-Ordnung hätte AKK verstoßen:  wer sich als Teil einer herrschenden Gruppe, wenn auch im Narrenkostüm, an einer Minderheit vergreife, trete nur ein weiteres Mal von „Oben“ auf die „Unten“ ein.

Oben und Unten

Doch stimmt das? In unseren kulturell-medialen Diskursen und in der aktuell umgesetzten Politik sind inzwischen jene Positionen  das neue „Oben“, die früher „Unten“ waren. Noch vor dreißig, vierzig Jahren wurde man lächerlich gemacht, wenn man sich für offene Grenzen, Ehe für alle und Ökostrom in der Steckdose einsetzte. Heute zeigt ein großer Teil unserer politischen und medialen Klasse eine „Haltung“, die aus diesen Komponenten aufgebaut ist. Unsere Eliten sind tolerant, genderpolitisch progressiv, energiegewendet – bis tief in die Merkel- CDU hinein.

Dagegen rebellieren jetzt die alten und jungen Konservativen. Was früher alternativ-grün und rebellisch-links war, nennen sie das Establishment, oder, in ihrer Sprache, den „Mainstream“. Sie stellen sich selbst erfolgreich als das neue „Unten“ dar, und leiten daraus das Recht zur Karnevals-Pöbelei ab. Denn sonst, so ganz im Ernst, dürfe „man“ ja nichts mehr sagen. Wohin man guckt, werden gerade die Verhältnisse umgekehrt, und zwar nicht nur an Karneval. Oben wird Unten. Unten wird Oben. „Rechts“ erscheint plötzlich wieder aufregend und rebellisch, „links“ erscheint bräsig, machtverbunden, elitär, saturiert und belehrend.

Und zwischen den Fronten tut sich auch einiges. Während der WDR und die Grünen immer noch im 1980er-Sound auf die finstere, mächtige, von Rechten gesteuerte „Atomlobby“ eindreschen, steht eine ökomodernistische Atomlobby mit improvisierten Infoständen auf dem Münchner Marienplatz und singt freche Lieder. Wo junge Klima-Aktivisten, wie jüngst in Hamburg, die Schule schwänzen, um außerparlamentarischen Druck aufzubauen, ernten sie Duldung von der Schulsenatorin, Lob von der Umweltministerin und Streicheleinheiten von der Kanzlerin. Damit nimmt die Macht jedem jugendlichen Überschwang das Risiko, jeder Zivilcourage ihren Stachel – sie wird zum Gratismut. Zivilcourage hingegen braucht man heutzutage, um sich vor eine solche Demo zu stellen und zu sagen: Ich habe eine Idee gegen den Klimawandel – lasst Brokdorf am Netz.

Warum die Aufregung?

AKK hat diesen Umschwung erfasst – intuitiv, aber unvollständig. Sie hat einen Riecher dafür, dass die Konservativen in der Provinz mit vielen Berliner Diskursen nichts anfangen können. Doch reduzierte sich ihre Rebellion auf reaktionäre Retourkutschen. Und so kommen wir zu einer bizarren Klotür- und Genderstern-Debatte – an der wiederum die Gender-Aktivist*innen in den Metropolen mit ihrem doktrinären Rigorismus eine gewaltige Mitschuld tragen. Die viel wichtigeren Themen bleiben dabei auf der Strecke: Welche Maßnahmen sind geeignet, ein Bildungssystem zu schaffen, das junge Frauen ermutigt, Ingenieurin zu werden? Wie kommen wir zu einer Industrie, in der sie das auch bleiben können, wenn sie Mütter werden? Durch das verbriefte Recht auf geschlechtliche Nichtzuordnung unter der Kategorie „divers“ (was fälschlich als Erfindung eines „Dritten Geschlechts“ bezeichnet wird) bekommen wir hoffentlich bald auch eine Medizin, die Babys nicht mehr operativ zum „richtigen“ Geschlecht  umformt, weil ein Leben jenseits der binären Kategorie angeblich nicht zumutbar sei – mit schmerzlichen Folgen für die Betroffenen. Das sind die Baustellen.

Die Ehe für alle und das Recht auf Kinder für homosexuelle Paare schaffen neue, glückliche Familien, ohne andere in ihrem Recht zu beschränken, keine oder eine traditionelle Familie zu gründen. Dass Eltern und Kindern Schmerzen und Spießrutenlaufen erspart bleiben, dass Menschen ihre  Individualität leben können, ohne vom Staat in ihren Rechten eingeschränkt zu werden, dass Familien gestärkt werden – das sind eigentlich alles Argumente, die in die Herzen treffen und mit denen man auch Konservative erreichen könnte.

Was sich ändern sollte

Ich unterstütze diese gesellschaftlichen Reformen, weil sie Menschen ein besseres Leben ermöglichen, ohne dabei anderen Menschen das Leben schwerer zu machen. Aber ich finde es eben auch richtig, unsere Stromversorgung mit Kernenergie zu dekarbonisieren, habe gute Argumente und erwarte in einer Demokratie, dass diese Minderheitenmeinung, die ich von einer aufklärerisch-progressiven Grundeinstellung ableite, weder niedergeschrien noch ohne näheres Ansehen als „rechts“ tabuisiert wird. Ich erwarte kein Sonderrecht und keine Minderheitenförderung. Aber ich fordere meine derzeit hegemonialen politischen Gegner dazu auf, mit Kontroverse und Widerspruch anders umzugehen, als es bislang geschieht. Das wird zwangsläufig auch bedeuten, sich in bestimmten Fragen von der Diskurshegemonie zu verabschieden.

Wer sich heute links und progressiv verortet, sollte die beschriebenen Verwerfungen zur Kenntnis nehmen, und lernen, sich selbst zu prüfen. Ist die ehemalige Rebellion zum Gestus verkümmert? Wer ist Oben, wo ist Unten? Wann ist eine harte Reaktion auf Fehlentwicklungen gefordert, wann verkommt sie zum Reflex? Die Selbstironie, das kritische Zurückscheuen vor „Haltung“ ist der Linken abhandengekommen. Die progressiven Eliten brauchen dringend einen Narren, der ihnen den Spiegel vorhält. AKK ist das nicht gelungen, aber die Reaktion auf ihren schiefen Beitrag hat gezeigt, dass die Funktionsstelle des Narren (oder der Närrin) gegenwärtig verwaist ist. Was waren das für Zeiten, als dem linken Karikaturisten Gerhard Seyfried nichts heilig war, weder die Atomlobby, noch die Salonlinke, weder die Polizei, noch die Hausbesetzer-Szene. Stattdessen gibt es Moralin in Kanistern und konzertierte Aufregung, die letztlich nur wieder zum Gespött werden kann.