In Orwells Welt
George Orwell war nicht nur Autor weltbekannter Romane, sondern auch ein scharfsinniger politischer Beobachter. Seine Analysen haben an Aktualität nichts eingebüßt. Und das größte Problem seiner Zeit könnte auch das unsere sein.
Es ist unangenehm zu sehen, wie die Zukunft der Vergangenheit unsere Gegenwart wird. Vor zwei Jahren stellte unsere Außenministerin fest, wir seien durch Russlands Krieg gegen die Ukraine in einer anderen Welt aufgewacht. Seitdem bemühe ich mich wie viele andere, die Frage zu beantworten, welche Welt das nun sei. Nun, ich befürchte, es ist Orwells Welt. Gewiss, George Orwell, Autor wichtiger Bücher wie 1984 und Farm der Tiere, ist seit über 70 Jahren tot. Aber die Zahl der Indizien, dass Orwells Welt aus Erfahrungen und Visionen gerade wieder Gestalt annimmt, hat in letzter Zeit zugenommen.
In seiner schreckensreichen Dystopie 1984 zeigt er, inspiriert von den Herrschaftstechniken Nazi-Deutschlands und der Sowjetunion, wie man Menschen manipulieren, unterdrücken und brechen kann. In gewisser Weise ist der Roman ein Lehrbuch für Despoten, Freiheitsfeinde und Menschenverächter – wenn sie noch Lehrbücher bräuchten. Hasswochen, Doppeldenk, Neusprech, Gedankenverbrechen, Folter – alles, was der Totalitarismus als Zwangsmittel zur Verfügung hat, wird hier auf rund dreihundert Seiten ausgestellt und durchexerziert. Das ist auch für jeden durch allerhand Mediengewalt abgebrühten Heutigen keine bequeme Lektüre. Und so kennen die meisten das Buch nur, ohne es gelesen zu haben.
Es sind vor allem die bewusst und geschäftsmäßig verbreiteten Lügen, die, wie Waffen in der physischen Welt, eine massive zerstörerische Kraft in unseren Köpfen entfalten. Wladimir Putin und Donald Trump, die ich hier natürlich meine, sind geradezu Großmeister im Umgang mit der Lüge und der gezielten Desinformation. In einer Rede brachte es Putin einmal fertig, Karl Popper, einen Vordenker der Freiheit, für seine Zwecke zu zitieren und sich, der Neokolonialist, als Anführer der Rebellen gegen den vorgeblichen Kolonialismus der westlichen Welt und der USA im Besonderen zu inszenieren. Selbst wer Putins Reden regelmäßig verfolgt, der konnte an diesem Punkt für einen Moment verdutzt und ungläubig sein, selbst wenn man doch weiß, dass der russische Präsident wie auch sein Außenminister und andere Adlaten fortgesetzt Fakten in extremer Weise verdrehen. Gleichzeitig schafft er es, seine imperialen Absichten auch schon mal klar und unverblümt zu benennen, und doch wurden sie in den vergangenen Jahren mit bitterer Regelmäßigkeit von politisch Verantwortlichen in Europa nicht richtig wahrgenommen, als gäbe es eine Bewusstseinstrübung bei unangenehmen Wahrheiten. Und, ja, es gibt sie. Die Bewusstseinstrübung heißt Antiamerikanismus. Sie ist eine feste ideologische Konstante quer durch alle Milieus. Diese bedient Putin gerne mit allen möglichen Motiven wie zum Beispiel mit der angeblichen Bedrohung durch die NATO, auch wenn die Fakten anderes sagen. Und er hat damit Erfolg: Rund um die Welt, ob in Deutschland, den USA, Brasilien, Kenia oder Indien – er findet Sympathisanten, die die simplen Fakten, dass Russland die Ukraine überfallen hat, als eigenständigen Staat auslöschen und die liberalen Demokratien des Westens in einem zivilisatorischen Konflikt zumindest zurückdrängen will, einfach ignorieren und hanebüchene Begründungen für die russische Invasion in die Ukraine verbreiten.
Aber auch das kennen wir schon aus Orwells früherer Welt: Der Holodomor, der absichtlich von Stalin herbeigeführte Hungertod vieler Millionen Ukrainer in den 1930er Jahren, wurde ja nicht nur in der UDSSR geleugnet und vertuscht, sondern auch von den meisten westlichen Journalisten in der Sowjetunion; sie waren Handlanger des Stalin-Regimes in dem Bemühen, die Weltöffentlichkeit zu täuschen. Dem damaligen Korrespondenten der New York Times genügte selbst das nicht. Er legte Wert darauf, Kollegen, die die Wahrheit berichteten, zu kritisieren und zu diskreditieren.
SCHIZOPHRENES DENKEN
Bei Donald Trump ist es nicht anders. In dem Resonanzraum mit seinen getreuen, gläubigen Anhängern ist kein Platz für Tatsachen. Auch Trumps Vorgehen entspricht ziemlich genau dem von Orwell in seinem Roman 1984 beschriebenen „doublethink“: absichtlich zum eigenen Nutzen Lügen verbreiten, Fakten leugnen, immer neue verwirrende Geschichten auftischen, auch wenn sie sich widersprechen oder bar jeder Logik sind.
„Medizinisch“, schrieb Orwell in einem Essay, „wird diese Art des Denkens, glaube ich, Schizophrenie genannt: Jedenfalls ist es die Fähigkeit, gleichzeitig zwei Überzeugungen zu haben, die sich aufheben. Eng damit verbunden ist die Fähigkeit, offensichtliche und unabänderliche Tatsachen zu ignorieren, denen man sich früher oder später stellen muss. Besonders in unserem politischen Denken gedeihen diese Laster.“
Leider gedeihen sie in unserer Gegenwart noch besser, weil die weltumspannenden Medienkanäle sie vielseitig verbreiten und daran mitwirken, so etwas wie Realität oder Wahrheit zu dekonstruieren. Diese Praxis – das sollten wir nicht vergessen – nutzen in Demokratien auch andere Populisten, um das Denken zu manipulieren, und sie trifft auf eine im Westen pandemisch wirkende Postmoderne, die unser gesamtes Dasein ohnehin nur für eine Konstruktion des neoliberalen Kapitalismus hält, die man am besten mit „Neusprech“ umgestaltet und lenkt. Nicht umsonst reitet Putin jetzt auch auf dieser Welle, hält die liberale Demokratie und ihr Wirtschaftssystem für satanisch und deshalb eine „Entsatanisierung“ für geboten – und bei der Ukraine, die er zuvor „entnazifizieren“ wolle, fängt er damit an, bevor er sich den weiten Rest westlich von Russland vornimmt.
Bei dieser ständigen Produktion des Unwahren geht es nicht mehr um eine andere Politik, sondern um die Abschaffung von Politik durch ein malignes System der Lüge zum Zwecke der Machtausübung und der Repression.
Von dem Tableau des Schreckens, das George Orwell in seinem Roman 1984 vor uns ausgebreitet hat, sind uns zwar der Große Bruder, Folter, Hasswochen, Neusprech und Doppeldenk in Erinnerung geblieben. Aber Orwells großes Verdienst und die besondere Wirkung seines Buchs fußt nicht auf der Wiedergabe historisch belegter Methoden totalitärer Herrschaft, sondern auf ihrer Zuspitzung, auf ihrer tatsächlichen Wirkkraft, die nicht die klitzekleinste Winzigkeit an berechtigter Hoffnung lässt, diesem totalitären System zu entkommen. Denn dafür müsste es Fluchtpunkte geben, die zu erreichen eine wenigstens halbwegs realistische Option darstellen würden. Doch die gibt es in Orwells Roman nicht. Das ist bitter, aber das Leben ist auch nicht Hollywood. Schauen Sie nach Ländern wie Nordkorea, Iran, China und Russland – und Sie erkennen potente Herrschaftsmittel aus Orwells Buch heute wieder: Verhaltenslenkung durch Punktsysteme, Gedankensteuerung durch Propaganda, Indoktrination durch abgeschottete Mediensysteme, Verfälschung historischer Fakten, Folter und Mord an Andersdenkenden. Und keine Hoffnung.
Aber in den liberalen Demokratien des Westens sollte es doch Hoffnung geben, oder? „Ich glaube nicht“, schrieb Orwell einmal, „dass die von mir beschriebene Gesellschaft tatsächlich entstehen wird, aber ich glaube (…), dass etwas Ähnliches entstehen könnte. Ebenso glaube ich, dass sich totalitäre Ideen in den Köpfen von Intellektuellen überall auf der Welt festgesetzt haben.“
WELTFREMDHEIT, DEFÄTISMUS, APPEASEMENT
Wir stehen am Beginn einer Auseinandersetzung, die lange währen und viele Facetten haben wird. Und wir wissen nicht, ob wir diese Bewährungsprobe bestehen. Als im Jahre 1940 rund dreihunderttausend britische Soldaten am Strand von Dünkirchen von deutschen Truppen eingekreist wurden und mit ihrer Gefangennahme bzw. Auslöschung rechnen mussten, fürchtete auch Orwell, dass die herrschende Klasse nicht die Fähigkeit besitzen würde, das Land zu schützen und den Krieg zu gewinnen. Diese pessimistische Haltung gründete auf den Kämpfen innerhalb der britischen Regierung in jenen berühmten 80 Tagen vom 10. Mai bis 31. Juli 1940, in denen Winston Churchill in fast aussichtsloser Situation seine Fraktion überzeugen musste, sich nicht zu unterwerfen und keinen Diktatfrieden mit Hitler einzugehen, denn man könne – wie er es in seiner kraftvollen Rhetorik formulierte – mit einem Tiger nicht vernünftig reden, wenn man den Kopf in seinem Maul habe (hier brillant filmisch dargestellt). Aber Churchill – die USA um Hilfe ersuchend, aber von der Langsamkeit der amerikanischen Entscheidungen genervt – sorgten nicht nur die Konflikte in seiner Fraktion; er sah die beste Voraussetzung für einen deutschen Sieg vor allem in der Spaltung des Vereinigten Königreichs.
Noch Ende Juni 1940 empfahl das amerikanische Kriegs- und Marineministerium Präsident Roosevelt, keine weiteren Waffen – es waren bis dahin nur wenige veraltete – an Großbritannien zu liefern, da das Schicksal der Insel höchst ungewiss sei. Diese Haltung – nur noch entschiedener isolationistisch – unterstützten einige Politiker und einflussreiche Publizisten und Industrielle um den Rekordflieger und rechten Antisemiten Charles Lindbergh, die bald darauf das America First Commitee gründeten. Zu einer Art Manifest wurde das Buch The Wave of the Future von Lindberghs Ehefrau Anne Morrow. Darin prophezeit sie das Ende der alten Welt, des liberalen Individualismus und der parlamentarischen Demokratie.
Ein weiterer Grund für Orwells damaligen Pessimismus: Wo er hinschaute und hinhörte – bei allen seinen linken intellektuellen Kollegen bemerkte er eine Mischung aus Weltfremdheit, Defätismus und Appeasement, die sich häufig aus der Ablehnung der bürgerlichen Demokratie und des liberalen Kapitalismus speiste.
Das ernsteste Problem schien ihm aber der schwach ausgeprägte Freiheitswillen unter den Intellektuellen selbst zu sein.
Orwells Pessimismus änderte sich, als er feststellte, dass der Patriotismus des Mittelstands unverbrüchlich war und die von der Regierung ersonnene waghalsige Rückholaktion über den Ärmelkanal mit Tausenden zivilen Booten weitgehend funktionierte und das britische Expeditionscorps seiner Vernichtung entging. Orwell begann in dieser Zeit mit dem Verfassen von Essays, in denen er mit sogenannten „progressiven“ Autoren abrechnete, vor allem mit H.G. Wells und Henry Miller. Auch wenn Orwell für Millers sinnlichen Ästhetizismus und seinen künstlerischen Wagemut Sympathien besaß, so lehnte er doch seine unpolitische, weltfremde, verantwortungslose Haltung, seinen Quietismus ab. Arthur Miller war überzeugt, dass er nur fünf Minuten mit Hitler bräuchte, um ihn vom Krieg und vom Nazismus abzubringen. Das war ein naiver Irrglaube, den Orwell verachtete. Genauso wie die Parteinahme vieler britischer Schriftsteller für den Kommunismus, denn hier sei mal wieder „einfach etwas, woran man glauben konnte. Hier war eine Kirche, eine Armee, eine Glaubenslehre, eine Disziplin“. Und ein Verrat an der Freiheit.
In seinem Essay über H.G. Wells vom Sommer 1940 warf er dem berühmten Science-Fiction-Autor und anderen britischen Linksintellektuellen vor, zwanzig Jahre lang systematisch versucht zu haben, den Patriotismus des Mittelstands zu brechen, „und wenn sie Erfolg gehabt hätten, könnten wir vielleicht in diesem Augenblick patrouillierende SS-Männer in den Londoner Straßen sehen“. Wells pflege eine „hedonistische Weltanschauung“ und, auf die Außenpolitik angewandt, höre sein Pazifismus entweder auf, pazifistisch zu sein, oder führe zur Unterwerfung. Tatsächlich wähnte Wells, Autor von Krieg der Welten und Die Zeitmaschine, Hitler schon am Ende und erblickte einen Weltstaat am Horizont. Orwell erkannte darin das Problem der Intellektuellen: „Die Kraft, die in Wirklichkeit die Welt formt, entspringt Emotionen …, die Intellektuelle mechanisch als Anachronismen abschreiben und gewöhnlich so total in sich ausgerottet haben, dass sie überhaupt nicht mehr handlungsfähig sind.“
Es ist also kein neues Phänomen, wenn zeitgenössische (deutsche) Intellektuelle in Essays, Briefen und Manifesten einen Pazifismus pflegen und predigen, den zunächst die Ukrainer mit ihrer Freiheit, ihrer Souveränität, ihrer Zukunft, ihren Träumen und ihrem Leben zu bezahlen haben.
DESTABILISIERUNG, ZERSETZUNG, ZERFALL
Bei Orwells Roman 1984, der so voll ist von Abgründen und Schrecken, wird eines gerne übersehen: Das Buch beschreibt nicht nur ein dystopisches Land ohne Hoffnung, sondern auch eine Welt, die von drei Supermächten beherrscht wird – nämlich Ozeanien, Eurasien und Ostasien. Diese Mächte sollen in einem dauerhaften Krieg stehen. Ob es tatsächlich so ist, bleibt im Dunkeln. Der vermeintliche Feind könnte auch eine bloße Projektion sein, der dazu genutzt wird, den Ausnahmezustand aufrechtzuerhalten, Angst zu schüren und Hass in ein unbekanntes Außen zu lenken.
Unsere Welt ist nicht so, aber sie hat schon Elemente davon, zum Beispiel ist die Multipolarität schon da. Orwells Eurasien entspricht Putins fernem Ziel einer direkten oder indirekten Herrschaft von Wladiwostok bis Lissabon. Er braucht den Krieg gegen die Ukraine und den Westen zur Umwandlung seines Landes in eine durchmilitarisierte Diktatur, die alles – Wirtschaft, Kultur, Medien, Familie und Bildung – an der Notwendigkeit eines Kriegs mit dem Westen ausrichtet. Denn jeden direkten, zivilen, ökonomischen Wettbewerb würde er verlieren. Ostasien entspricht in etwa China mit einer erweiterten Einflusszone, vor der sich die realen Nachbarstaaten wegen Chinas aggressivem Vorgehen in der Region berechtigterweise bereits fürchten. Ozeanien besteht aus ganz Amerika und Teilen des Commonwealth wie Großbritannien (im Roman: „Lagerfeld 1“), Australien und Neuseeland. Wir wissen nicht, ob die fiktiven Länder alle Autokratien oder gar totale Diktaturen sind. Wir wissen nur, dass heute die realen, liberalen Demokratien mit der Ausweitung autokratischer Herrschaft auf der Welt konfrontiert sind.
Es steht, wenn nichts Unvorhergesehenes geschieht oder Handlung Erforderndes ignoriert wird, wahrscheinlich kein Welt-, aber ein hybrider Endloskrieg auf niedriger Flamme ins Haus. Wir müssen nicht fürchten, dass die Russen, wie es Udo Lindenberg mal ironisch besang, in fünfzehn Minuten am Kurfürstendamm stehen und das KaDeWe zum Partysitz des russischen Geheimdienstes machen (oder letzteres vielleicht doch?). Aber der Cyber War ist schon im Gange, ebenso die ideologische Infiltration der westlichen Gesellschaften durch Propaganda und wohlfeile Gefolgsleute links und rechts. Die Feinde der Demokratien setzen zuallererst auf deren Destabilisierung, Zersetzung und schließlich den Zerfall. Das ist für die Despotien immer noch der preiswerteste Weg. Aber das heißt nicht, dass es keine klassische militärische Bedrohung gibt, wie man an Putins Aggression in Osteuropa und der Chinas gegen Taiwan und weitere Nachbarstaaten sieht. Europa wird nicht um eine mentale wie militärische Aufrüstung herumkommen, denn ohne die USA kann sich Europa bislang nicht verteidigen; und ungewiss ist, ob auch in Zukunft die Verteidigung Europas gegen Aggressoren zu den vitalen Interessen der USA gehört, für das das Land jährlich Milliarden ausgeben will.
Tatsächlich ist Europa in einer Entscheidungssituation ähnlich der, wie wir sie oben schon genannt haben. Vielleicht sind es mehr als 80 Tage, wahrscheinlich sogar, aber irgendwann wird sich das Zeitfenster schließen, in dem man die Schwäche überwunden und sich für Entschlossenheit statt Trägheit, strategische Planung statt Angst, Einheit statt Fragmentierung entschieden haben muss. Doch leider fehlt eine starke politische Führung und eine in ihren ideellen Fundamenten gefestigte, seelisch reife Gesellschaft. Das ist ungünstig in einem Krieg, der schon begonnen hat.
VORBILD ORWELL
Kann also George Orwell ein Vorbild für unsere Zeit sein? Nichts ist so wie früher, und doch ist vieles mit heute vergleichbar. Wir neigen dazu, das Vergangene zu vergessen, zu verdrängen, für nicht so wichtig zu halten, weil wir die Gegenwart, das Hier und Jetzt und sonst nichts, für singulär, exzeptionell und viel komplexer als frühere Zeiten halten. Und so gehen damit auch die Vorbilder verloren, die uns etwas sagen könnten, weil sie vergleichbare Erfahrungen gemacht haben. Vorbilder wie Orwell.
Er besaß wegen seiner Bücher über den britischen Kolonialismus und die Situation der Armen und der einfachen Arbeiter im Vereinigten Königreich großes Ansehen in der Kulturszene, doch vor seinem epochalen 1984 fußte seine besondere Reputation auf seinem Einsatz gegen Francos Truppen im spanischen Bürgerkrieg. Schon damals fiel er mit seiner Skepsis und seiner Kritik auf, die er den Stalinisten innerhalb der republikanischen Truppen entgegenbrachte. Doch die Faschisten siegten, Orwell wurde verletzt, sein Misstrauen gegenüber den Feinden der Freiheit links wie rechts blieb erhalten. Und wieder wollte er im September 1939 gegen den Faschismus kämpfen und den Polen gegen die Nazis zur Hilfe eilen – eine Krankheit verhinderte es. Für die Freiheit kämpfte er fortan nur noch mit der Schreibmaschine.
Worin liegt nun Orwells Vorbildcharakter für die heutige Zeit? Nun, die Ukrainer brauchen ihn nicht. Sie haben den Krieg schon in ihrem Land, attackiert von einer kleptokratischen Diktatur, die ihre Herrschaft ausdehnen und alle liberalen Kräfte in ihrer Nachbarschaft ausmerzen will. Ein Vorbild sollte Orwell für Länder wie Deutschland und seine Intellektuellen sein, denn er ist ein Gewährsmann für die Freiheit, ein Publizist, der unsere Kämpfe schon einmal gekämpft hat und Mut macht, weil er Oberwasser behalten hat.
Niemand kann erwarten, dass deutsche Schriftsteller statt nach Wiepersdorf nach Charkiw reisen, ein Sturmgewehr im Gepäck. (Das gäbe wohl auch ein lächerliches Bild ab.) Es ist aber intellektuell redlich und notwendig, dass wir die moralische Indifferenz, die penibel kultivierte Äquidistanz zwischen Russland und den USA, das systematische Verständnis für Putins Regime ablegen. Manche unterschätzen die Gefahr, andere überschätzen sie; doch zu viele bagatellisieren sie gar mit zynischem Kalkül. Das fing schon früh an, als man in deutschen Medien der Ukraine nahelegte, den Widerstand gegen Russland aufzugeben. Das ging weiter, als die deutsche Regierung der Ukraine dringende Waffenlieferungen versagte. Auch als deutsche Politiker Schutzsuchende als Sozialschmarotzer diskreditierten und die üblichen Verdächtigen in den Talkshows ohne realistische Basis diplomatische Lösungen für den Krieg empfahlen. Und das hat bis heute nicht aufgehört. Das wird noch auf die Spitze getrieben, wenn man von berechtigten Einflusszonen für ein selbsternanntes russisches Imperium faselt und Verständnis für ein faschistisches russisches Regime aufbringt, das keinen Vertrag einhält, immerfort lügt, die eigene Bevölkerung unterdrückt und Oppositionelle in Lagern verschwinden lässt oder liquidiert, das Vernichtungskriege führt und von einem eurasischen Reich fantasiert, von Entnazifizierung, wo kaum ein Nazi ist, und Entsatanisierung, wo der Teufel das Weite gesucht hat, weil er sich unwohl fühlte. Verantwortlich für unsere Diskussionskultur sind auch die „seriösen“ Medienanstalten, die sich nicht mit Idealisten, Old-School-Realisten oder auch Pazifisten und ihren unterschiedlichen Einschätzungen begnügen, sondern liebend gern jeder Spielart von Demagogie und Opportunismus, die eine auskömmliche Aufmerksamkeit sichern, einen Platz auf der Bühne bieten. Können Sie Demagogen nicht erkennen? Sind sie längst so abhängig von einer Kultur des Opportunismus, der den Widerspruch inszeniert und weidlich auszuschlachten versteht? So treibt man ein System voran, das nur noch von Eitelkeit und Selbstbezüglichkeit lebt. Das ist schon ärgerlich genug, aber die Lage ist für solchen Unfug einfach zu ernst. Denn, wie George Orwell es so treffend formulierte: „Um vom Totalitarismus korrumpiert zu werden, braucht man nicht in einem totalitären Land zu leben.“
Der Pessimismus hat darum schon zu viele kluge Geister erfasst. Die Erinnerung an Orwell könnte ihre Verzweiflung vielleicht bemeistern helfen, weil es ihm, ob mit seelischen Mühen, kühlem Verstand oder bloßer Geduld, selbst gelungen ist, letztlich nicht zu verzagen. Er könnte auch unseren Zorn abkühlen, weil er ihn als nicht hilfreich erkannt hat.
Orwells 1984 ist keine Glaskugel, in der wir unsere Zukunft eins zu eins voraussehen können. Aber wir dürfen dieses Buch nicht als bloße Fiktion, sondern müssen sie als eine ernste Warnung ansehen. Vor allem aber sollten wir seinen Autor als Vorbild für Integrität, intellektuellen Mut und Kampfgeist wiederentdecken. Folgen wir seinem Vorbild. Das ist das, was wir tun können.