Er hat es wieder getan. Johannes Varwick hat in einem Interview mit dem Deutschlandfunk seine Sicht auf Russlands Krieg gegen die Ukraine verbreitet. Es war darin kaum etwas Neues. Und doch verlangt gerade dieses Interview entschiedenen Widerspruch.

Der Politikwissenschaftler Johannes Varwick aus Halle ist so etwas wie der „Jack in the Box“ der deutschen Debatte um den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Wenn sich die Zahl der entsprechenden Diskussionsrunden und Offenen Briefe etwas verringert hat, weil Kuss- und Flugblattaffären die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit okkupieren, taucht Varwick in einem Interview auf und gibt sein Bestes. Er ist ja seit Beginn des Krieges ein gern veröffentlichter und gesendeter Gast in deutschen Medien, zuletzt gerade beim Deutschlandfunk. Und da passiert es: Man will abschalten, weil man weiß, was kommt, aber man tut es dann doch nicht, denn man will nicht gleichgültig sein und sich dem Überdruss hingeben. Also hinhören und widersprechen.

Womit wir rechnen durften: dass er eine „politische Lösung“ des Krieges verlangt, um eine Eskalation zu verhindern. In dieser Rille verharrt seine Platte, seit er das Licht der Studios erblickte. Es ist aber auch eine richtig starke Forderung, denn wer ist nicht für politische Lösungen bei allen großen und kleinen Problemen und Herausforderungen dieser Welt? Allein, Varwick verrät nicht, warum es aktuell keine Aussicht auf Verhandlungen gibt. Das hat vor allem zwei Gründe:

Erstens, Putin will nicht verhandeln, er macht es auch immer wieder deutlich, er wollte und will diesen Krieg mit aller Macht, weil er die Ukraine schwächen und wieder in sein vermeintliches Imperium eingliedern will. Doch der Politikwissenschaftler aus Halle nimmt es einfach nicht zur Kenntnis. Warum sollte er auch? Die Medien lieben seine alte Platte, genau dafür bekommt er Einladungen. Und niemand ist da, der in den Interviews mal diplomatisch Druck auf ihn ausüben würde. Eigentlich schade.

Zweitens, die Ukraine will aktuell auch nicht verhandeln, aus einem einfachen Grund: weil man Russland, weil man Putin nicht trauen kann. Jeder politisch Gebildete müsste eigentlich wissen: Weder das Budapester Memorandum noch die Minsker Abkommen haben Russland davon abgehalten, einen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu führen. Zur Erinnerung, weil es wichtig ist: Mit dem Budapester Memorandum verzichtete die Ukraine auf ihre Atomwaffen aus dem Nachlass der Sowjetunion; gleichzeitig verpflichteten sich Russland (sic!), Großbritannien und die USA, die Souveränität und die territoriale Integrität der Ukraine zu respektieren, und gaben ihr Sicherheitsgarantien. Solche Abkommen scheren Putin, den skrupellosen Machtpolitiker, einen Dreck. Nur wenn es für die Ukraine erneuerte Sicherheitsgarantien des Westens gäbe, vulgo: eine NATO-Mitgliedschaft, dann wäre ein Abkommen mit Russland vielleicht aussichtsreich.

Keiner zweifelt an Verhandlungen eines Tages, aber dort, wo russische Truppen stehen, werden sie nicht allein durch höhere Einsicht oder Verhandlungen weichen.

DER DIALEKTIKER

Das alles hindert Varwick (oder Käßmann oder Wagenknecht usw.) nicht daran, der deutschen Öffentlichkeit immer wieder einen Bären aufzubinden. Dabei geht er clever vor, bleibt zwar konsequent bei seinen Versatzstücken, versucht aber den Eindruck von Nachdenklichkeit und Abwägung zu vermitteln (siehe auch eine frühere Analyse hier). Er arbeitet dafür vorzugsweise mit der simplen adversativen Konjunktion „aber“. Dann heißt es: Man müsse Putin zu besseren Entscheidungen bringen, aber  das gehe nur, wenn man Verhandlungsbereitschaft signalisiere. Wir sollten auf Seiten der Ukraine sein, aber  wir müssen auch variabel sein. Die „ukrainischen Maximalpositionen“ sind völlig verständlich, aber  wir müssen Druck auf die Ukraine ausüben. Ziel müsse sein, dass die Ukraine ihre Souveränität vollständig wiederherstellt, aber  man sollte usw. Ist das Denken der Hörerinnen und Hörer auf diese Weise dialektisch aufgeweicht, heißt es plötzlich: „Verhandlungen heißt natürlich immer ein Geben und Nehmen.“

In Varwicks Welt ist es so aufgeteilt: für die Ukraine ein Geben, für Russland ein Nehmen.

DER TABUBRECHER

Varwick liebt es, den hollywoodreifen knallharten Tabubrecher der internationalen Politik zu geben. Der Tabubrecher ist ein flotter Typ, geradezu progressiv, er räumt das Verknöcherte weg und macht den Weg frei für was auch immer. Da ist es hilfreich, erst einmal „Tabus“ zu identifizieren. Varwick sieht zwei tabuisierte Szenarien: nämlich dass es keine territorialen Veränderungen in der Ukraine geben dürfe und dass ein „Neutralitätsstatus“ verhindert werden müsse. Da trifft es sich für den Tabubrecher gut, dass er hier Platz für seine Vorstellungen machen kann: nämlich dass die Ukraine einfach mal ein Fünftel ihres Territoriums dem Aggressor überschreibt und auf weitere internationale Sicherheitsgarantien verzichtet. Ist dieser Vorschlag von Varwick schon dreist, so hat er doch Methode. Denn er nimmt damit das Ergebnis von Verhandlungen in seinem Sinne (und wahrscheinlich auch Putins) schon vorweg: Sie laufen auf einen Verlust der Souveränität, eine Auslieferung an Russland und eine Schutzlosigkeit der Ukraine hinaus.

Es würde zudem bedeuten, dass der Aggressor belohnt wird, das Völkerrecht endgültig in Schutt und Asche läge und Putin eingeladen wäre, vergleichbare Taten folgen zu lassen. Welche Gebiete darf es für Russland dann als nächstes sein: das Baltikum, Moldau, ganz Georgien?

DER TUGENDHAFTE

Varwick plädiert bei seiner Einschätzung des Krieges immer wieder für Pragmatismus, Realismus, Nüchternheit. Zunächst einmal meint er damit, er würde diese Eigenschaften selbst an den Tag legen. Er sei quasi die Inkarnation dieser Tugenden. Aber weit gefehlt! Eine gewisse Nüchternheit müssen wir ihm zubilligen. Aber Realismus besitzt er nicht.

Ich habe die vergangenen 18 Monate die Einlassungen Varwicks verfolgt, habe mir die Argumente immer wieder angehört – gefunden habe ich zunächst einmal, bei aller gebotenen Offenheit, nur eine rigide Gleichgültigkeit gegenüber der Ukraine und ihren vitalen Interessen und sehr viel Verständnis für Russland, getarnt als einen irgendwie objektiven „Pragmatismus“, der vom Hallenser Hügel der Realpolitik einen ganz speziellen Blick auf den Krieg hat und von dort ziemlich unverblümt „territorialen Veränderungen in der Ukraine“ das Wort redet und Sicherheitsgarantien für die Ukraine als „nicht von dieser Welt“ bezeichnet.

Besonders auffallend ist aber und in diesem Zusammenhang geradezu fatal: Varwick schweigt meist über Russland, und wenn er doch von Russland redet, dann rein oberflächlich. Er nimmt in seine eigenwilligen Einschätzungen die Absichten Putins, sein Handeln, den Charakter seines Regimes nicht auf. Putins Geschichtsrevisionismus, sein offener Imperialismus, der Militarismus, der Umbau Russlands in einen totalitären Staat, der Hass gegen den Westen und seine Liberalität spielen für den Strategen aus Halle keine Rolle. Wie will man so zu einer realistischen Einschätzung kommen, einer halbwegs vernünftigen Prognose? Wie kann man redlich – vor allem als Politikwissenschaftler – ohne diese entscheidenden Fakten und Faktoren irgendwelche Lehren ziehen und Ratschläge erteilen? Die Interviews mit Varwick sind wie Gespräche über den Zweiten Weltkrieg, in dem die Realität, die Weltanschauung, die Brutalität, die Absichten des Nationalsozialismus und Adolf Hitlers keine Rolle spielen. Sie sind ohne Substanz. Aber daran sind Leute wie Varwick ja auch gar nicht interessiert. Ihre vermeintlich nüchterne und pragmatische „Realpolitik“ verzichtet auf Kategorien wie Beobachtung, Analyse und Bewertung. Sie ist einfach nur Meinung.